Von Dagmar Henn
Dass der lange Artikel von Olaf Scholz "Die globale Zeitenwende", der in der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlicht wurde, wäre er ein Schulaufsatz, wegen Themaverfehlung mit einer "6" benotet werden müsste, ist symptomatisch. Denn die Frage, die im Untertitel gestellt wird und die tatsächlich einige Bedeutung hat, lautet: "Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann." Aber die Frage wird nicht beantwortet.
Stattdessen ist es ein surrealer Text, der die veränderte Wirklichkeit nicht ansatzweise zur Kenntnis nimmt und mit allerlei Winkelzügen nichts als ein "weiter wie bisher" anstrebt. Scholz preist sich, Peking in Bezug auf Menschenrechte belehrt zu haben, und meint, "die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten kann niemals eine 'innere Angelegenheit' eines einzelnen Staates sein, denn alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben sich dazu bekannt, diese Rechte und Freiheiten zu wahren".
Als Jurist muss sich Olaf Scholz darüber im Klaren sein, dass sich jede beliebige rechtliche Frage als eine der Grundrechte und Grundfreiheiten darstellen lässt. So ist beispielsweise die Steuererhebung ein Eingriff in das Recht auf Eigentum, oder auch die Haft eines Straftäters ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Das ist Stoff des ersten Semesters. Wäre die Lesart zutreffend, die Scholz hier gibt, könnte sich jeder Staat in jede einzelne Entscheidung eines anderen Staates einmischen. So ist das natürlich von Scholz nicht gemeint, dann könnte er sich gleich einen entsprechenden Vortrag von den Chinesen über die Missachtung des Rechts auf angemessene Wohnung durch die Bundesregierung abholen (ein Recht, das durchaus Teil der Grundrechtecharta der Vereinten Nationen ist); er meinte nur jene Rechte, die sich gerade für die westliche Politik als nützlich erweisen.
Allerdings ist längst deutlich, dass "Nichteinmischung" eine Voraussetzung für demokratische Prozesse ist. Man kann es in Deutschland selbst sehen, wie sehr all die oligarchenfinanzierten Organisationen und die vielfältigen Strukturen zur Einflussnahme den politischen Prozess verzerren und fast zum völligen Erliegen bringen. Mehr noch – selbst winzige Dosen entsprechender "soft power", wie eigene Medien und Kulturinstitute, werden dämonisiert und an der Arbeit gehindert, sofern sie russisch oder chinesisch sind; man stelle sich nur einmal vor, es gäbe in Deutschland 150 oder 200 "Institute", beispielsweise zur Pressebeobachtung oder zur Sozialpolitik, die mit chinesischen oder russischen Mitteln finanziert würden.
So in etwa sieht es tatsächlich in vielen Ländern aus, in denen auch die Bundesrepublik mit vielerlei Strukturen tätig ist. Was beispielsweise die Stiftung der FDP so treibt, hatten wir bereits öfter einmal thematisiert. Es ist im Grunde eine säkulare Variante einer alten Strategie des Vatikans, den eigenen Einfluss über möglichst viele, zumindest auf den ersten Blick voneinander unabhängige Stränge zu sichern. Was dem einen die Orden, sind dem anderen die NGOs.
Im Gegensatz zu dem, was Scholz behauptet, ist die Nichteinmischung also kein Verstoß gegen, sondern die Voraussetzung für Demokratie, die auch, das hat selbst Scholz einmal gelernt, nicht notwendigerweise die Geschmacksrichtung repräsentativ/parlamentarisch haben muss, um Demokratie zu sein.
Wie weit Scholz von einer Erkenntnis der realen Entwicklung entfernt ist, zeigt sich in den Absätzen, in denen er sich mit dem nichtwestlichen Rest der Welt befasst, diesen über Lateinamerika, Afrika und Asien verteilten 85 Prozent der Menschheit. "Diese Regionen haben jedes Recht darauf, die Chancen, die sich durch die Globalisierung ergeben, zu ergreifen, und im Einklang mit ihrem wachsenden wirtschaftlichen und demografischen Gewicht eine größere Mitsprache in globalen Fragen zu fordern.(...)Wir sollten diese Regionen zu größerer Beteiligung an der Gestaltung der internationalen Ordnung und zu stärkerer Integration in diese ermutigen."
Sie sollen sich, das meint er damit, in die gegebene und nach den Interessen der USA geformte Ordnung integrieren. In Wirklichkeit sind eben diese Länder gerade dabei, ihre eigene Ordnung zu schaffen, und dabei wundert es nicht, dass – allein wegen des wirtschaftlichen und demografischen Gewichts – China dabei eine entscheidende Rolle spielt. Scholz redet zwar von "Multilateralismus in einer multipolaren Welt", aber er meint eine Ordnung, in der der Westen dominiert.
(Es finden sich auch Stellen, die zum Lachen bringen. Diese hier zum Beispiel: "Denn letztlich bildet die EU als eine Union freier, souveräner, demokratischer und auf Rechtsstaatlichkeit beruhender Staaten den Gegenpol zu Putins imperialistischer und autokratischer Kleptokratie." Wenn es ein global abschreckendes Beispiel einer autokratischen Kleptokratie gibt, dann Brüssel; man denke nur an Frau von der Leyen, einen gewissen Impfstoff und die Stelle bei Pfizer, die der Ehemann besetzt...)
Der ganze Text enthält keinen Ansatz zu einer irgendwie produktiven Einsicht. Im Gegenteil. Als Beispiel dieser Absatz:
"Alle Staats und Regierungschefinnen und -chefs der G7-Länder haben Selenskys Bereitschaft zu einem gerechten Frieden gewürdigt, der die territoriale Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine wahrt und die künftige Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine sichert. In Abstimmung mit unseren Partnern steht Deutschland bereit, als Teil einer möglichen Friedensregelung nach dem Krieg Vereinbarungen zu treffen, mit denen die Sicherheit der Ukraine langfristig gewahrt wird. Die durch Scheinreferenden nur dürftig kaschierte rechtswidrige Annexion ukrainischen Hoheitsgebiets werden wir hingegen nicht akzeptieren. Damit der Krieg beendet wird, muss Russland seine Truppen abziehen."
Selbst US-Außenminister Blinken zeigte vor einigen Tagen so etwas wie erste Anzeichen von Realismus. In einem Interview mit dem Wall Street Journal beschrieb er als Ziel der westlichen Unterstützung der Ukraine, alle Gebiete zurückzuerobern, die sie nach dem 24. Februar verloren habe. Das unterscheidet sich von dem Ziel, das Scholz vorgibt, nach dem die "territoriale Unversehrtheit der Ukraine" die Voraussetzung für das sei, was er einen "gerechten Frieden" nennt.
Das ist immer noch weit von einer realistischen Bewertung entfernt, aber ein Stück weit menschlicher als das, worauf Scholz besteht. Menschlicher? Ja, weil das, was in Mariupol passierte, in Lissitschansk, in Cherson im Oktober, gerade in Artjomowsk/Bachmut wiederholt wird. Selbst die New York Times berichtete mit Entsetzen von diesem Ort; der CIA-Sender Radio Free Europe widmete dem Ort eine Fotoreportage, die er mit Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg verglich. Die Verluste auf ukrainischer Seite sind hoch, die Schätzungen reichen bis zu 200 Toten am Tag, dazu käme dann noch eine entsprechende Zahl Verwundeter. Aber da wirkt sich nun auch die abnehmende Funktionsfähigkeit des Bahnnetzes aus – die schwerer Verwundeten aus Artjomowsk dürften kaum mehr in Kliniken gelangen, in denen sie behandelt werden können.
Im Blog von John Helmer findet sich eine sehr deutliche Beschreibung. Er zitiert eine Quelle aus dem US-Militär: "Die Feldkliniken, die Triagezonen und die improvisierten Einrichtungen, um Verwundete zu behandeln – Schulen beispielsweise – werden zu Schlachthäusern. Wie die Gräben und Bunker werden auch sie voller Krankheiten sein. Wenn sie sich nicht ergeben, werden sie wortwörtlich verrotten. Und anders als in Korsun oder selbst in Stalingrad in den frühen Tagen des Kessels wird es nicht einmal Ansätze einer Luftbrücke geben."
Das ist der Zustand an einer Front, an die die ukrainische Regierung, ihren westlichen Befehlsgebern folgend, nach wie vor Verstärkungen schickt. Ganz zu schweigen von polnischen Söldnern, deren Anwesenheit gerade in Artjomowsk inzwischen von der polnischen Presse bestätigt wird: "In den letzten Tagen berichteten die Medien vom Tod von zweien davon, Krzysztof Tyfel und Jan Szeremeta, die bei Bachmut starben. Am Donnerstag schrieb Onet über den Tod eines weiteren Polen: Daniel S." Die genaue Zahl dieser Söldner ist unbekannt, aber es ist damit belegt, dass nicht nur die ukrainischen Truppen dort zerrieben werden.
Aber mehr noch – Helmer erwähnt auch, und verweist dabei auf ukrainische Quellen, dass der Zusammenbruch der Stromversorgung zu Plünderungen und Diebstählen in den Städten führt, insbesondere von Benzin, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Da nicht nur die Frischwasserversorgung, sondern auch die Abwasserbearbeitung betroffen sind, ist die Verbreitung entsprechender Krankheiten nicht ausgeschlossen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür im Winter bei weitem nicht so hoch ist wie im Sommer. Auf jeden Fall aber können solche Bedingungen die nächste Welle Richtung Westen auslösen.
Ein Elend, das die vermeintlichen westlichen "Hilfen" unnütz verlängern. Dass sie militärisch unmöglich einen Sieg der Ukraine herbeiführen können, bemerken inzwischen sogar Zeitungen wie die Welt: "In einer Woche verschießt Kiew so viel Munition, wie Großbritannien besitzt." Fehlt nur noch die nötige Ergänzung, dass die Ukraine in den besten Zeiten auf ein Viertel der russischen Geschossmenge kam.
Abgesehen von den vielen unnötigen Todesopfern, die mitnichten auf das Konto "russischer Grausamkeit" gehen, sondern einzig auf das des Westens, der durch das Eingreifen von Boris Johnson ein frühes Ende verhinderte – die "Unterstützung" der Ukraine erfolgt etwa seitens der EU nicht in Gestalt von Spenden, sondern in Gestalt von Krediten, und auch die Waffenhilfe der USA beruht zum Teil darauf. Sprich, Selenskij verpfändet sein Land, um den Krieg fortsetzen zu können, und sollte diese Ukraine als Staat erhalten bleiben, wird sie sich nicht mehr nur auf der Position des ärmsten Landes Europas befinden, sondern irgendwo bei Somalia und Sudan. Man könnte die ökonomische Seite des Spiels auch so formulieren: Wenn das Gebiet, das heute Ukraine heißt, jemals wirtschaftlich wieder auf die Füße kommen soll, dann nur, indem es durch das völlige Verlassen der westlichen Einflusssphäre von eben diesen Schulden befreit wird.
Jeder unabhängige Staat Ukraine, der dem Westen gegenüber auch nur neutral ist, würde diese Schulden "erben"; die Bemühungen des Westens haben mittlerweile eine Lage geschaffen, in dem ein ökonomisches Überleben nur durch einen militärischen Sieg Russlands und eine Eingliederung in die Russische Föderation zu haben ist. Selbst die banderaverseuchte Westukraine würde spätestens nach ein paar Jahren darum betteln, annektiert zu werden.
Die westeuropäischen Staaten müssten eigentlich alles versuchen, um diese Entwicklung aufzuhalten. Schon allein, um irgendwie die Energiemangellage zu beenden. Besäßen die Menschen der Ukraine irgendeine Bedeutung, dann auch, um das Leid dort zu beenden. Doch man sieht lieber von oben zu, wie die eigene Bevölkerung verarmt, und lässt die Ukrainer verheizen, obwohl selbst dem fanatischsten Transatlantiker inzwischen klar sein müsste, dass dieser Krieg nur verloren werden kann.
Aber vielleicht ist diese Verweigerung jedes Gedankens an eine vernünftige Lösung auch das Produkt der Erkenntnis, wie sehr man sich selbst ins Eck manövriert hat. Denn auch wenn Scholz in seinem Artikel so tut, als wären die Minsker Vereinbarungen ernst gemeint gewesen (schließlich müsste man sonst zugeben, dass der Westen seit 2014 auf Krieg aus war) ‒ inzwischen sagte ja nicht nur Poroschenko laut und deutlich, dass dieses Abkommen nur Zeit gewinnen sollte; auch Angela Merkel hat das bestätigt. Obendrein waren es aber eben diese Minsker Vereinbarungen, die den Vorwand für eine weitere Sanktionsrunde gegen Russland geliefert hatten; angeblich, um Russland zur Umsetzung dieser Vereinbarungen zu zwingen.
Nachdem die deutsche und die französische Regierung, damals in Gestalt von Merkel und Hollande, diese Täuschung inszeniert hatten, sorgten sie noch dafür, dass diese Sanktionen darauf folgten.
Wie sollen nun diese Parteien als Verhandlungspartner ernst genommen werden? Indem man auf die Methoden des Mittelalters zurückgreift und die Kinder als Geiseln stellt? Es ist seitdem noch einiges obendrauf gekommen, man denke nur an von der Leyens Pläne, russisches Vermögen zu rauben oder an die Hybris des Ölpreisdeckels; das wäre womöglich alles egal, wenn sie aussähen wie die großen Sieger, und womöglich halten sie sich sogar dafür, aber in der wirklichen Welt – von denen nimmt doch kein Hund ein Stück Brot mehr.
Diese wirkliche Welt kann man kurz zusammengefasst sehen, wenn man schaut, wie der chinesische Präsident Xi Jinping in Saudi-Arabien empfangen wurde. So sieht es aus, wenn ein Staatsgast wirklich geschätzt wird. Es gibt das Protokoll; und dann gibt es die Unterschiede. Wie beim Empfang für Lawrow in Indonesien. Niemand käme auf den Gedanken, das wechselseitige Vertrauen infrage zu stellen.
Um aus der Sackgasse herauszukommen, müssten zumindest die Staatschefs Westeuropas, oder vielleicht auch nur die von Frankreich und Deutschland, aber eben auf jeden Fall auch Olaf Scholz, nicht nur die Niederlage erkennen und sie anerkennen, sondern zudem noch auf Möglichkeiten sinnen, wie ein völlig zerstörtes Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Eine Lage, die historisch vielleicht gerade einmal mit Deutschland in den ersten Jahren nach 1945 verglichen werden kann, aber in diesem Ausmaß weltgeschichtlich noch nie stattgefunden hat. Unterhalb eines völligen Austauschs des politischen Personals ist eine Lösung kaum vorstellbar. Das mag ein Grund sein, warum sich Scholz einer Erkenntnis so verbissen verweigert.
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