Von Sergei Aksjonow
Ukrainische Massenmedien zu konsumieren ist eine schlechte Angewohnheit, doch manchmal unumgänglich. Heute hieß es gleich am Morgen, im gesamten Land sei Luftalarm. Hat man die Wiederholung des gestrigen Angriffs erwartet? Gut so! Die Erwartung wurde nicht enttäuscht. General Surowikin beherrscht sein Handwerk und das veränderte Herangehen an die Durchführung der militärischen Spezialoperation ist nicht zu übersehen.
Was sich dagegen nicht änderte, sind die Reaktionen auf die neue russische Gangart in Kiew. Jaulen und Winseln in Richtung des Herrchens im Westen, wie eh und je, das unterwürfige und zugleich fordernde Betteln um Schutz vom Patronen. Noch sei es Nacht in Amerika, erklärte Selenskijs Berater, als die Raketen in Kiew einschlugen, wenn es aber Morgen werde und die US-Beamten aufwachen, werden sie drastische Maßnahmen gegen Russland ergreifen.
Es dauerte länger, als erwartet – bis zum Abend. Irgendwann wurde Joe Biden geweckt und auf der Webseite des Weißen Hauses erschien eine Erklärung, in der die russischen Raketenschläge verurteilt und die Bereitschaft bekundet wurde, der Ukraine "so viel wie nötig" zu helfen. Das Sahnehäubchen des Statements: eine Beileidsbekundung für die "sinnlos" Verstorbenen und Genesungswünsche für die Verwundeten. Die Vereinigten Staaten selbst, das wissen wir, ziehen es vor, "sinnvoll" zu töten. Unterdessen offenbaren die elf Toten bei fast hundert Raketenschlägen die nahezu chirurgische Präzision der russischen Flugkörper. Den Generälen im Pentagon, die keinen Grund haben, Grimassen zu schneiden, wird gerade dieser Aspekt des Beschusses der letzten Tage nicht entgangen sein.
Kiew nutzte die Gelegenheit und war sofort zur Stelle, Washington erneut um ATACMS-Langstreckenraketen für die berüchtigten HIMARS zu bitten. Die Möglichkeit, russische Städte aus einer Distanz von 300 Kilometern zu beschießen, ist seit Langem ein inniger Traum des politischen Ukrainismus (der Traum könnte auch einfacher formuliert werden: "Russen töten"), doch die Vereinigten Staaten, die bestens wissen, mit wem sie es zu tun haben, zögern noch. Immerhin treffen die russischen "Kaliber" und "Sarmat" immer das bestimmte Ziel. Man kommt nicht umhin, sich für die Ukrainer zu schämen: Einst, zu sowjetischen Zeiten, war die Ukraine Weltmeister im Raketenbau, nun muss sie bei Amerikanern um Flugkörper betteln. Ukrainisch sind heute nur noch bestickte Trachtenhemden, der Raketenbau ist futsch.
Jetzt ist der ukrainische Energiesektor, einst mit großer Hingabe von der höher entwickelten sowjetischen Zivilisation aufgebaut, an der Reihe, dem ukrainischen Raketenbau ins Nirwana zu folgen. Wie sich zeigte, waren die wichtigsten Heizkraftwerke des Landes sowie Umspannwerke der Kategorie bis 330 Kilovolt Ziel der russischen Angriffe. Die größeren 750 Kilovolt-Anlagen, die regionalen Elektrizitätswerke und die Kernkraftwerke wurden vorerst verschont. Noch war ein beschränkter Schaden am ukrainischen Energiesystem bezweckt. Nicht, weil man nicht kann, sondern weil man es jetzt noch nicht wollte. Die Möglichkeit, das Energiesystem der Ukraine vollständig zu vernichten, hat Russland. Die Amerikaner berücksichtigen diese Tatsache wahrscheinlich, wenn sie mit Kiew über "Vergeltungsmaßnahmen" sprechen. Es wäre für Washington ein Leichtes, der Ukraine das erträumte tödliche Spielzeug zu liefern, was aber, wenn man den Beschenkten später außer mit Waffen auch noch mit Wärme und Strom versorgen muss?
Die Tatsache, dass der Zusammenbruch der ukrainischen Energieversorgung unmittelbar bevorsteht, hat man in Europa bereits erkannt. Schließlich konnte das Land nicht einmal begrenzte Schäden an seinem Energiesystem verkraften, und stellte seine Stromlieferungen in die EU umgehend ein. In der EU war man verstimmt, doch alles, was man tun konnte, waren die altbekannten routinemäßigen Verurteilungen Moskaus. Und zwar "auf das Schärfste", so die Äußerung von Josep Borrell, dem Chef der europäischen Diplomatie. Seine Eskapaden über die "barbarische Bombardierung von Zivilisten" sollten aber in erster Linie an die Koalition der NATO-Länder gerichtet werden, die Jugoslawien bombardiert haben. Wo denn sonst, wenn nicht in Brüssel, sollte man sich dessen erinnern? Übrigens, Pharisäismus liegt in ihrem Wesen.
Die NATO selbst konnte sich Kommentare natürlich nicht verkneifen. Der glücklose Bewerber für den Vorstand der norwegischen Zentralbank, Jens Stoltenberg (er wurde gebeten, gefälligst im Hauptquartier der NATO zu bleiben und von dort den Krieg gegen Russland weiterzuführen) hat mit Kiew telefoniert und Unterstützung versprochen. Dazu soll es bald ein Treffen der NATO-Verteidigungsminister auf dem Militärstützpunkt Ramstein geben, wo sie entscheiden werden, wie sie das Morden der Russen organisieren. Nun, wir kennen seit Jahrhunderten nichts anderes von diesem Publikum, doch konnten wir bislang in jeder Epoche unsere Interessen behaupten – immer erfolgreich, wenn auch nicht ohne Opfer. Auch dieses Mal werden wir uns behaupten, den Lügen unserer Gegner zum Trotz.
Erwartungsgemäß haben diese mit den Gefühlen von Mannequins ausgestatteten Menschen den Anlass des russischen Raketenanschlags übersehen – den Terroranschlag auf der Krim-Brücke. Völlig gleichgültig erschöpften sich ihre Reaktionen auf den ukrainischen Terror in herablassenden Bemerkungen, man wisse ja nicht, was in der Nähe der Halbinsel wirklich geschehen sei, und deshalb lohne es sich nicht, darüber zu sprechen. Bei allem, was die Ukraine anrichtet, schaut Europa angestrengt weg und tut so, als wisse es von nichts, ob es sich um die zahlreichen Angriffe auf das Kernkraftwerk in Saporoschje, auf die Antonow-Brücke in Cherson, auf die Erdöldepots in den russischen Grenzregionen, terroristische Morde an Darja Dugina und Dutzenden von Menschen in den russisch kontrollierten Gebieten handelte. Die seit acht Jahren andauernden systematischen Tötungen von Zivilisten in Donezk und Lugansk leugnet Europa wie auch die Existenz der "Allee der Engel", der letzten Ruhestätte von Dutzenden durch die Ukraine getöteten Kindern des Donbass.
Als wäre das alles nicht genug, scheint der Westen nun die Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarländer der Ukraine vorzubereiten. Nicht ohne Grund greifen ukrainische Banden die Grenzsoldaten in Weißrussland an. Nicht mehr lange und wir erleben noch einen terroristischen Feldzug der Bandera-Jünger tief in das Territorium unseres Nachbarn, ganz im Stil der islamistischen Terroristen Bassajew und Radujew.
Diesem Lagebild entsprechen auch die Pläne von Warschau, seine Armee zu verdoppeln. Gibt es Pläne, auch das NATO-Land Polen und die baltischen Staaten in den Ukraine-Konflikt hineinzuziehen? Moskau und Minsk sind dabei, sich auf neue Herausforderungen vorzubereiten: In Weißrussland wird derzeit eine gemeinsame militärische Gruppe zusammengestellt, die in der Lage ist, den übermäßig rotzfrechen Nachbarn Widerstand zu leisten. "Väterchen" Lukaschenko kann man nicht so leicht auf der Nase herumtanzen.
All dessen ist man sich im Westen bewusst und zieht es deshalb vor, eher mit Worten denn mit Taten zu reagieren. Und mit Sanktionen. Weil aber alle möglichen Restriktionen bereits ergriffen worden sind, ist es schwierig, neue zu erfinden. Das Resultat: Vor wenigen Tagen setzte der ukrainische Sicherheitsdienst (offenbar ein Tipp westlicher Berater, die in aller Eile eine Antwort auf die Raketenanschläge suchten) eine ganze Reihe hochrangiger russischer Beamter und Militärs auf seine Fahndungsliste. Tja, jetzt hat Moskau wohl keine andere Wahl, als zu siegen.
Übersetzt aus dem Russischen
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