Von Bernd Murawski
Der Anschlag auf die Krim-Brücke hat in Russland heftige Reaktionen ausgelöst. Wie der Gouverneur der Krim Sergei Aksjonow gegenüber einem Journalisten äußerte, besteht ein gesunder Wunsch, Rache zu nehmen. Jedoch dürfte sich die russische Führung kaum von Gefühlen leiten lassen. Da sie die Stimmung im Land nicht völlig ignorieren kann, hat sie gestern mit Raketenangriffen auf zentrale Einrichtungen in mehreren ukrainischen Großstädten geantwortet. Die Militärschläge der russischen Armee dürften dennoch begrenzt sein und dem Zweck einer Warnung dienen.
Unterdessen scheint sich eine Eskalation anzubahnen, wenn die Forderung russischer Medien und Politiker erfüllt wird, die "militärische Spezialoperation" auf die Ebene einer "Anti-Terror-Operation" zu heben. Die jüngsten Angriffe auf die Nord-Stream-Pipeline und jetzt auf die Krim-Brücke dürften einen solchen Schritt rechtfertigen. Als Terrorakte lassen sich ebenso der Beschuss des Kernkraftwerks Saporoschje und die täglichen Raketenangriffe auf zivile Objekte im Donbass und in den Oblasten Cherson und Saporoschje charakterisieren. Welche Optionen würde nun ein erweitertes Operationskonzept bieten, und welchen Beschränkungen sollte es unterworfen werden?
Zivilobjekte als russische Angriffsziele
Der Handlungsspielraum der russischen Armee würde sich erheblich vergrößern, was das Kampfgeschehen zu ihren Gunsten wenden dürfte. Doch nicht nur das gegnerische Militär würde in eine schwierigere Lage geraten, sondern auch die Bevölkerung der Ukraine wäre betroffen. Während die meisten Bürger bisher allenfalls durch die Einberufung zum Militärdienst und durch die Folgen des wirtschaftlichen Einbruchs unter dem Krieg gelitten haben, müssten sie künftig mit Attacken bis vor die eigene Haustür rechnen.
Der Verzicht Moskaus auf militärische Schläge gegen zivile Einrichtungen gemäß der derzeit gültigen Doktrin würde nämlich enden. Alle Objekte, die in irgendeiner Weise für terroristische Akte gegen Russlands Zivilbevölkerung genutzt werden, würden fortan zu Zielen der russischen Artillerie werden.
Doch bereits der Transport von Militärgütern in die Kampfgebiete sowie die Ausrüstung, Versorgung und Kommunikation der ukrainischen Militärangehörigen dienen diesem Zweck. Folglich würden Eisenbahnstrecken, Straßen und Flughäfen, ferner Kommunikationssysteme und schließlich sogar die Strom- und Gasversorgung von Russland ins Visier genommen werden. Noch unmittelbarer ist die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen, wenn in Wohngebieten gelegene Abschussrampen zerstört würden. Ein ähnliches Risiko besteht bei Angriffen auf militärische und politische Entscheidungszentren innerhalb von Städten.
Ist es aber moralisch gerechtfertigt, russische Bürger zu beschützen und dabei den Tod ukrainischer Zivilisten, quasi als Kollateralschaden, in Kauf zu nehmen? Nicht einmal der Hinweis auf einen verhältnismäßigen Einsatz der Mittel würde die russische Armee aus diesem Dilemma befreien. Dabei gibt es durchaus eine Lösung. Diese wäre gleichsam geeignet, die Kiewer Führung zu baldigen Verhandlungen zwingen.
Wirtschaftliches Chaos statt Zerstörungen
Bekanntermaßen erfolgt der ukrainische Beschuss ziviler Objekte in den Russland angegliederten Gebieten auf höchst unberechenbare Weise, sodass sich Zivilisten nicht schützen können. Die einzige Lösung besteht in einer Evakuierung, die bereits vor Beginn der "militärischen Spezialoperation" primär im Großraum Donezk einsetzte und sich nach dem massiven Beschuss der Stadt Mitte Juni intensivierte.
Den Hintergrund für die Artillerieangriffe gegen Zivilobjekte bilden Stellungnahmen aus Kiewer Regierungskreisen, in denen ethnische Russen als "Untermenschen", "Kreaturen" und "Tierarten" bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu betrachtet die russische Führung die Ukrainer als "Brudervolk" und erklärt als Ziel der Militäroperation ihre Befreiung und nicht ihre Drangsalierung. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, könnte die russische Militärführung nun die eigenen Angriffsziele markieren und öffentlich bekannt geben. Die gefährdeten ukrainischen Bürger wären dadurch im Voraus gewarnt.
Ob, wo und wann militärische Maßnahmen ergriffen werden, bliebe offen. Selbst für den Fall, dass die russischen Streitkräfte nur einige der gekennzeichneten Objekte beschießen, dürften Zivilisten bestrebt sein, alle potenziell unsicheren Orte zu meiden. Landstraßen, Bahnhöfe und Flughafenterminals würden sich leeren, Beschäftigte in gefährdeten Betrieben und Dienststellen würden nicht zur Arbeit erscheinen. Bürger von Wohngebieten, in deren Nähe sich Militäreinrichtungen befinden, würden deren Abzug verlangen oder wegziehen.
Die wirtschaftlichen Folgen wären katastrophal, da der Warentransport und die Tätigkeit wichtiger Produktionsstätten zum Erliegen kommen würden. In der Administration würde Personal fehlen, das für deren Funktionalität unentbehrlich ist. Die ukrainische Regierung würde unter zunehmenden Druck geraten, dem sie nur dadurch entkommen könnte, indem sie auf das Verhandlungsangebot Russlands eingeht. Das Bestreben, zivile Opfer zu vermeiden, hätte somit einen unverhofften Nebeneffekt.
Doch was würde passieren, wenn russische Militärschläge gegen Zivilobjekte zu Personenschäden führen? Auf Beschuldigungen könnte Moskau mit dem Verweis auf die erfolgte Vorankündigung reagieren. Damit verbunden wäre ein Vorwurf an die ukrainische Führung, die Bürger nicht gewarnt bzw. unnötig einer Gefahr ausgesetzt zu haben. In der Folge würde unter der Bevölkerung noch größere Vorsicht walten. Der ukrainische Staat wäre auf mittlere Sicht praktisch unregierbar.
Da die Kiewer Regierung bald einlenken dürfte, würde sich der Schaden an zivilen Objekten in Grenzen halten. Die Ukraine wäre nicht im vergleichbaren Maß betroffen wie der Irak nach den massiven Bombardierungen durch die US-Armee im Jahr 2003. Einerseits gäbe es erheblich weniger Todesopfer, andererseits würden die meisten Infrastrukturobjekte erhalten bleiben. Nur ihre Funktionsfähigkeit wäre durch die Abwesenheit des Personals außer Kraft gesetzt.
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