Europas Probleme verheißen viele Vorteile für die USA

Während Europa von der Energiekrise hin- und hergerissen ist und sich überlegt, wie es nicht nur diesen, sondern auch die nächsten Winter überleben soll, gibt es jene, die von dieser Situation profitieren. Im Vorteil werden zuerst die USA sein.

Von Olga Samofalowa

Die USA haben dank der Energiekrise in Europa ganz gut "ihre Hände aufgewärmt", wie die türkischen Medien berichten. Nicht nur verdienen sie zig Milliarden mit ihren Energieexporten, die an die Stelle der russischen treten, sondern sie schwächen auch die europäische Wirtschaft in ihren eigenen Interessen erheblich. Im Jahr 2021 exportierten die Vereinigten Staaten eine Rekordmenge an Gas. Die Energiekrise in der EU begann Anfang des Sommers und flammte im Herbst auf, als die Gaspreise auf den Spotmärkten zum ersten Mal in der Geschichte 1.000 Dollar pro 1.000 Kubikmeter erreichten.

Bis zum Jahr 2000 exportierten die Vereinigten Staaten Erdgas in relativ geringen Mengen, hauptsächlich durch Pipelines nach Mexiko und Kanada. Beginnend ab dem Jahr 2000 wuchsen die Exporte allmählich. Und im Jahr 2021 exportierten die USA nach Angaben der U.S. Energy Information Administration eine Rekordmenge an blauem Kraftstoff in 41 Länder.

Die USA bekamen, was sie wollten – einen neuen Absatzmarkt für ihr LNG in Europa. Bereits im Jahr 2021 erreichten die LNG-Exporte aus den USA in die EU mit 22 Mrd. Kubikmetern und einem geschätzten Wert von 12 Mrd. Euro einen historischen Höchststand, teilte die Europäische Kommission Anfang des Jahres mit.

In diesem Jahr haben die USA ihre LNG-Exporte nach Europa drastisch erhöht, unter anderem dank neuer LNG-Verflüssigungsanlagen mit der Inbetriebnahme Ende 2021 - Anfang 2022 sowie durch die Verlagerung von Lieferungen von asiatischen auf europäische Märkte. Schließlich sind die Erdgaspreise in der EU erneut gestiegen, und zwar auf 2.000 Dollar pro tausend Kubikmeter. Die europäischen Preise sind so lukrativ, dass die Händler bewusst Verträge mit asiatischen Abnehmern kündigen, ihnen eine Vertragsstrafe zahlen, um das LNG nach Europa zu liefern. Die Kosten machen sich nicht nur bezahlt, den Händlern bleibt auch noch eine große Marge in der Tasche.

Gemäß Eurostat stiegen allein im ersten Halbjahr 2022 die gesamten LNG-Lieferungen nach Europa von 40,9 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021 auf 63,7 Milliarden im Jahr 2022. Die USA trugen mit fast 58 Prozent am meisten zum Anstieg des Angebots um 22,8 Milliarden Kubikmeter bei. Die LNG-Lieferungen aus den USA nach Europa stiegen allein in der ersten Jahreshälfte von 7 auf 20,2 Milliarden Kubikmeter. Mit anderen Worten: Die USA verkauften im ersten Halbjahr fast so viel LNG nach Europa, wie sie im gesamten letzten Jahr. Bei diesem Tempo könnten die Amerikaner die LNG-Exportmengen bis Ende 2022 verdoppeln – auf bis zu 40 Milliarden Kubikmeter. Der Anteil der USA am europäischen LNG-Markt hat einen Rekordwert von 32 Prozent erreicht.

Die Erträge der US-Händler könnten sich in diesem Jahr vervierfachen, bedenkt man die Verdoppelung nicht nur der LNG-Mengen, sondern auch der Preise. Groben Schätzungen zufolge könnten die USA in diesem Jahr mit LNG-Lieferungen an die EU rund 50 Mrd. Euro verdienen, gegenüber 12 Mrd. Euro im letzten Jahr.

Um ein Gesamtbild zu erhalten: Algerien steht bei den LNG-Lieferungen in die EU an zweiter Stelle, mit 11,8 Mrd. Kubikmetern in den sechs Monaten gegenüber 6,6 Mrd. Kubikmetern ein Jahr zuvor. An dritter Stelle lag Katar, das seine Lieferungen von 7,8 Mrd. Kubikmeter auf 9,6 Mrd. Kubikmeter erhöhte. Russland ist Katar interessanterweise dicht auf den Fersen. Die EU hat den Bezug von russischem LNG nicht reduziert, sondern erhöht – von 7,8 Milliarden auf 9,4 Milliarden Kubikmeter (nur 0,2 Milliarden weniger als aus Katar). An fünfter Stelle der größten LNG-Lieferanten der EU steht Nigeria, das seine Lieferungen von 8,1 Mrd. Kubikmetern auf 7,7 Mrd. Kubikmeter in der ersten Hälfte des Jahres 2022 reduziert hat.

Es ist sehr gut möglich, dass die USA mittelfristig ihre LNG-Exporte in die EU erhöhen werden, sobald zusätzliche LNG-Verflüssigungsterminals in Betrieb gehen. Eine neue Welle von zusätzlichem LNG auf den Markt wird für den Zeitraum 2025 bis 2026 erwartet. Der Großteil dieses LNG wird aus den Vereinigten Staaten kommen, die sich im Vorfeld einen hervorragenden Absatzmarkt gesichert haben, nämlich Europa, das sich selbst mit hohen Erdgaspreisen für die nächsten Jahre abgesichert hat.

Unter Berücksichtigung des Ausschlusses von russischem Erdöl vom europäischen Markt, nach dem Inkrafttreten des Embargos am 5. Dezember dieses Jahres, beabsichtigen die USA, auch ihr Erdöl nach Europa zu verkaufen. Um das russische Öl zu substituieren, werden die USA über 1 Million Barrel pro Tag nach Europa liefern, sagte Russell Hardy, Direktor des Ölhändlers Vitol.

Das ist rund die Hälfte der 2 Millionen Barrel pro Tag, die Russland bisher garantierte. Gleichzeitig hat Russland bereits andere Märkte gefunden und sucht solche weiter. Um sie zu finden, dafür bedarf es keiner großen Anstrengungen, doch es bestehen Schwierigkeiten wegen des Mangels an Tankschiffen für den Transport und wegen der steigenden Frachtkosten.

Für die europäischen Raffinerien stellt der Wechsel vom schweren russischen Öl zum leichten US-Öl allerdings ein großes Problem dar. Die europäischen Raffinerien sind auf russisches Erdöl ausgerichtet, und die Umstellung auf einen anderen Treibstoff könnte enorme Investitionen in die Modernisierung der Raffinerien erfordern. Nicht jeder kann sich diesen Luxus leisten und dies noch unter dem Aspekt des unveränderten Kurses der Europäischen Kommission, sich von den konventionellen Kohlenwasserstoffen abzuwenden. Das heißt nur eines – ein Teil der europäischen Raffinerien wird schließen, und die Europäer werden ihre Einfuhren von fertigen Kraftstoffen, einschließlich Benzin, erheblich steigern müssen. Das bedeutet, dass der europäische Verkehrs-, Logistik- und Agrarsektor anfälliger werden. Und das wiederum dürfte die US-Raffinerien und Landwirte in der Zukunft bevorteilen.

Daraus ergibt sich ein weiterer fetter Vorteil für die USA. Bei sehr teuren Energieressourcen besteht die Gefahr, dass die De-Industrialisierung der europäischen Wirtschaft beginnt. Viele energieintensive Unternehmen in der chemischen Industrie, im Maschinenbau und im Automobilbau schließen bereits oder fahren ihre Produktion zurück, weil es bei diesen Gas- und Strompreisen einfach unrentabel ist, zu operieren. Sollten solche Belastungsproben länger als einen Winter andauern, werden die europäischen Unternehmen langsam in andere Länder abwandern, in denen die Energiekosten weitaus niedriger sind.

"Bei den gegenwärtigen Energiepreisen macht es keinen Sinn, einen Großteil der Produktion in Europa zu belassen, man muss wegziehen. Neben Amerika kommen auch andere Destinationen in Frage, zuallererst China und die Türkei. In dieser Hinsicht hat die Türkei eine Chance, ihre Industrie und Wirtschaft sowie ihre strategische Position in der Region zu stärken. Natürlich werden auch die USA ihren Anteil bekommen", sagt Stanislaw Mitrachowitsch, leitender Forscher an der Finanzuniversität unter der russischen Regierung, ein führender Experte des Nationalen Fonds für Energie-Sicherheit.

Die Vereinigten Staaten konnten günstige Energie für den Binnenmarkt aufrechterhalten, weil sie sowohl Erdöl als auch Erdgas selbst produzieren. Zudem verfügen sie über ihre eigenen Öl- und Gastechnologien. "Die USA fördern das meiste Öl und das meiste Gas in der Welt. Das nutzen sie als ihren Konkurrenzvorteil. Das ist nur gegenüber Russland, dass sie jahrzehntelang vom Fluch des Erdöls und des Erdgases erzählt haben und von der Notwendigkeit, sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Die Amerikaner selbst argumentieren jedoch unverblümt, dass ihre Ressourcen ihr Vorteil sind, dass sie hier und jetzt an ihnen verdienen und mit diesen Ressourcen günstige Bedingungen für ihre eigene Industrie schaffen müssen", erinnert Mitrachowitsch.

Ein weiterer wirtschaftlicher Vorteil der USA ist ihr starker Dollar. Der Dollar-Index befindet sich gegenüber den wichtigsten Währungen der Welt auf einem historischen Höchststand seit den 1980-er Jahren. Der Euro, der japanische Yen und das britische Pfund sind angesichts einer Zinserhöhung durch die US-Notenbank auf mehrjährige Tiefststände gegenüber dem Dollar gefallen. Selbst das britische Pfund wird inzwischen weniger verkauft als der Dollar. Das haben einige Touristen mit Erstaunen festgestellt, obwohl die britische Währung auf dem internationalen Devisenmarkt noch nicht die Parität mit der US-Währung erreicht hat, berichtet Bloomberg.

Die Energiekrise in Europa entwickelt sich zu einem Katalysator für die Rezession sowohl in der EU als auch im Vereinigten Königreich. Infolgedessen ziehen viele Anleger ihr Kapital aus dem Euro und dem britischen Pfund ab und investieren es in den Dollar. Die amerikanische Währung bleibt weiterhin ein sicherer Hafen für Länder und Investoren, um die Krise und die Abwertung der Landeswährung abzuwarten. Dies stärkt den Dollar noch weiter. Die Auswirkungen eines starken Dollars auf die US-Wirtschaft sind widersprüchlich, doch die US-Importeure profitieren definitiv von der aktuellen Situation.

Abgesehen von den offensichtlich wirtschaftlichen Vorteilen, ergeben sich für die Vereinigten Staaten auch strategische Vorteile. "Nach der De-Industrialisierung wird die EU noch stärker von den Amerikanern abhängig werden. Die letzten dreißig Jahre hat Europa versucht, Eigenständigkeit zu erlangen, es gab Versuche, ein energie-industrielles Bündnis mit Russland aufzubauen, was vor allem den politischen Eliten in Italien und Deutschland gefiel. Dies scheiterte jedoch, unter anderem aufgrund der amerikanischen Intrigen. Die Vereinigten Staaten widersetzten sich einer Annäherung zwischen Europa und der UdSSR, aber auch Russland. Sie haben deshalb alles getan, um dies zu verhindern. Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist eines dieser Komplotte, die darauf abzielen, die Beziehungen zwischen Europa und Russland zu zerstören", sagt Mitrachowitsch.

Die Vereinigten Staaten sind gezwungen, Europa und Russland auseinander zu bringen, um beide zu schwächen und von sich selbst abhängig zu machen, was eine grundlegende Aufgabe darstellt. Denn die USA bereiten sich auf einen bevorstehenden Krieg mit China vor, mit einem Zeithorizont von 10 bis 20 Jahren, in dem es um die Weltherrschaft geht, so der Experte.

"Die USA möchten ein Europa, das festgebunden ist, eines, das keine Kooperationen mit China in Industrie und Handel eingeht, sondern nur den Kurs der amerikanischen Industrie verfolgt. Und in Russland sollte natürlich, wie Washington meint, ein pro-amerikanisches Regime herrschen, wie in den 1990-er Jahren unter Jeltsin, und keine Kooperationen und Abkommen mit China", so der Gesprächspartner abschließend.

Er schließt nicht aus, dass die Vereinigten Staaten in Zukunft nach dem Vorbild Russlands mit dem Finger auf Saudi-Arabien, Katar und die Emirate zeigen und erklären, dass dort auch kein besonderes demokratisches Regime existiert. Schließlich ist China dabei, mit seinen Investitionen aktiv am Nahen Osten "teilzunehmen". Den USA dürfte diese Annäherung nicht gefallen, so dass wir mit Konsequenzen rechnen sollten.

Übersetzt aus dem Russischen

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