Von Maria Müller
Sofort nach Bekanntwerden des knappen Wahlergebnisses zugunsten des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (50,9 Prozent) fanden in ganz Brasilien Straßenblockaden und massenhafte Demonstrationen statt. Die Anhänger des unterlegenen Jair Bolsonaro forderten die brasilianischen Streitkräfte zu einem Militärputsch auf. Dabei taten sich besonders die großen Transportunternehmen hervor, die im riesigen Brasilien den Schlüssel zur Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern in der Hand haben. Mit ihrer Kontrolle der Infrastruktur erinnerten sie an den Putsch von 1973 gegen den damaligen Präsidenten Salvador Allende in Chile. Auch dort spielten die Trailer eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Umsturzes.
Diese Erinnerungen wurden im Brasilien der vergangenen Tage wieder wach – mit dem Unterschied, dass die brasilianische Armee keine offen erkennbaren Putschgelüste zeigte. Sie demonstrierte stattdessen ihre Kapazitäten in Sachen Datenanalyse und überreichte dem Obersten Wahlgericht (TSE) sowie dem brasilianischen Volk schließlich ein umfrangreiches Dokument über den Urnengang der über 124 Millionen Wahlberechtigten.
Vereinbarung zwischen dem Militär und dem Wahlgericht
Der Bericht ist das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen den Streitkräften und dem Gericht. Nach starkem Druck des Militärs gab Alexandre de Moraes, Präsident des TSE, einem Teil der Bitten nach, wie die Abstimmung überwacht werden sollte. Dazu gehörte auch die Anwendung biometrischer Tests. De Moraes erklärte dazu:
"Der Oberste Wahlgerichtshof hat den Abschlussbericht des Verteidigungsministeriums mit Genugtuung entgegengenommen, der ebenso wie alle anderen Prüfungsorgane keinen Hinweis auf das Vorliegen von Betrug oder Unstimmigkeiten bei den elektronischen Wahlurnen und dem ganzen Wahlverfahren von 2022 lieferte."
Allerdings vermieden die Militärexperten eindeutige Aussagen. Die Bolsonaro-Anhängerschaft im Hintergrund durfte nicht an den Pranger gestellt werden. Zudem formulierten die brasilianischen Streitkräfte in ihrem 62-seitigen Papier "Verbesserungsvorschläge" und spekulierten über mögliche Schwachstellen in den Wählerumfragen. Zum Schluss ließen sie die Hintertür für Verschwörungstheorien offen.
Die Hintertür für Verschwörungstheorien
Man könne "nicht versichern, dass das elektronische Wahlsystem frei von dem Einfluss eines möglichen bösartigen Codes ist, der seinen Betrieb verändern könnte", so die Militärs.
Der Bericht schlägt vor, dringend eine Kommission zu bilden, die sich aus "von der Gesellschaft anerkannten Technikern und technischen Vertretern von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften" zusammensetzt, um mögliche Schwachstellen zu untersuchen.
Der Präsident des Obersten Wahlgerichts unterstützte die Forderung: "Die Vorschläge zur Verbesserung des Systems sollten zeitnah analysiert werden." Er fügte hinzu: "Das TSE bekräftigt, dass die elektronischen Wahlurnen eine Quelle des Nationalstolzes sind und die Wirksamkeit, Reibungslosigkeit und völlige Transparenz der Wahlen 2022 bestätigen."
Sowohl der brasilianische Rechnungshof (TCU), die Organisation der amerikanischen Staaten (OEA) als auch die Rechtsanwaltsvereinigung Brasiliens (OAB) betonten, dass es keine Unregelmäßigkeiten gebe.
Militär positioniert sich als Wahlgremium
Dr. Ana Penido, eine Expertin für Internationale Beziehungen an der Universität von Sao Paulo, kritisierte die Einmischung der Militärinstitution in den Wahlvorgang. Denn dies sei verfassungsrechtlich nicht vorgesehen. Mit ihrem Vorgehen überschritten die Militärs ihre Kompetenzen. Sie sagte vor der Presse:
"Mit dem Dokument macht sich das Militär nun zum Teil des Wahlsystems. Es präsentiert sich als Garant des internen Gleichgewichts und als mäßigende Macht, die die Glaubwürdigkeit des Systems sichert."
Dr. Penido führte weiter aus: "Diese Gruppen können keinen Staatsstreich fordern. Stattdessen präsentieren sie eine Reihe von Forderungen, wie etwa die Schaffung einer Kommission. Damit lenken sie die Debatte in eine bestimmte Richtung und schaffen im Grunde mehr Verunsicherung als mit einer konkreten Anklage."
Bolsonaro hatte während seiner gesamten Amtszeit die Glaubwürdigkeit des digitalen Wahlsystems in Brasilien kritisiert. Er forderte seine Anhänger immer wieder dazu auf, bei den kommenden Wahlen die Wahllokale anzugreifen.
Bolsonaro erklärte kurz nach der Bekanntgabe der Ergebnisse, dass er die Verfassung respektieren werde, während sein Kabinettschef sagte, dass er beim Machtwechsel mit der neuen Regierung zusammenarbeiten werde. Er sprach vom "gewählten Präsidenten" Lula.
Eine Organisation hinter den Blockadeaktionen
Hinter den Blockadeaktionen steht nach bisherigen Erkenntnissen von Polizei und Staatsanwaltschaft eine Organisation von Geschäftsleuten und Beamten.
Fernando Comin, der Präsident der Oberstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Santa Catarina, gab bekannt, dass er am vergangenen Dienstag dem TSE eine Liste mit mindestens 12 Geschäftsleuten und Beamten übergeben habe, deren Namen er nicht im Detail nannte. Er macht sie für die Organisation und Finanzierung der jüngsten illegalen Straßenblockaden aus Protest gegen das Wahlergebnis verantwortlich.
"Wir haben eine Organisation identifiziert, die hinter den Kulissen agiert. Sie stiften die Trailer-Bewegung zu diesen Taten an, sie ermutigen einfache, arbeitende Menschen aus der Bevölkerung dazu, immer weiter zu machen.
Der Oberstaatsanwalt erklärte, dass Namen nicht genannt werden dürften, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Doch seien bisher mehr als 12 Geschäftsleute und "Führungskräfte" identifiziert worden. Ein Datenabgleich und eine Untersuchung der Aktivitäten dieser Personen in sozialen Netzwerken, hinter den Kulissen, in den Bewegungen, brachten Erkenntnisse darüber, wer Geld sammelte, wer die Strukturen von Stützpunkten plante und umsetzte, und wer zur Ausübung von Gewalt gegen die Polizei anstachelte", fügte Fernando Comin hinzu.
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