Annalena Baerbock und ihr "Zivilisationsbruch"

Wenn man Scholz und Baerbock so lauscht, hat man den Eindruck, sie hätten vor dem 24. Februar 2022 nichts mit der Ukraine zu tun gehabt und nie auch nur gehört oder gelesen, was ein Krieg ist. Dabei könnte man, wäre dieser Krieg eine Parkbank, gerade auch ihre Namen unter "gestiftet von" eingravieren.

Von Dagmar Henn

Reden wir doch einmal über Krieg. Wie unter Erwachsenen, also ohne dieses "furchtbar, furchtbar"-Genöle. Was das ist, ein Krieg, und wie das abläuft. Denn irgendwie muss da eine ganz große UNOrdnung herrschen in den Köpfen vieler Politiker, auf der Regierungsbank wie in den Parteien, als hätte niemand in den letzten Jahrzehnten auch nur einen Blick geworfen, auf all die anderen Kriege – die, die die NATO geführt hat, und auf die westlichen Sanktionen und deren Folgen; als wären diese Politiker alle erst am 24. Februar aus einem Ei gekrochen und nichts davor hätte bei ihnen irgendeinen Eindruck hinterlassen oder irgendeine Bedeutung erlangt.

Unser derzeitiger Bundeskanzler Olaf Scholz beispielsweise soll mit Selenskij telefoniert und über etwas gesprochen haben, das ernsthaft "ukrainische Friedensformel" genannt wird. Es gab da allerdings schon einmal eine Friedensformel, das Minsker Abkommen. Aber das wurde so lange ignoriert und torpediert, bis es jede Bedeutung verloren hatte. Und jetzt soll man ernsthaft etwas eine "Friedensformel" nennen, das besagt, die Ukraine bliebe in den Grenzen von 1991 erhalten? Weder die Bevölkerung der Krim noch die Bevölkerung von Donezk und Lugansk werden es akzeptieren, Teil dieser jetzigen Ukraine zu sein. Das kann selbst ein Blinder mit dem Krückstock erkennen, denn schließlich haben die Bewohner der beiden Donbassrepubliken ihren Wunsch, sich von "Banderastan" zu lösen, acht Jahre lang mit der Waffe in der Hand verteidigt. Also kann diese "Friedensformel" nur besagen, die Einwohner besagter Landesteile zu vertreiben, die übrigens historisch ohnehin nie ukrainisch waren.

Aber einmal ganz abgesehen von der historischen und kulturellen Idiotie, die in dieser "Formel" steckt – so kompliziert ist die Sache mit den Kriegen doch gar nicht. An einigen Punkten ist eben doch erkennbar, dass der Sport ein Kind des Krieges ist, denn es ist immer der Sieger, der den Pokal bekommt, nicht der Verlierer. Und in einem Krieg ist es der Sieger, der die Regeln festsetzt; der Reparationen auferlegt und entscheidet, welche Gebiete wem gehören. So geht das schon seit den Zeiten von Ramses I. oder dem trojanischen Krieg oder auch dem gelben Kaiser im Reich der Mitte.

Das ist doch nicht so schwer zu begreifen. Derjenige, der verloren hat, ist der, der kapituliert. Wenn Scholz vergessen haben sollte, wie das geht, kann er sich  in Berlin-Karlshorst die Dokumente einer bedingungslosen Kapitulation anschauen. Kriege sind an diesem Punkt einfacher als die Spiele der Diplomatie. Der Sieger bestimmt. Und weder die Ukraine noch die NATO sehen gerade nach dem Sieger aus.

Kriege sind außerdem bedingungslos materialistisch. Es gibt zwar Theorien über gerechte und ungerechte Kriege, die dann auch betonen, dass die gerechte Sache immer siegt, aber in der groben Wirklichkeit entscheiden solche Dinge wie Produktionskapazitäten und Mobilisierungsfähigkeit. Das sind stets handfeste und berechenbare Dinge, die, nebenbei bemerkt, deutlich für Russland sprachen und sprechen. So deutlich, dass jemand, der sich ernsthaft Gedanken über Kriege macht, darauf geachtet hätte, es nicht dazu kommen zu lassen, weil das Ergebnis, das letztlich eintreten wird, von vorneherein absehbar war.

Stattdessen wurde erst jede echte Option auf eine friedliche Lösung versenkt, nein, geradezu verhöhnt, wie von der neuen Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Auftritt in Moskau und dann noch einmal durch das Lachen von Olaf Scholz über Putins Äußerung, im Donbass finde ein Genozid statt. Das war der Zeitpunkt, an dem vernünftige Menschen sich Gedanken darüber gemacht hätten, welche Folgen ein Krieg bringt, und darüber nachgedacht hätten, wie viele wohl sterben würden, wie viele Häuser und ganze Orte danach in Schutt und Asche liegen werden, wie viele Kinder elternlos bleiben werden. All diese Dinge bringen Kriege nun bekanntlich einmal mit sich. Im Dezember des letzten Jahres war ein passender Moment für solche Gedanken, auch für die Überlegung, dass da ein Winter kommen wird, der für jeden schwer wird, der kein Dach über dem Kopf hat.

Und wenn ihnen die Vorstellungsgabe fehlte, was ein Krieg bedeutet, hätten sie längst einmal in den Donbass reisen können, in dem es all das gab: die Waisen, die zerstörten Häuser, die kaputte Stromversorgung, die unterbrochenen Wasserleitungen, die ehemaligen Soldaten, denen Arme oder Beine abgerissen wurden Alles, einfach alles, was das Wort Krieg tatsächlich bedeutet, wäre dort zu sehen gewesen, wenn es der Nachhilfe bedurft hätte, um zu wissen, worüber man nachdenkt.

Aber die Entscheidung fiel wohl lieber für einen Krieg. Man konnte dabei zusehen. Nur jetzt stellen sie sich hin, genau dieselben Knallchargen, die die Suppe eingebrockt haben, und heulen herum.

"Dass dieser brutale Bruch der Zivilisation so geführt wird – also ich hätte mir das in den letzten Jahren niemals vorstellen können", jammerte beispielsweise Baerbock. "Wenn gezielt Infrastruktur bombardiert wird, dann nimmt man mutwillig in Kauf, dass Kinder, dass Alte, dass Familien erfrieren, dass sie verdursten, dass sie verhungern."

Die Geschichte ist so reich an Beispielen. Ein klein bisschen Bildung hilft da bereits weiter. Und, wie gesagt, wenn Bildung und Imagination nicht reichen, gab es immer noch den Donbass als immer noch lebendiges Beispiel. Oder auch Syrien, wo die Infrastruktur für Strom und Wasser ebenfalls gezielt zerstört wurde, und zwar von den "Rebellen", die aus den USA und Europa finanziert wurden. Oder Jemen, wo Kinder verhungern, weil das Land unter einer Blockade steht, die von den USA mitgetragen wird. Erfrieren, verhungern, verdursten, das gibt es in Kriegen öfter. Das gehört mit zum Angebot, deshalb wäre es ja so sinnvoll, sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Aber an diesem Punkt war das dumme Gewäsch, die Ukraine müsse frei entscheiden dürfen, in die NATO einzutreten, wichtiger als die Bewahrung des Friedens.

Nun, wenn das wichtiger ist, dann ist das jetzt wohl der Preis, der dafür zu zahlen ist, oder? Und wenn das so ausgeht, dass hinterher keine Ukraine mehr übrig bleibt, dann war da zumindest die Freiheit, zuvor eine völlig idiotische Entscheidung zu treffen.
Mal ehrlich, wenn ein Motorradanfänger ohne Helm meint, im Herbst mit hundert Sachen in eine Kurve fahren zu müssen, und er danach vom nächsten Baum gekratzt wird, würdet ihr dann auch von der Entscheidungsfreiheit reden, die unbedingt gewahrt bleiben musste? Oder würdet ihr ihn nicht doch posthum eher zum Darwin-Award anmelden?

Auch der NATO-Generalsekretär Stoltenberg war entzückend: "Wir sehen, dass Präsident Putin versucht, den Winter als Kriegswaffe einzusetzen." Man fragt sich, was sich Stoltenberg so vorstellt. Eine Kriegspause, bis die Temperaturen wieder über Null liegen? Wenn man das unbedingt will, bietet man einen Waffenstillstand an; eine Fünf-Uhr-Tee-Pause gibt es wirklich nur bei Asterix. Ansonsten gibt es altbewährte Verfahrensweisen, wie man Kriege beendet. Mit einem Waffenstillstand und einem Angebot, das auch der stärkeren Seite zusagen könnte. Oder eben mit Sieg und Niederlage. Aber weder mit unsinnigen moralischen Vorwürfen noch mit "Friedensformeln", bei denen sich der Verlierer benimmt, als wäre er der Sieger.

Ich möchte nicht einmal wissen, wie würdelos und peinlich dieses Getue der weltgrößten Kriegstreiber der NATO-Terrortruppe in anderen Gegenden dieses Planeten ankommt. Weil es vorne und hinten nicht zusammenpasst. Eine Schlägerei vorbereiten, provozieren, anfangen, und dann loszuheulen und zu erklären, man definiere sich jetzt als Frau – und Mädchen dürfe man nun mal nicht hauen – vielleicht gibt es sowas im woken "Multigenderversum", aber in der wirklichen Welt passen erst rumpöbeln und dann losheulen schlecht zusammen. Und dann wollen diese Leute noch eisern darauf beharren, man habe gar nichts gewusst und verstanden.

Natürlich, in der wirklichen Welt ist es auch egal, mit welcher Attitüde die NATO-Herzchen ihren Krieg gegen Russland führen, Hauptsache, sie verlieren ihn. Und ob sie dann beleidigt sind, wenn sie ihre Kapitulation unterzeichnen, interessiert niemanden. Insofern können sie ihre Einbildung auch weiter pflegen. Das wird weder am Ergebnis der Konfrontation etwas ändern noch an der Tatsache, dass sie diejenigen sind, die sie geschaffen haben, spätestens begonnen mit dem Entweder-oder-Ultimatum der Europäischen Union 2013 und dem Maidan-Putsch im Februar 2014.

Es gab acht lange Jahre, in denen sowohl die Ukraine als auch ihre Vorgesetzten jederzeit die Möglichkeit gehabt hätten, vom damit eingeschlagenen Weg abzuweichen und einen friedlichen Ausgang zu finden. Wie viele der heute tätigen Politiker hätten in den acht Jahren im Donbass ihre Vorstellungskraft auffrischen können, damit sie imstande sind, eine Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden, damit ihnen all das ins Gedächtnis gerufen wird, was Kriege so mit sich bringen? Ein kurzer Besuch an den Gräbern der Kinder, die im Beschuss des Donbass gestorben sind? Oder ein Gespräch über die Traumatisierungen, die acht solcher Jahre hinterlassen?

Es hat sie alle nicht interessiert. Sie haben aus dem kleinen Krieg im Donbass einen größeren Krieg in der Ukraine gemacht und spielen gedanklich immer noch mit einem noch größeren Krieg. Dabei meinen sie dennoch, sie könnten etwas von einem "Bruch der Zivilisation" murmeln, einer Zivilisation, die sie weder zu schätzen noch zu bewahren wissen, weil sie erst dann bereit sind, die Schrecken des Krieges zu sehen, wenn er mal nicht so gut für sie läuft.

Leider gab es niemanden, der Baerbock vor acht Jahren oder auch später gezwungen hat, sich fünf Stunden lang den Videostream aus Odessa anzusehen. Das sei hier nur angemerkt, damit die Formulierung von einem "Bruch der Zivilisation" ein wenig faktischen Kontext erhält. Weil es in Europa nur eine Sache gab, die nach 1945 gebrochen werden konnte, das war die Verurteilung des Nazismus; und die wurde eben in Odessa gebrochen, bereits im Frühjahr 2014. Gezwungen sein, diese Ereignisse zu sehen oder überhaupt sehen zu wollen, das hätte vielleicht selbst bei Baerbock etwas bewirkt. Aber so? So plappert sie dahin, was ihr so in den Sinn kommt, ergießt ihre billige Moral über einen Krieg, den sie selbst mit gestiftet hat. Und sie unternimmt, wie all ihre Kumpane, vor allem eines nicht, unter keinen Umständen, nicht einmal angedeutet: Schritte hin zu einem Frieden.

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