Von Gert Ewen Ungar
Es ist ein schlichtes und ein angesichts des Zustandes des kollektiven Westens auch zunehmend peinliches Ritual: Dort, wo deutsche Regierungsvertreter oder Delegationen des Bundestages einfallen, wird die Einhaltung der Menschenrechte angemahnt. Allerdings nur in jenen Ländern, wo mit ernsthaften Konsequenzen für die Forderung nicht zu rechnen ist. In den Ländern des Südens, in China und selbstverständlich in Russland hauen deutsche Politiker gern auf die Pauke. Gegenüber den westlichen Bündnispartnern gibt man sich dagegen kleinlaut. Die Auftritte der Vertreter der Bundesregierung sind daher eine ganz billige Form eines zur Schau gestellten Mutes, der nichts kostet und der auch nichts bewirkt.
Allein in den vergangenen Tagen maßten sich deutsche Regierungsvertreter in China, in Katar und zuletzt in Ägypten an, die Achtung der Menschenrechte einzufordern. Bundeskanzler Scholz (SPD) war in China und schnitt dort ganz beherzt das Thema Menschenrechte an. Das wird keinerlei Konsequenzen haben, denn man weiß in China mit Sicherheit, dass es zum deutschen Ritual gehört. Der Kanzler brauchte diese Einlage aus innenpolitischen Gründen. Man gönnte ihm daher einige Sekunden deutschen Populismus. Man weiß zudem auch in China um den Zustand, in dem sich der kollektive Westen befindet. Man weiß, dass dort der Respekt und die Achtung vor den universalen Menschenrechten immer mehr zu wünschen übrig lässt.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) ist gerade auf der Klimakonferenz in Ägypten zu Gast. Auf der Webseite des Außenministeriums durfte eine Mahnung der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung in Richtung Ägypten daher nicht fehlen. Das macht man so. So geht feministische Außenpolitik. Es gehört nach deutscher Auffassung anscheinend zum guten Ton in der Diplomatie, Gastgeberländer erst einmal zu maßregeln. Das ist Baerbocks Interpretation des Wortes "Augenhöhe" auf der man sich so gern verständigen möchte. Ob ihr das Bekenntnis zur Augenhöhe irgendeiner ihrer Minister-Kollegen angesichts ihres in Penetranz erhobenen moralischen Zeigefingers abnimmt? Das darf bezweifelt werden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) reiste nach Katar und wollte dort die Zusicherung, dass sich während der Fußball-Weltmeisterschaft auch Schwule, Lesben, Trans- und queere Menschen sicher fühlen können. Das Liebslingsthema deutscher Außenpolitik seit etwa zehn Jahren. Davor war der Bundesregierung das Wohl von Schwulen und Lesben in der Welt weitgehend schnuppe. Aber jetzt hat Deutschland erkannt, wie gut sich dieses Thema instrumentalisieren lässt und trägt es in missionarischem Eifer hinaus in die Welt, um beim heimischen Klientel zu punkten. Faeser erhielt im Gegenzug eine diplomatische Protestnote.
Was die Innenministerin hier macht, ist wohlfeil und richtet sich ausschließlich an die heimische LGBT-Lobby. Bei internationalen Veranstaltungen wie einer WM liegt es im Interesse des austragenden Landes, sich so weltoffen wie möglich zu zeigen. Faeser und mit ihr deutsche Medien betreiben puren Populismus. Ja, in Katar gibt es keine LGBT-Rechte. Vermutlich ist der Blick auf Sexualität ein vollkommen anderer und lässt sich nicht in das westliche Schema von homo, hetero und bi packen. Vermutlich findet man es dort völlig okay, wenn geäußert wird, Männer in Frauenkleidung seien abstoßend und widerwärtig. Dennoch ist Faesers Engagement in Katar verlogen.
Anlässlich ihres Besuchs in Kiew ist jedenfalls nicht überliefert, dass sich Faeser in ähnlicher Weise, wie sie sich jetzt um das Wohl queerer Besucher der WM in Katar sorgt, um das Wohl der russischsprachigen Bevölkerung gesorgt hat. Die nicht nur durch die ukrainische Gesetzgebung aktiv diskriminiert, sondern auf Befehl Kiews mit westlichen Waffen beschossen wird. Diese Form der Diskriminierung mit Todesfolge ist der Innenministerin vollkommen gleichgültig. Jeden Gedanken an Menschenrechte beiseite wischend lässt es sich mit den Verantworltichen sogar in aller Leichtigkeit mit einem Gläschen Sekt anstoßen. Die Bilder von Faeser mit Selenskij beim Sekt auf einem Kiewer Balkon sprachen Bände über deutsche und westliche Dekadenz. Gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie dem kollektiven Westen jeder Maßstab abhanden gekommen ist.
Auf der Pressekonferenz in Peking nach der Unterredung zwischen Scholz mit dem chinesischen Premierminsiter Li Keqiang war der versammelten deutschen Journaille denn auch das Thema Menschenrechte in China eines der wichtigsten Anliegen.
Dabei ist all das, was es da an Anklagen in Richtung China gibt, wenig belastbar. Die Vorwürfe, China würde die uigurischen Minderheit systematisch unterdrücken und in Lagern umerziehen, weist Peking regelmäßig zurück. China wird nicht müde, dafür auch Belege zu liefern, die natürlich von westlichen, insbesondere deutschen Politikern und den deutschen Medien ignoriert oder als Staatspropaganda einer kommunistischen Diktatur abgetan werden. Auch in diesem Zusammenhang steht das Narrativ über allem und ist gegen Fakten resistent, sowohl was die Unterdrückung der um ihre Kultur beraubten Uiguren als auch das gewöhnliche Verhalten kommunistischer Diktaturen angeht. Das Narrativ beharrt auf seinen Klischees.
Die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, musste nach ihrem Besuch in China zurücktreten. Sie hatte das westliche Uiguren-Narrativ nicht in ausreichendem Maße bedienen können und wurde dafür unter Druck gesetzt. Man widerspricht nicht ungestraft vom kollektiven Westen mühsam etablierten Erzählungen.
Was im kollektiven Westen passiert, ist dabei ganz erstaunlich. Von westlichen Regierungen finanzierte NGOs erheben Vorwürfe, die Menschenrechte würden verletzt. Sie stützen sich dabei in der Regel auf höchst fragwürdige Quellen. Die betreffende Regierung wird nicht gehört, ihre Argumente und Beweise im besten Fall abgewertet und diskreditiert. Die betreffenden NGOs bilden mit der westlichen Presse eine riesige Echokammer, in der die Vorwürfe so lange widerhallen, bis sie als bewiesen gelten. Der Westen liefert sich die Grundlage für seine Interventionen selbst. Das ganze Verfahren erinnert mehr an mittelalterliche Scholastik denn an neuzeitliche Aufklärung. Glaubwürdiger wird der kollektive Westen dadurch natürlich nicht.
Ganz anders sieht es freilich aus, wenn der Westen auf sich selbst blickt. Guantanamo existiert seit inzwischen zwei Jahrzehnten. Dort wird jeden Tag Recht gebrochen. Ein deutscher Staatsbürger wurde dort nachweislich gefoltert. Niemand bestreitet das, und dennoch hüllt sich die deutsche Politik und mit ihnen die deutschen Medien angesichts dieses schreienden Unrechts in Schweigen. Dieselben NGOs, die sich gerade noch mit Verve und Elan für die Sache der Uiguren in China einsetzten, verfassen maue und halbherzige Pressemitteilungen zu den Jahrestagen der Gründung des US-Folterlagers. Während eine News-Suche nach dem Begriff "Uiguren" sofort das ganze Spektrum der deutschen Presselandschaft anzeigt, erhält man bei der Suche nach "Guantanamo" ein bisschen was von Amnesty International, einen Beitrag aus der Jungen Welt, und sonst nur altes Zeug. Die deutschen Medien sind elementarer Bestandteil westlicher Heuchelei.
Julian Assange sitzt für die Offenlegung von Kriegsverbrechen seit Jahren in Haft. Gegenüber dem britischen Strafvollzug gibt es den offenen Vorwurf der Folter. Diejenigen, deren Kriegsverbrechen Assange offengelegt hat, wurden nie bestraft.
In der EU werden Medien verboten. In Deutschland wurde das Strafrecht verschärft und damit die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Journalisten verlassen wieder einmal das Land. Die deutsche Sorge um die Menschenrechte in anderen geographischen Breiten wirkt vor diesem Hintergrund bestenfalls geheuchelt.
Es gäbe zu Hause genug zu tun. Und nein, es handelt sich hierbei nicht um Whataboutism. Die westlichen Werte haben den Westen längst verlassen. Allerdings würde sich kein deutscher Regierungspolitiker trauen, mit demselben Gestus in Großbritannien oder den USA die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern, wie sie es in China, Russland, in Katar und in anderen Ländern des Südens tun. Diesen Mut bringt weder eine Annalena Baerbock noch eine Nancy Faeser auf. Ihr Menschenrechtstheater auf internationaler politischer Bühne ist daher unlauter und verlogen.
Ginge es wirklich um Menschenrechte, dann gäbe es nicht nur unmittelbar vor der eigenen Haustür, sondern auch in der eigenen Wohnung genug zu tun. Die Unterstützung der Ukraine bedeutet die aktive Förderung staatlicher Diskriminierung. Das Verbot russischer Medien, die zunehmende Zensur in Deutschland, die politische Gleichschaltung – all das ist mit dem Auftreten deutscher Politiker im Ausland als selbsternannte moralische Autoritäten nicht vereinbar. Diese Auftritte nimmt daher auch niemand ernst. Die deutsche Dauererregung angesichts des Themas Menschenrechte ist reiner Populismus für das deutsche Publikum und die eigene politische Klientel. Es züchtet dabei ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Staaten, dem auf der Faktenebene nichts entspricht.
Es gibt aber, wie bei jeder Form des Populismus, eben auch hier noch eine zweite Seite. Denn mit seiner einseitigen Dauerempörung relativiert Deutschland die Menschenrechte. Der deutsche politisch-mediale Komplex macht sie zum Instrument einer einseitigen, neokolonialen Politik und löst sie damit aus ihrem Universalismus. Ihre Durchsetzung ist nach deutscher Auffassung vor allem in den Staaten des Südens und in jenen Ländern notwendig, mit denen sich Deutschland in einem Systemkonflikt sieht.
Im kollektiven Westen ist die Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte dagegen vernachlässigbar. Das außenpolitische Handeln Deutschland beschädigt daher den universalen Anspruch und schafft zwei Klassen von Staaten. Den kollektiven Westen einerseits, der das Recht hat, gegen alle Regeln und Rechte zu verstoßen, ohne dafür mit Konsequenzen rechnen zu müssen, und die Staaten außerhalb davon. Gegen sie werden die Menschenrechte instrumentalisiert. Über einen pervertierten Begriff der Menschenrechte wird jede Form westlicher Einmischung und Intervention legitimiert, bis hin zum militärischen Einsatz. Mit diesem spezifisch deutschen Unrecht wird sich die Welt auf Dauer nicht abfinden.
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