Teil 1 finden Sie hier.
Von Alexander Männer
Die Sanktionen waren eigentlich als Antwort des kollektiven Westens auf die russische Militärintervention in der Ukraine im vergangenen Februar gedacht, die Russland ökonomisch ruinieren und es zum Rückzug aus seinem Nachbarland zwingen sollten. Hinter dieser Strategie der Wirtschaftssanktionen und der Einschränkung der Handelsbeziehungen zu Russland stehen von Anfang an vor allem die USA, die zu dem Zeitpunkt mit der russischen Wirtschaft selbst kaum verflochten waren, im Gegensatz zu den Ländern der EU.
Für die Amerikaner spielen Öl- oder Gaslieferungen aus Russland insofern kaum eine Rolle, und daher sind die Negativfolgen der besagten Wirtschaftsbeschränkungen für sie recht überschaubar. Anders sieht es zum Beispiel im Falle Deutschlands aus, dessen erfolgreiches Wirtschaftsmodell hauptsächlich auf den billigen Energieträgern aus Russland basiert. Ein Ausbleiben etwa von russischen Gaslieferungen wird für die deutsche Industrie und damit auch für die gesamte EU katastrophale Folgen haben.
In diesem Zusammenhang hatte sich die Situation um die deutsche bzw. europäische Energiesicherheit bereits im Sommer extrem verschlechtert, nachdem der russische Energiekonzern Gazprom aufgrund der gegen ihn verhängten Sanktionen die Gasleitung Nord Stream 1, die damals den Großteil des russischen Gases direkt in die Bundesrepublik brachte, nicht in Betrieb nehmen konnte. Die Folge war, dass diese Gaslieferungen um mehr als 70 Prozent zurückgingen.
Die Lage geriet endgültig außer Kontrolle, nachdem die besagte Gazprom-Pipeline durch einen Anschlag im September schweren Schaden erlitt und für den Gastransport aus Russland wahrscheinlich für einen langen Zeitraum ausfallen wird. Die daraus resultierende Panik bei den deutschen Verbrauchern offenbarte die wahre Bedeutung der russischen Energielieferungen und zeigte auf, was die Sanktionen gegen Russland in Wirklichkeit bewirken (sollen).
Die aktuelle Perspektive der deutschen Wirtschaft sieht folgendermaßen aus: Je länger die Sanktionen dauern – also je länger die billigen russischen Gasimporte ausbleiben –, desto schlimmer wird es. Das hängt in erster Linie davon ab, wann der Krieg in der Ukraine beendet wird und alle Seiten – Deutschland und Russland – ihre Handelsbeziehungen wieder normalisieren.
Dass der Krieg in der Ukraine aber noch lange weitergeführt wird, bewirken vor allem die Vereinigten Staaten. Durch ihre umfangreichen Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte sowie die offenkundige Tatsache, dass Kiews Truppen inzwischen von der NATO ausgebildet und de facto befehligt werden, haben die USA die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kampfhandlungen im Donbass ausgeweitet wurden und vermutlich noch lange anhalten.
Ausgehend davon kann man Washingtons Strategie im Ukraine-Konflikt in Bezug auf Europa wie folgt ableiten: Die Länder der EU, allen voran der europäische ''Wirtschaftsmotor'' Deutschland, sollen zumindest so lange wie möglich daran gehindert werden, preiswertes russisches Gas zu beziehen, sodass ihre Verbraucher gezwungen sind, das Gas auf dem Spotmarkt zu extrem hohen Preisen und von anderen Exporteuren zu kaufen. Und das geht, solange die Russland-Sanktionen in Kraft bleiben.
Darum ist auch die im ersten Teil des Artikels gestellte Frage, ob die USA durch die antirussische Sanktionspolitik in Wirklichkeit auch die Europäer selbst schwächen wollen, eindeutig mit Ja beantwortet werden.
Umdenken in Deutschland und Europa?
Dieser Tatsache werden sich offenbar immer mehr europäische Bürger sowie hochrangige Politiker der EU-Länder bewusst. So änderte zum Beispiel Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der Anfang März noch zu einem ''vollständigen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland'' aufgerufen und Russland mit einem Zusammenbruch dessen Wirtschaft gedroht hatte, seine Rhetorik bezüglich der Sanktionen inzwischen grundlegend.
Ende August hat Le Maire laut der türkischen Zeitung Anadolu davor gewarnt, dass eine vollständige Einstellung der russischen Gasexporte nach Frankreich angesichts der kommenden Wintermonate die Wirtschaft des Landes beeinträchtigen könnte. Anfang Oktober wurde der Minister in Bezug auf die Sanktionen und vor allem die Rolle der USA öffentlich zum ersten Mal deutlich. Wie das Magazin Politico schreibt, hat Le Maire am Montag im französischen Parlament erklärt, dass Europa nicht der amerikanischen "Dominanz" unterworfen werden sollte, weil es gerade zunehmend in die Abhängigkeit vom US-Flüssigerdgas (LNG) gerate. ''Wir dürfen nicht zulassen, dass der Konflikt in der Ukraine zu einer amerikanischen Wirtschaftsdominanz und einer Schwächung Europas führt", so der Politiker.
Mehr noch: Er beschuldigte die USA, die LNG-Preise aufgrund von Energieknappheit in die Höhe getrieben zu haben, und forderte eine "ausgewogenere Wirtschaftsbeziehung in der Energiefrage" zwischen den Amerikanern und Europäern: "Wir können nicht akzeptieren, dass unser amerikanischer Partner sein LNG zum Vierfachen des Preises verkauft, zu dem er es an seine eigenen Unternehmen verkauft", sagte Le Maire.
Auch immer mehr Bundesbürger stellen sowohl die Sanktionen als auch die Notwendigkeit der Weiterführung des Ukraine-Krieges infrage. Ihre Kritik offen auszusprechen trauten sich bislang allerdings nur wenige. Einer davon ist der deutsche Wirtschaftsprofessor Christian Kreiß von der Hochschule Aalen, der die Rolle der USA in dem Konflikt um die Ukraine sehr kritisch sieht.
In einem bereits im September für das Portal Deutsche Wirtschaftsnachrichten veröffentlichten Gastartikel vertritt er die Meinung, die Vereinigten Staaten seien wegen ihrer eigenen ökonomischen Vorteile daran interessiert, die Situation in der Ukraine zu verschärfen und die Kampfhandlungen auszuweiten. Dadurch wollten die Amerikaner das industrielle Potenzial Europas schwächen, um ihre internen Probleme lösen zu können. Dazu zählten etwa die Krise der Überproduktion und die enormen Staatsschulden.
Für Kreiß bedeuten die wachsenden Probleme der europäischen Industrie vor allem den Vorteil für die US-Wirtschaft. In Washington wolle man deshalb auch die Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland verhindern, da dies die deutsche Wirtschaft hart treffen könnte. Die Prognosen würden von Tag zu Tag düsterer: Das Land sei von Verarmung und Deindustrialisierung bedroht, kleine und mittlere Unternehmen könnten am meisten von den Folgen der Krise betroffen sein, betont er.
Damit zeigt der Professor auf einen wunden Punkt, den sich die Europäer langsam eingestehen sollten: Während Russland auch ohne einen europäischen Markt – das haben die Sanktionen nämlich bewiesen – wirtschaftlich bislang durchaus funktionieren kann, ist Europa ohne die russischen Ressourcen aufgeschmissen. Ohne die russischen Gas- und Öllieferungen kann der riesige Industriekomplex Deutschlands nicht mehr so funktionieren wie bisher und müsste darum stark eingeschränkt werden. Zudem ist das Erdgas für die Beheizung der Haushalte unerlässlich.
Ganz egal, wie man nun zu Russland, seiner Führung oder dem Sanktionskrieg als solchen steht – wenn das eigene Gemeinwohl dermaßen gefährdet wird, wie es gegenwärtig der Fall ist, der Gegner zudem nicht entscheidend geschwächt wird und man im Grunde mehr verliert als gewinnt, dann kann die gewählte Strategie nicht richtig sein. Wobei mittlerweile auch viel dafür spricht, dass die Sanktionen von Anfang an gar nicht dazu imstande waren, die Russen in den Ruin zu treiben und sie zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen.
Aus diesem Grund muss ein Umdenken stattfinden, damit die Energiekrise überwunden werden kann und die Inflation nicht noch mehr deutsche Unternehmen dezimiert. Andernfalls wird sich die Lage in Europa nur noch weiter verschlechtern.
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