Von Dr. Karin Kneissl
Im Sommer 2017 publizierte ich mein Buch "Wachablöse", in welchem ich das Ende der transatlantischen Ordnung angesichts des Aufstiegs Chinas beschreibe. Was sich damals bereits abzeichnete, ist im Herbst 2022 nach zwei Parteikongressen klarer: China investiert nicht nur weltweit aus rein kommerziellen Gründen wie einst Japan, sondern China handelt hierbei geopolitisch. Peking weiß sehr klar, seine Pläne und Fristen festzulegen. Und oft genug unterschreitet China seine Abgabetermine, erreicht die Ziele also früher als geplant. Eines davon lautet, zur wichtigsten Volkswirtschaft zu werden, sowie die Wiedervereinigung mit Taiwan stärker als bislang voranzutreiben.
Chimerica war einmal
Trotz "Null COVID"-Politik und den Unsicherheiten, welche die vielen Lockdowns der chinesischen Wirtschaft bescherten, kann Peking weiterhin sehr klar die USA als die noch mächtigste Volkswirtschaft herausfordern. In Debatten zum Verhältnis zwischen den USA und China wird gerne die Analogie des Aufstiegs Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedient. Berlin forderte damals als Industriemacht und mit seinen Versuchen, auch Kolonialpolitik zu betreiben, das britische Imperium heraus. Bis ins Jahr 2008 wurde die Wortschöpfung "Chimerica" des schottischen Historikers Niall Ferguson und des Ökonomen Moritz Schularick gerne ins Spiel gebracht. Es ging um die gleichsam unauflösliche Verbindung zwischen den USA und China. Doch Peking distanzierte sich bereits in der Finanzkrise von 2008/9 von den USA und begann laut darüber nachzudenken, den US-Dollar als Reservewährung herauszufordern. Wachablöse im Sinne einer geopolitischen Verschiebung geht Hand in Hand mit neuen Leitwährungen. Die Bedeutung des britischen Pfunds endete mit dem Abstieg Großbritanniens bereits in den 1950er Jahren.
Analogien eignen sich für inspirierende historische Vergleiche, aber sie hinken auch. Die Welt ante 1914 war um vieles einfacher und überschaubarer als dies gegenwärtig der Fall ist. Zudem waren die Monarchen von London über Berlin bis Sankt Petersburg miteinander verwandt, korrespondierten vorzugsweise in exzellentem Englisch direkt miteinander. Und dennoch taumelte die Welt in den großen Krieg, den die Zeitgenossen noch nicht den Ersten Weltkrieg nennen konnten.
Ein tiefes Dilemma unserer Zeit ist wohl das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Und damit meine ich nicht unbedingt die Beherrschung einer Lingua franca, wie es die englische Sprache nun mal ist. Es ist die gleichsam totale Sprachlosigkeit, welche die internationalen Beziehungen bestimmt. In diesem diplomatischen Vakuum tritt Peking mit sehr klaren Ansagen zu seinen Vorhaben auf.
Die Reaktionen der USA und der EU erschöpfen sich in weiteren Mahnungen sowie Maßnahmen zur Halbleitertechnik, die bereits Sanktionen gegen die chinesische Industrie sind. Die westlichen Medien warnen unisono vor China. Wie gerne waren doch deutsche Haus- und Hofberichterstatter noch bei Kanzlerreisen in China mit an Bord und schwärmten vom chinesischen Modell. Ist es Ignoranz oder Opportunismus, wie sich das Verhältnis des Westens zu China verändert hat? Es ist wohl eine Mischung aus beidem.
Die Reise in den Westen
So lautet der Titel eines Schlüsselromans der chinesischen Literatur, der eine Mischung aus Mythen und amüsanten Erzählungen ist. Beim Lesen dieses Buches wurde mir klar, wie weit entfernt die kulturellen Erzählungen und damit auch die Selbstwahrnehmungen zwischen Europa und dem Reich der Mitte sind. Während Europa missionarisch expandierte und so gewaltige kriegerische Zerstörungen über die Welt brachte, genügte China viele Jahrhunderte lang sich selbst, war vielleicht auch unverwundbar in seiner Selbstisolation.
Mit dem Amtsantritt von Xi Jinping, der im Jahr 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas wurde und seit 2013 als Staatspräsident neue Akzente setzte, trat China selbstbewusster und diplomatisch auch lauter auf. Manche nennen es "Globalisierung chinesischer Prägung", andere "chinesischen Nationalismus". Wie man es auch nennen mag, der Blick Pekings auf den Rest der Welt fügt sich in ein historisches Selbstverständnis, das auf zivilisatorischer Einzigartigkeit fußt.
Der chinesische Exzeptionalismus beruht auf mehreren uralten Mythen. Einer davon erzählt die Geschichte Chinas als das der ultimativen pazifistischen Nation, dem Opfer aller und dem Aggressor gegenüber niemandem. In diesem Narrativ ist China, so wie es heute ist, aus dem Nebel der Geschichte aufgetaucht und hat sich mit völlig (oder größtenteils) friedlichen Mitteln zu seiner heutigen Größe entwickelt. Von der Warte Vietnams, lange im chinesischen Windschatten, betrachtet, entsteht ein völlig anderes Bild, nämlich das eines repressiven Aggressors. Aber dies wiederum berührt nicht das chinesische Selbstverständnis.
Eine aufschlussreiche Lektüre ist das Schreiben von Kaiser Qianlong an den englischen König George III. aus dem Jahr 1793. Anlass ist die Vorsprache des ersten englischen Gesandten am Kaiserhof, die sogenannte Macartney Botschaft. Der Grundtenor der ausführlichen Depesche ist alles andere als respektvoll. Das Anliegen des englischen Königs, einen Konsul zu akkreditieren, wird den "Barbaren" aus vielen Gründen verwehrt. Aus jeder Zeile ist tiefe Verachtung spürbar. Im späten 18. Jahrhundert unserer Zeitrechnung konnte der chinesische Kaiser als Weltenherrscher derart selbstbewusst auftreten, aber er war die exotische Ausnahme in einer Welt, die sich über völkerrechtliche Verträge bereits zu definieren begann.
Die USA denken über den Mehrfrontenkrieg nach
Die erste klare Ansage von Xi letzte Woche ging an die Adressen Taiwans und der USA mit einer klaren Absage an jegliche Unabhängigkeit der Insel. Dass die Wiedervereinigung schneller als geplant erfolgen soll, war bereits im August im neuen chinesischen Weißbuch zur Taiwan-Frage nachzulesen. US-Militärs in den darauf spezialisierten Denkfabriken meinten, dass also im Jahr 2023 mit einer militärischen Lösung Chinas zu rechnen wäre.
War aller finanzieller und militärischer Fokus des US-Kongresses nur mehr Aufrüstung der Ukraine, so werden nun mit Hochdruck Gelder für Taiwan freigemacht. Neuerlich tüfteln Experten aller Art an den Szenarien des Zweifrontenkriegs und manche geben sich jetzt schon siegessicher. Der US-Historiker Wess Mitchell publizierte hierzu bereits einige Essays, wie Washington sowohl gegen China als auch Russland mit Sanktionen und militärischen Einsätzen vorgehen würde. Als dritte Front tut sich jetzt neuerlich der Iran auf, der in den Sandkastenspielen in Washington seit Jahrzehnten als Dauer-Nebenfront bearbeitet wird.
US-Maßnahmen – de facto, aber nicht de jure Sanktionen – gegen die chinesische IT-Industrie wurden just am Vorabend des Parteikongresses verkündet. Bereits wenige Tage später zeigten sich die ersten Folgen für die ohnehin schon fragilen globalen Lieferketten. Da Washington die EU verpflichten wird, diese Maßnahmen zu kopieren, tut sich ein weiterer wirtschaftlicher Abgrund für die europäischen Volkswirtschaften auf. Eine aussagekräftige Kennziffer sei zwecks Illustration genannt: Der deutsche Autokonzern VW verzeichnet 60 Prozent seiner Umsätze in China.
Die USA sind sehr interessiert, die wirtschaftlichen Verbindungen zu China gewissermaßen rückabzuwickeln. Das englische Schlagwort hierfür lautet "decoupling". Und genau daran soll sich auch Deutschland halten. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz seine Chinareise, die er, wie alle Kanzler vor ihm, als Autokanzler und Handelsreisender unternimmt, mit den US-Forderungen in Einklang bringen kann, ist abzuwarten. Einige Tage vor ihm im November wird der französische Präsident Emmanuel Macron dieselbe Route nehmen.
Weder Deutschland noch Frankreich beziehungsweise die EU in ihrer Gesamtheit werden weitere China-Sanktionen der USA mittragen können, auch wenn das Europäische Parlament sich bereits dafür engagiert. Die Globalisierung der letzten 30 Jahre, von denen besonders Deutschland profitierte, baute auf dem Absatzmarkt China und billiger russischer Energie auf. Beides bricht in diesen Tagen weg. Am 5. Dezember tritt das von der EU sich selbst auferlegte Erdölembargo offiziell in Kraft.
In Peking könnte es Scholz und Macron ähnlich ergehen wie dem Gesandten des englischen Königs, George III., in der zuvor beschriebenen diplomatischen Episode. Für China unter Xi endet auch jene anormale Geschichtsepoche, die mit den Opiumkriegen der Europäer vor rund 170 Jahren begann und zur territorialen Fragmentierung des Landes führte. Die Ansagen von Xi letzte Woche waren sehr klar.
Mehr zum Thema - Vom Regime-Change zur Zerstückelung der Länder: NATO zielt auf Chinas Neue Seidenstraße