Von Pierre Lévy
Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen haben sich in den letzten Wochen weiter verschärft. Am 8. Oktober wurde die Kertsch-Brücke, die die Halbinsel Krim mit dem russischen Festland verbindet, beschädigt – laut Moskau durch einen Sabotageakt. Kiew bekannte sich zwar nicht offen dazu, freute sich aber auffällig darüber.
Am übernächsten Tag wurden im Gegenzug zahlreiche Infrastruktureinrichtungen in der gesamten Ukraine bombardiert. Der Präsident des Landes wandte sich daraufhin an die G7 und forderte dringend weitere Waffen und ein "Luftschild"-System, um derartige Offensiven zu verhindern. Mehrere Mächte, darunter die USA, aber auch Deutschland, haben angekündigt, bestimmte Ausrüstungsgegenstände dieser Art liefern zu wollen. Auch Frankreich und Italien wurden um Hilfe gebeten. Gleichzeitig hat Paris angekündigt, seine Militärpräsenz in Rumänien, Estland und Litauen zu verstärken.
Der NATO-Generalsekretär, der sich nicht darum bemühte, die Wogen zu glätten, erklärte am 11. Oktober, dass "Hybrid- und Cyberangriffe wahrscheinlich Artikel 5" des Atlantikvertrags auslösen würden, der alle Länder des Bündnisses mobilisiert, wenn eines von ihnen angegriffen wird. Jens Stoltenberg wies implizit auf die Sabotage der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 hin, eine Operation, die seltsamerweise den Russen zugeschrieben wurde (obwohl diese zuvor beschuldigt worden waren, Gas und insbesondere diese Pipelines zu instrumentalisieren, um den Westen zu schwächen).
All dies mag im Nachhinein die Forderung des ukrainischen Präsidenten vom 30. September erhellen: An diesem Tag beantragte Wladimir Selenskij offiziell den NATO-Beitritt seines Landes in einem beschleunigten Verfahren. Der Staatschef machte kein Geheimnis daraus, dass dies seine politische Antwort auf die Entscheidung Moskaus war, das nur wenige Stunden zuvor den Anschluss von vier Regionen – Donezk, Lugansk, Cherson und Saporischja – an die Russische Föderation verkündet hatte.
Formal wäre die Russische Föderation also berechtigt, jede ukrainische Militäroperation in diesen Gebieten als Angriff auf ihren eigenen Boden zu betrachten. Für Kiew war es daher verlockend, ein symmetrisches Argument vorzubringen: Jeder Kampf russischer Truppen auf ukrainischem Territorium würde ipso facto zu einem Angriff auf das Atlantische Bündnis werden – mit der Verpflichtung des Bündnisses, direkt darauf zu reagieren. Und damit den Westen militärisch in einen offenen Krieg mit Russland hineinzuziehen. Zwar ist dieser bereits weitgehend in die massive Lieferung von Waffen, Material, Ausbildung und Geheimdienstinformationen – und sogar inoffiziellen Söldnern – involviert. Doch bislang legten die NATO und ihre Mitgliedsländer mit großer Heuchelei Wert auf die Behauptung, sie seien nicht selbst Kriegsparteien. Die Bitte des ukrainischen Staatschefs wäre daher ein weiterer Schritt in Richtung eines Katastrophenszenarios, das zu einem allgemeinen Flächenbrand führen könnte.
Bereits am 2. Oktober gaben neun NATO-Mitglieder bekannt, dass sie Kiews Antrag "nachdrücklich unterstützen" würden. Wenig überraschend handelte es sich dabei hauptsächlich um mitteleuropäische Länder (Polen, Slowakei, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Montenegro und Nordmazedonien), von denen die meisten für ihre ultraatlantischen Positionen bekannt sind.
Ungarn, das von Viktor Orbán geführt wird, der im April dieses Jahres insbesondere auf einer pazifistischen Linie triumphal wiedergewählt wurde, hat sich nicht an dieser Unterstützung beteiligt. Ebenso wenig wie Bulgarien, dessen Präsident, der oft als "pro-russisch" bezeichnet wird, seine Ablehnung gegenüber dieser Flucht nach vorn zum Ausdruck brachte (dieses Land wählte am 2. Oktober und das Lager der Wähler, die sich Russland nahe fühlen, ist stärker geworden).
Weder Paris noch Berlin brachten ihrerseits Empathie für den Beitrittsantrag zum Ausdruck. Obschon die deutsche und die französische Diplomatie sehr engagiert in der politischen und militärischen Unterstützung Kiews sind, wollen sie sich nicht in eine Spirale begeben, die schnell unkontrollierbar werden könnte.
Beide Länder hatten bereits auf dem Gipfeltreffen der Allianz in Bukarest im April 2008 darum gekämpft, den Eifer Washingtons, das einen schnellen Beitritt der Ukraine unterstützte, zu dämpfen. In den Schlussfolgerungen wurde zwar schließlich keine Frist festgelegt, aber das Prinzip des Beitritts bekräftigt – ein Anspruch, der Moskau nicht entgangen war. Russland hat sich also davon überzeugt, dass das atlantische Lager – keine Grenzen kannte, besonders Richtung Ost.
In den letzten vierzehn Jahren hat sich die Situation natürlich erheblich verändert. Bedeutet dies, dass Kiew in Kürze formell dem Atlantischen Bündnis beitreten könnte? Das scheint kaum möglich zu sein. Erstens, weil die Verträge des Bündnisses kein "beschleunigtes" Verfahren vorsehen, da verschiedene Bedingungen erfüllt werden müssen. Zweitens verbieten die Verträge grundsätzlich, dass ein Land, dessen Grenzen oder Teile seines Territoriums umstritten sind, der Organisation beitreten kann.
Und schließlich muss ein Beitrittsgesuch von allen Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden, eine Bedingung, die bislang bei weitem nicht erfüllt ist. Ist die von Selenskij aufgestellte Forderung deshalb ein bedeutungsloser Schlag ins Wasser?
Eigentlich ist der Wechsel der Ukraine ins westliche Lager ein altes Thema, das die Geostrategen seit dem Zerfall der UdSSR 1991 beschäftigt. Vor allem die Europäische Union hat sehr schnell eine Vielzahl von NGOs subventioniert, unterstützt und gefördert, die eine "Zivilgesellschaft" schaffen sollten, die sich dem Westen und seinen proklamierten Werten zuwendet.
Die Frage war bereits während der "Orangenen Revolution" von 2004 vorhanden. Sie wurde dann beim Maidan-Aufstand 2013-2014 offensichtlich, der zum gewaltsamen Sturz des 2010 (in einem von niemandem angezweifelten Wahlgang) gewählten Präsidenten, des als "pro-russisch" geltenden Viktor Janukowitsch, führte.
Damals hatte die Forderung Brüssels, ein "Assoziierungsabkommen" mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, um die Ukraine an den Westen "anzubinden", und die Weigerung des Staatsoberhauptes, dies zu tun, das Feuer entfacht und die Auseinandersetzungen zwischen "pro EU" und "pro russisch" ausgelöst. Die Unterstützung für eine Annäherung an die NATO stieß in weiten Teilen des Volkes, vor allem in der Osthälfte des Landes, auf Ablehnung.
Seit 2014 haben die aufeinanderfolgenden ukrainischen Führer jedoch nie aufgegeben, das Land in die "euro-atlantische Familie" zu integrieren. Dies ging so weit, dass die NATO-Perspektive in der Verfassung verankert wurde. Anfang März dieses Jahres hatte Wladimir Selenskij diese Forderung jedoch aus taktischen Gründen vertagt, insbesondere, um Paris und Berlin zu versöhnen. Im Gegenzug für die gewährte Flexibilität wurde ihm im Juni letzten Jahres der offizielle Status eines EU-Kandidaten verliehen. Nun hat er bei der NATO nachgehakt.
In Wirklichkeit sind die beiden Organisationen, deren Wurzeln bis in den Kalten Krieg zurückreichen, Zwillingsschwestern. Sie sind Teil der Blocklogik und spiegeln den imperialen Appetit des Westens wider, der sich manchmal in die proklamierten "Werte" kleidet und manchmal mit Brutalität durchgesetzt wird.
Für den Westen war der Zusammenbruch der UdSSR ein historischer Glücksfall. Aber dieser ebnete den Weg für Konflikte, die zu Sowjetzeiten undenkbar gewesen wären – eine Tatsache, die auch für die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan oder Kirgisistan und Tadschikistan gilt, Republiken, die einst alle Teil eines einzigen Landes waren.
Da dieser Zusammenbruch eine Realität geworden ist, wäre die einzige friedliche und vorteilhafte Perspektive für die Ukraine, ein blockfreier und militärisch neutraler Staat zu werden. Der Appetit des Westens entschied anders.
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