Von Dagmar Henn
Man kann es eigentlich nicht mehr verleugnen, die westliche (insbesondere die deutsche) Sicht auf Russen ist zutiefst rassistisch. Es ist überhaupt kein Problem, wenn jemand wie Florence Gaub im deutschen Fernsehen erklärt, Russen seien im Grunde keine Europäer; die Berichterstattung überschlägt sich geradezu mit Stereotypen, die, bezogen auf andere ethnische Gruppen, längst geahndet worden wäre.
Andrei Raewsky vom Saker hat im Januar dieses Jahres von der "Großen Westlichen Mauer" geschrieben, die im westlichen Denken errichtet worden sei, und viele typische Beispiele gebracht. Eines davon: "Russen sind rassisch und kulturell minderwertig. Ja, sicher, sie sind überwiegend weiß, aber sie benehmen sich wie Mongolen (für den Durchschnittswestler, der nichts über das Mongolenreich weiß, etwas wirklich Schreckliches, das gilt selbst bis in britische Ministerien!!!). Sie überschwemmen ihre Hirne mit Wodka, oder sie planen irgendwelche listigen und blutigen Angriffe gegen die friedliebenden und edlen Menschen des Westens. Der Begriff, den ich ihnen vorschlagen würde, ist – Russen sind Schneenigger."
Ist das übertrieben? Die westliche Sicht auf Russen mit der auf versklavte Afrikaner gleichzusetzen? Nicht wirklich. Der Ursprung ist sehr ähnlich. Allerdings geht der Rassismus gegen Slawen weiter zurück als jener gegen Afrikaner. Vor der europäischen Eroberung Lateinamerikas und der Kontroverse von Valladolid, die die Versklavung der Indigenen beendete und damit ein Arbeitskräfteproblem auslöste, das dann durch die Versklavung von Afrikanern gelöst wurde, gab es keine abwertende Sicht auf Schwarze in Europa.
Erst, als man sie zu Hunderttausenden zur Handelsware machte, entstand die Idee, die Menschen, die man einfangen und verkaufen könne, müssten letztlich selbst schuld daran sein, folglich irgendwie minderwertig. Jede Art von Herrschaft erzeugt ihre Rechtfertigung, je gewaltsamer die Herrschaft, desto tiefer greift diese Rechtfertigung ein, und Sklaverei ist die gewaltsamste Form der Aneignung fremder Arbeit, die die Menschheit kennt.
Aber die Haltungen, die aus diesem sehr konkreten Machtverhältnis entspringen, verschwinden nicht notwendigerweise dann, wenn das Machtverhältnis nicht mehr, oder zumindest nicht mehr in dieser Form, existiert. Ich habe das in Brasilien erlebt, vor mittlerweile über dreißig Jahren (inzwischen könnte sich das etwas geändert haben). Das Ende der Sklaverei lag gerade hundert Jahre zurück. Und in Salvador da Bahia, einer Stadt mit über 80 Prozent schwarzer Bevölkerung, in vielen kulturellen Details eigentlich eine Art Fortsetzung von Lagos oder Ibadan auf der anderen Seite des Atlantik, definierten sich die Schwarzen nach wie vor nach Begriffen, die einmal Handelsbezeichnungen waren – je hellhäutiger, je europäischer ein Sklave aussah, desto höher war sein Preis.
Es gab also Mulatos (dunkle Haut, krause Haare), Morenos (dunkle Haut, glatte Haare), Sararas (helle Haut, afrikanische Züge) etc., und sowohl die Beschreibungen anderer als auch die Weise, wie sich eine Person selbst sah, richtete sich nach diesen Kategorien aus. In der Arbeitswelt war es immer noch ein Kriterium – ein Bewerber mit glattem Haar hatte deutlich bessere Aussichten, einen Job in einer Bank zu bekommen, und sei es als Wachmann, als einer mit krausen Haaren. Tatsächlich wirkten solche Begriffe bis in die Familien; wie es mit der Genetik nun einmal ist, können Geschwister von Eltern, die selbst das Ergebnis einer vielfachen Mischung zwischen schwarz, weiß und indianisch sind, ganz unterschiedlich aussehen, und wurden oft auch unterschiedlich behandelt.
Damals gab es ein Gerichtsverfahren in Rio de Janeiro, weil eine schwarze Anwältin, die einen Mandanten besuchen wollte, auf den Dienstbotenaufzug verwiesen worden war. Das klingt nach den Südstaaten der USA, und ein wenig war es auch so, nur gegenüber einer weit größeren schwarzen Bevölkerung, nämlich der Mehrheit der inzwischen 200 Millionen Brasilianer.
Hundert Jahre, darauf will ich damit hinaus, sind kein Zeitraum, in dem solche Einstellungen von alleine verschwinden; nicht, wenn es noch irgendeine soziale und ökonomische Tatsache gibt, an der sie verankert werden können.
Historisches Gedächtnis auf der Ebene von Erzählungen ist, nebenbei, weit langlebiger, als man gemeinhin annimmt. Da muss man nicht einmal auf die weitverbreiteten Geschichten von Zwergen zurückgreifen, die, wie man mittlerweile weiß, auf Begegnungen mit sehr kleinwüchsigen Menschen beruhen, die es tatsächlich an verschiedenen Orten gegeben hat. Der Oger, der Menschenfresser in italienischen Märchen, ist eigentlich eine vage und verzerrte Erinnerung an die Ungarn, die im zehnten Jahrhundert in Italien einfielen.
Das Verhältnis zu den Slawen ist sogar in die deutsche Sprache eingeprägt (in die englische übrigens auch). Das lateinische Wort für Sklave war "servus"; es wurde ab dem zehnten Jahrhundert durch "sklavus" verdrängt, was wiederum Slawe bedeutete.
Über einen Zeitraum von mindestens fünfhundert Jahren war das Verhältnis zu den slawischen östlichen Nachbarn von Sklavenhandel und Eroberungen bestimmt; weit überwiegend in West-Ost-Richtung. Ähnlich verhielt es sich mit dem Reich von Byzanz, das ebenfalls Abnehmer und Händler menschlicher Ware war; hier fanden die Raubzüge von Süden nach Norden statt. Natürlich ist das eine verwickelte Geschichte, und Schuldzuweisungen für Ereignisse, die tausend Jahre und mehr zurückliegen (zu Zeiten Karls des Großen gab es in Passau einen regen bairischen Sklavenhandel, dessen Ware bis nach Spanien ging), wären mehr als lächerlich; aber der Zeitraum, in dem das Verhältnis ein eindeutiges Gefälle besaß, war auch historisch sehr lang.
Dabei waren die ersten Opfer der Sklavenjagden vermutlich die Elbslawen, also die Bewohner der Gebiete hinter der Elbe. Etwa um das Jahr 1000 herum entwickelte sich, vermutlich auch als Folge der Konkurrenz mit dem Islam, die rechtliche Vorgabe, keine Angehörigen der eigenen Religion zu versklaven, und es wird nicht überraschen, dass die großen Konversionen von örtlichen Herrschern, sei es in Polen oder in Russland, in diesem Zeitraum liegen – das war die Möglichkeit, das eigene Gebiet und die eigenen Untertanen vor der Sklaverei zu bewahren. Dementsprechend erfolgte die Christianisierung in Polen aus Deutschland, also unter der Ägide des Bischofs von Rom, und in Russland unter der des Bischofs von Byzanz; in beiden Fällen also als Schutz vor dem gefährlicheren Gegner.
Welches Ausmaß Sklaverei im Mittelalter hatte, lässt sich nur schwer sagen. Die Zahl der Sklaven dürfte in Westeuropa jedenfalls deutlich geringer gewesen sein als die Zahl der Leibeigenen. Doch es gab sie, und ihre Herkunft dürfte weit überwiegend slawisch gewesen sein, da sonst die Bezeichnung für die Völker nicht den lateinischen Begriff ersetzt hätte.
Zusätzlich gab es noch die Eroberungszüge des Deutschritterordens, denen zwar in der Schlacht am Peipussee eine östliche Grenze gesetzt wurde, die aber dennoch auf dem ganzen Gebiet bis dorthin Macht ausübten, und die Expansion der Hanse. Es muss nicht verwundern, wenn das eine Einstellung hinterlässt, die in etwa jener der europäischen US-Amerikaner den Ureinwohnern gegenüber entspricht.
Dabei findet sich dann eine geografische Entsprechung der brasilianischen Begriffe – je näher ein slawisches Volk am vermeintlichen Mittelpunkt der Zivilisation liegt (und da enthielt der Begriff des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" mindestens so viel Hochmut wie der US-Ekzeptionalismus heute), desto eher wird ihm Gleichwertigkeit zugestanden. Tschechen sind also besser als Polen, die wiederum besser sind als Russen ...
Und dann gibt es noch die Kehrseite solcher konstruierter Überlegenheiten. Der brasilianische Schriftsteller João Ubaldo Ribeiro widmet in seinem Roman "Brasilien, Brasilien" das ganze erste Kapitel der Angst des Sklavenhalters vor den Sklaven. Er fürchtet sich davor, von seiner Köchin vergiftet oder von seiner Mätresse im Schlaf erwürgt zu werden. So funktioniert die menschliche Psyche; wer zum eigenen Nutzen Macht über andere ausübt, fürchtet Rache, und weil diese Rache nur aus dem Verborgenen möglich ist (da er selbst ja die offene Macht besitzt), muss das gefürchtete Gegenüber hinterlistig und verschlagen sein.
Mit anderen Worten, wenn einer ganzen Volksgruppe solche Eigenschaften zugeschrieben werden, ist das die Rückseite eines historischen Machtverhältnisses. Wobei die Eigenschaften, die man in Deutschland den Polen zuweist, eher denen entsprechen, die gegenüber häuslichem Dienstpersonal üblich waren, bei dem man Diebstahl oder Trägheit erwartete, während die Eigenschaften, die den Russen zugewiesen werden, tatsächlich dem Muster der Sklaverei entsprechen. Gaub hat mit ihrer Aussage, die Russen seien keine Europäer, weil sie ein anderes Verhältnis zum Tod hätten, ein Motiv aufgegriffen, das von den europäischen Besitzern schwarzer Sklaven gern als Rechtfertigung brutalster körperlicher Strafen vorgebracht wurde: die Schwarzen seien eben von Natur aus weniger schmerzempfindlich, deshalb müsse man härter zupacken ...
Es ist natürlich schwer zu beantworten, wie lange sich solche Denkstrukturen halten; aber sofern keine konkrete Erfahrung stattfindet, die die Verhältnisse umkehrt, sind sie sehr langlebig. Mir schoss beim Nachdenken über diese Fragen durch den Kopf, ob nicht die Erzählungen von Elfen im keltischen Raum ein fernes Echo römischer Sklaverei sind, mit dem Motiv der Entführung, dem reichen Hof, der Rückkehr erst nach langer Zeit ... das, was von den Erfahrungen übrig bleibt, die vielleicht einige keltische Sklaven zurückbrachten, denen es gelungen war, sich freizukaufen, wenn ihre Geschichten einige Jahrhunderte lang erzählt und verändert wurden.
Das, was vom historischen Verhältnis zu den slawischen Völkern übrig geblieben war, wurde jedenfalls in Deutschland wie in Österreich im vergangenen Jahrhundert gleich zwei Mal aufgegriffen und erneuert, in jedem der beiden Weltkriege. Und wenn man sich die Frage stellt, warum die Propaganda, die beispielsweise gegen Frankreich und die Franzosen zwischen 1871 und 1918 durchaus massiv war, relativ schnell "abgebaut" wurde und es heute schwer wäre, eine Geschichte vom französischen Erbfeind zu erzählen, es aber überhaupt kein Problem war, die Propaganda gegen die Russen auf alte Höhen zu bringen, kommt man an dieser alten Historie nicht vorbei. Natürlich spielt es eine Rolle, dass die Phase zwischen dem Ende des alten Kalten Krieges und dem Beginn des jetzigen vergleichsweise kurz war, und dass es da diese gewaltige offene Rechnung der Verbrechen der Naziwehrmacht im zweiten Weltkrieg gibt, die, wenn sie in der Bundesrepublik auch nie offen angesprochen wurde, dennoch den gleichen Nachklang erzeugt wie in Ribeiros Roman; eine Angst, die sich dann in einer Projektion böser Absichten niederschlägt.
Aber es ist diese älteste Schicht, diese Verknüpfung Slawe/Sklave, die es besonders leicht macht, bezogen auf Russen Behauptungen zu akzeptieren oder gar zu übernehmen, die in Bezug auf die meisten Völker dieser Erde sofort als rassistisch erkannt würde. Selbst der Generalplan Ost der Nazis war schon der dritte oder vierte Aufguss, nur leider ist das Gebräu auch heute noch nicht weniger toxisch.
Und es sind gerade die eifrigsten Verfechter des "Antirassismus", die sich, als wäre es ein erforderlicher Ausgleich für einen unterdrückten Trieb, im Gebrauch der plattesten Stereotype über "die Russen" geradezu überschlagen und jedes noch so wilde Märchen glauben, das ihnen vorgesetzt wird. Man denke nur an die jüngst recycelte Viagra-Geschichte ... (Und ja, auch da sind wir mittendrin in der Erzählung vom schwarzen Sklaven, dessen höchster Wunschtraum es sein muss, eine weiße Frau zu vergewaltigen, die übrigens wiederum die Umkehrung der Tatsache ist, dass Millionen schwarzer Frauen von ihren weißen Besitzern vergewaltigt wurden; Raewsky liegt durchaus richtig mit seiner Beschreibung.)
Wie eine solche Erzählung verschwindet, kann man daran sehen, dass die Propaganda vom bösen Russen im Osten der Republik nicht halb so gut funktioniert wie im Westen. Und während sich Westpropagandisten wundern, weil sie meinen, die DDR-Bürger müssten doch den Russen gegenüber besonders nachtragend sein – eine Erzählung, die zur Rechtfertigung eines Gewaltverhältnisses entstand und von anderen, ähnlichen Gewaltverhältnissen erhalten wurde, verschwindet am schnellsten, wenn eine konkrete Erfahrung in Gegenrichtung gemacht wird. Anders gesagt, die Erwartung der Rache, die der abgründigste Teil dieses ganzen Komplexes aus Mythos, Furcht, Schuld und Projektion ist, verschwindet dann, wenn das reale Machtverhältnis umgekehrt wird. Weshalb die vielen im Westen lebenden Russen an diesen Vorstellungen weit weniger ändern konnten als die sowjetische Armee in der DDR.
Wenn aus diesem ganzen historischen Giftmüll, der gerade in Deutschland an die Oberfläche schwappt, eine Lektion zu ziehen ist, dann nur die – nur wenn die Verhältnisse zwischen Ländern und Völkern auf Gleichheit beruhen, wird derartiges Denken endgültig verschwinden. Jede Form konstruierter Überlegenheit, und sei es die der "Werte", sorgt nur dafür, dass gelegentlich das Etikett "Untermensch" neu platziert wird, aber niemals, dass es gänzlich verschwindet. Es ist an der Zeit, dass der Westen endlich damit aufhört.
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