Von Pepe Escobar
Die Schritte hallen in der Erinnerung nach
Den Gang hinunter, den wir nicht genommen haben
Zu der Tür, die wir nie öffneten
In den Rosengarten. Meine Worte hallen
in deinem Geist.
Doch wozu
Den Staub auf einer Schale mit Rosenblättern aufwirbeln
Ich weiß es nicht.
T.S. Eliot, Burnt Norton
Man denke nur an den polnischen Landwirt, der Fotos von einem Raketenwrack machte – von dem sich später herausstellte, dass es zu einer ukrainischen S-300 gehörte. Auf diese Weise könnte somit ein polnischer Bauer, dessen Handlung in unserem kollektiven Gedächtnis widerhallt, die Welt vor dem 3. Weltkrieg gerettet haben, entfesselt durch eine schäbige Verschwörung, die von angloamerikanischen Geheimdiensten ausgeheckt wurde. Zu diesem Schmuddel gesellte sich noch eine lächerliche Vertuschung: Die Ukrainer feuerten auf russische Raketen aus einer Richtung, aus der sie unmöglich kommen konnten. Das heißt: aus Polen.
Und dann gab der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Russland in jedem Fall die Schuld, weil seine Kiewer Vasallen auf russische Raketen schossen, die nicht in der Luft hätten sein sollen. Man nenne es das Pentagon, das schamloses Lügen zu einer ziemlich schäbigen Kunst erhoben hat. Der Zweck dieses angloamerikanischen Schwindels war, einen "globalen Aufruhr" gegen Russland zu entfachen. Der Schwindel wurde aufgedeckt – diesmal. Das bedeutet aber nicht, dass die üblichen Verdächtigen es nicht noch einmal versuchen werden. Demnächst.
Der Hauptgrund für all das ist Panik. Die Geheimdienste des kollektiven Westens sehen, wie Moskau endlich seine Armee mobilisiert, bereit, nächsten Monat ins Feld zu ziehen und gleichzeitig die ukrainische Strominfrastruktur als eine moderne Form chinesischer Folter außer Gefecht setzt.
Die Tage des vergangenen Februar, in denen lediglich 100.000 Soldaten in die Ukraine entsandt wurden – und die Milizen der DNR und LNR, zusammen mit den Kommandos von Wagner und den Tschetschenen von Kadyrow den größten Teil der harten Arbeit erledigen mussten – sind längst vorbei. Insgesamt standen den Russen und ihren Alliierten eine Horde ukrainischer Soldaten gegenüber – vielleicht bis zu einer Million Mann. Das Wunder dabei ist, dass sich die Russen ziemlich gut geschlagen haben.
Jeder Militäranalytiker kennt diese Faustregel: Eine Invasionstruppe sollte dreimal so groß sein wie die Truppen der Verteidigungsstreitmacht. Die russische Armee hatte zu Beginn der Militäroperation nur einen kleinen Bruchteil dieser Truppen, obwohl die russischen Streitkräfte über ein stehendes Heer von 1,3 Millionen Soldaten verfügen. Sicherlich hätten sie ein paar Zehntausend mehr als die anfänglichen 100.000 einsetzen können. Aber sie taten es nicht. Das war eine politische Entscheidung. Aber jetzt ist die Phase der "speziellen Militäroperation" vorbei: Jetzt kämpft man auf dem Gebiet einer antiterroristischen Operation. Eine Reihe von Terroranschlägen – jene auf die Nord-Stream- Pipelines, auf die Brücke von Kertsch und auf die Schwarzmeerflotte – demonstrierte schließlich die Unausweichlichkeit, über eine bloße "spezielle Militäroperation" hinauszugehen.
Und das bringt uns zum "Stromkrieg".
Der "Stromkrieg" wird im Wesentlichen als Taktik geführt, was letztendlich zur Durchsetzung von Russlands Bedingungen in einem möglichen Waffenstillstand führen wird und was weder angloamerikanische Geheimdienste noch die Vasallen der NATO wollen. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand kommen sollte, der seit einigen Wochen weithin propagiert wird, würde das den Krieg nicht beenden. Weil die tieferen, wesentlicheren russischen Bedingungen – Stopp der NATO-Osterweiterung und Bekenntnis zur "Unteilbarkeit der Sicherheit" in Europa – die im vergangenen Dezember sowohl gegenüber Washington als auch Brüssel vollständig dargelegt und anschließend zurückgewiesen wurden, immer noch Bestand haben.
Da sich seither konzeptionell nichts geändert und die westliche Bewaffnung der Ukraine den Zustand eines Deliriums erreicht hat, blieb dem russischen Oberkommando keine andere Wahl, als das ursprüngliche Mandat der Militäroperation zu erweitern, während das Ziel der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine bestehen bleibt. Doch jetzt muss das Mandat auch Kiew und Lwow mit einbeziehen. Und das beginnt mit der aktuellen "De-Elektrifizierung", die weit über den Osten des Dnjepr hinaus und entlang der Küste des Schwarzen Meeres in Richtung Odessa geht.
Das bringt uns zu der Schlüsselfrage der Reichweite und Tiefe dieses "Stromkrieges", in Bezug auf die Einrichtung einer demilitarisierten Zone (DMZ) – komplett mit Niemandsland – westlich des Dnjepr, um russische Gebiete vor Artillerie, HIMARS und Raketenangriffe der NATO zu schützen. Wie tief sollte diese DMZ sein? 100 Kilometer? Nicht genug. Eher 300 km, denn Kiew hat bereits Artillerie mit dieser Reichweite angefordert. Entscheidend ist, dass dies bereits im Juli in Moskau auf höchster Ebene ausführlich diskutiert wurde. In einem ausführlichen Interview im vergangenen Juli ließ Außenminister Sergei Lawrow – diplomatisch – die Katze aus dem Sack:
"Dieser Prozess geht konsequent und beharrlich weiter. Es wird so lange weitergehen, wie der Westen in seiner ohnmächtigen Wut, verzweifelt bemüht, die Situation so weit wie möglich zu verschlimmern, die Ukraine mit immer mehr Langstreckenwaffen flutet. Hierbei sei die HIMARS genannt. Der ukrainische Verteidigungsminister Alexei Resnikow prahlt bereits damit, Munition mit 300 Kilometern Reichweite erhalten zu haben. Das bedeutet, dass sich Russlands geografische Ziele noch weiter von der aktuellen Kontaktlinie entfernen werden. Russland kann nicht zulassen, dass der Teil der Ukraine, den Wladimir Selenskij – oder wer auch immer ihn ersetzen wird – über Waffen verfügt, die eine direkte Bedrohung für unser Territorium oder für die Republiken darstellen, die ihre Unabhängigkeit erklärt haben und ihre eigene Zukunft bestimmen wollen."
Die Implikationen sind überdeutlich.
So sehr Washington und die NATO verzweifelt daran arbeiten, die Situation so weit wie möglich zu verschlimmern – und das ist Plan A, es gibt keinen Plan B – verschärfen die Amerikaner geoökonomisch das neue große globale Spiel. Die Verzweiflung zeigt sich im Versuch, die Transportkorridore für Gas und Öl kontrollieren zu wollen und die Preise für deren Verkauf zu diktieren. Russland bleibt derweil unbeeindruckt, da es weiterhin in Pipelines in Richtung Asien investiert, in den multimodalen Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor, mit den wichtigen Partnern Indien und Iran. Zudem hat Russland einen Einfluss bei der Preisbestimmung innerhalb der OPEC+.
Ein Paradies für oligarchische Plünderer
Die neoliberalen Neokonservativen, die den angloamerikanischen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat bevölkern, werden nicht nachgeben. Sie können es sich einfach nicht leisten, einen weiteren Krieg der NATO zu verlieren – und das noch obendrauf gegen die "existenzielle Bedrohung" Russland.
Da die Nachrichten von den ukrainischen Schlachtfeldern unter General Winter versprechen noch düsterer zu werden, dürfte zumindest im kulturellen Bereich Trost zu finden sein. Der grüne Übergangsschwindel, gewürzt mit einem giftigen Salat aus eugenetischem Silicon-Valley-Ethos, wird weiterhin als Beilage zum Hauptgericht angeboten: Dem Davoser "Großen Narrativ", ehemals "The Great Reset" auf der Speisekarte, das wieder einmal sein hässliches Haupt erhoben hat, diesmal beim G20-Gipfel auf Bali.
Das bedeutet letztlich, dass beim Projekt der Zerstörung von Europa alles gut läuft. Deindustrialisierung und dabei glücklich sein; ein Tanz unter dem Regenbogen zu jeder woken Melodie auf dem Markt; frieren und Holz verbrennen, während man "erneuerbare Energien" auf dem Altar der europäischen Werte segnet.
Ein kurzer Rückblick, um in den Kontext zu bringen, wo wir uns gerade befinden, ist immer hilfreich. Die Ukraine war fast vier Jahrhunderte lang Teil Russlands. Die eigentliche Idee seiner Unabhängigkeit wurde in Österreich während des Ersten Weltkriegs ersonnen, um die russische Armee zu untergraben – und das ist sicherlich auch passiert. Die gegenwärtige "Unabhängigkeit" wurde geschaffen, damit lokale Oligarchen die Nation plündern konnten, während eine mit Russland verbündete Regierung dabei war, gegen diese Oligarchen vorzugehen.
Der Staatsstreich in Kiew 2014 wurde im Wesentlichen von Zbigniew Brzezinski konzipiert, um Russland in einen neuen Partisanenkrieg zu drängen – so wie damals in Afghanistan – und darauf folgten die Befehle aus Washington an die Golf-Haziendas, den Ölpreis zum Absturz zu bringen. Moskau musste ethnische Russen auf der Krim und im Donbass schützen, was zu weiteren westlichen Sanktionen führte. Alles war eine Inszenierung.
Acht Jahre lang weigerte sich Moskau, seine Armee auch nur in den Donbass östlich des Dnjepr zu schicken – der historische Teil von Mutter Russland ist. Der Grund: Sich nicht in einem weiteren Partisanenkrieg zu verzetteln. Der Rest der Ukraine wurde derweil von Oligarchen geplündert, die vom Westen unterstützt wurden und das Land in ein finanzielles schwarzes Loch stürzten. Der kollektive Westen hat sich bewusst dafür entschieden, das Schwarze Loch nicht zu finanzieren. Die meisten Finanzinjektionen der Weltbank wurden von den Oligarchen einfach gestohlen und die Beute außer Landes gebracht. Diese oligarchischen Plünderer wurden natürlich von den üblichen Verdächtigen "beschützt".
Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass zwischen 1991 und 1999 das Äquivalent des heutigen gesamten Haushaltsvermögens Russlands gestohlen und nach Übersee transferiert wurde, hauptsächlich nach London. Jetzt versuchen dieselben üblichen Verdächtigen, Russland mit Sanktionen in den Ruin zu treiben, nachdem der "neue Hitler" Wladimir Putin diese Plünderungen gestoppt hat. Der Unterschied besteht darin, dass der Plan, die Ukraine als Spielball einzusetzen, nicht aufgeht.
Was in diesem Krieg bisher vor Ort stattfand, waren hauptsächlich Scharmützel und ein paar solide Schlachten. Aber wenn Moskau frische Truppen für eine Winteroffensive zusammenzieht, könnte die ukrainische Armee am Ende völlig in die Flucht geschlagen werden. Russland stand bisher gar nicht so schlecht da, wenn man bedenkt, wie effektiv die russischen Artillerieangriffe gegen ukrainische befestigte Stellungen waren, die geordneten Rückzüge oder die Stellungskriege, bei denen die eigenen Verluste niedrig gehalten und gleichzeitig die ukrainische Feuerkraft zerschmettert wurde.
Der kollektive Westen glaubt, dass er in der Ukraine die "Aus dem Gefängnis"-Trumpfkarte besitzt. Russland jedoch setzt auf die Realität, wo die Trumpfkarten Nahrung, Energie, Ressourcen und eine stabile Wirtschaft heißen. Nicht nur steht die Selbstmord-EU einer Reihe von kommenden Torturen gegenüber, sie kann auch mit Sicherheit erwarten, dass mindestens 15 Millionen verzweifelte Ukrainer an die Tore der EU klopfen werden, die aus Dörfern und Städten ohne Stromversorgung fliehen. Der Bahnhof im zeitweise befreiten Cherson ist ein anschauliches Beispiel dafür: Ständig tauchen dort Menschen auf, um sich aufzuwärmen und ihre Smartphones aufzuladen. Die Stadt selbst hat keinen Strom, keine Wärme und kein Wasser anzubieten. Die aktuelle russische Taktik ist das absolute Gegenteil der von Napoleon entwickelten Militärtheorie der konzentrierten Kräfte. Aus diesem Grund häuft Russland ernsthafte Vorteile an.
Aber natürlich "haben wir noch gar nicht richtig angefangen".
Übersetzt aus dem Englischen. Zuerst erschienen bei Strategic Culture.
Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Er wurde von Facebook und Twitter aus politischen Gründen verbannt, aber man kann ihm auf Telegram folgen.
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