Dmitri Trenin: Putin verkündet neue nationale Idee und gibt Traum eines Großeuropas auf

Die kürzlich erfolgte Ansprache des russischen Präsidenten beinhaltet eine neue Vision für sein Land. Diese sieht vor, das gespaltene russische Volk und dessen Lebensräume wieder zu vereinen. Die Vorstellung eines Großeuropas von Lissabon bis Wladiwostok wird es aber so nicht mehr geben.

Von Dmitri Trenin

Während seiner vier Legislaturperioden als Lenker des russischen Staates hat Wladimir Putin viele Reden von internationaler Tragweite gehalten. Viele davon stechen heraus als Dreh- und Angelpunkte in der Herausbildung einer neuen außenpolitischen Ausrichtung Moskaus.  

Damals im Oktober 2001, als er den Berliner Bundestag auf Deutsch ansprach, verkündete Putin Russlands "Europäische Wahl". Im Februar 2007, als er auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Rede hielt, griff er Amerikas globale Vorherrschaft an und legte Russlands Bedingungen für seine Beziehungen zum Westen dar. Im März 2014 wiederum hieß Putin im Kreml die Krim sowie Sewastopol bei ihrem Beitritt zu Russland willkommen, wodurch sich das Staatsgebiet erstmalig seit dem Zusammenfall der Sowjetunion wieder ausdehnte. Seine neueste Rede, die er ebenfalls im Georgssaal des Kremls hielt, verdient besondere Aufmerksamkeit als außenpolitisches Manifest, das heute einen Kurs des systematischen Widerstandes zum Westen aufzeigt.

Das auffälligste Merkmal der Rede war, wie wenig Zeit der Ukraine gewidmet wurde – abgesehen von ihren ehemaligen vier Regionen, die Russland beigetreten sind. Moskaus Schlüsselforderungen, wie Kiews neutraler Status, Demilitarisierung und Entnazifizierung, fanden keine Erwähnung. Auch wurden mit keinem Wort die aktuellen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld erwähnt, wo die Ukrainer die Initiative ergriffen haben und die russischen Kräfte zum ersten Mal in eine Defensivhaltung drängen.  

Stattdessen war Russland selbst Putins zentrales Thema. Noch nie zuvor kam er der Aussage näher, dass die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 durch die Oberhäupter der Russischen, Ukrainischen und Weißrussischen Republiken nicht geschehen wäre. Putin äußerte, dass jene Politiker den Willen des Volkes missachtet hätten, welches nur achteinhalb Monate zuvor mit großer Mehrheit dafür gestimmt hatte, eine reformierte Union beizubehalten.    

Der russische Präsident behauptete anschließend, dass das Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung habe, basierend auf seiner historischen Identität. Der Beweis, den er hierfür lieferte, war die überschwängliche Unterstützung für die Idee, dass die ehemaligen ukrainischen Regionen der Russischen Föderation beitreten, was durch die Referenden in Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschje zum Ausdruck kam.

Die Botschaft war, dass wir im Jahr 2022 teilweise eine Revision der Katastrophe von 1991 erleben würden. Zufälligerweise, was aber zugleich symbolisch anmutet, hat dieses Jahr auch das Ableben einiger der wichtigsten Figuren bezeugt, die mit den Dokumenten zur Auflösung der UdSSR in Verbindung stehen: Leonid Krawtschuk aus der Ukraine, Stanislaw Schuschkewitsch aus Weißrussland, Jelzins graue Eminenz Gennadi Burbulis sowie der Mann, den sie zu überlisten versuchten – der erste und letzte sowjetische Präsident, Michail Gorbatschow.

Putin, der nur wenige Tage vor seiner Rede im Kreml ein Publikum in Nowgorod – der Wiege der russischen Staatlichkeit – ansprach und dabei vor dem Nationaldenkmal "Tausend Jahre Russland" stand, schloss die Chroniken der letzten drei Jahrzehnte russischer Geschichte und öffnete ein neues Kapitel der Festigung der russischen Welt als politische Einheit. Mit den Skulpturen Peters des Großen und Katharina II. im Blick, bereitete er sich darauf vor, Geschichte zu schreiben.

Das gespaltene russische Volk und dessen Lebensräume wieder zu vereinen, ist im Grunde das Hauptelement der neuen russischen Idee, die Putin seinen Landsleuten anbietet. Als nächste direkte Aufgabe müssen die neuen Territorien, die sich gerade erst infolge der Referenden der Russischen Föderation angeschlossen haben, ins Kernland integriert werden. Dies erfordert große Anstrengungen in vielen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen. Es wird alles andere als leicht werden.   

Die russischen Streitkräfte, die seit Monaten auf ukrainischem Territorium vorrücken, finden sich plötzlich in einer Situation wieder, in der sie einige Gebiete zurücklassen müssen, die fortan legal zu Russland gehören und von russischen Staatsbürgern bewohnt werden, welche wiederum gerade erst in den Referenden abgestimmt haben und sich nun ernsthaften Repressalien ausgesetzt sehen durch die zurückschlagenden Ukrainer.

Als Nächstes wird es notwendig sein, die Städte und Dörfer wiederaufzubauen, die im Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurden, die beschädigte Infrastruktur zu reparieren, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, kommunale Dienstleistungen bereitzustellen und die öffentliche Verwaltung, das Gesundheitswesen sowie den Bildungsbereich neu zu organisieren.

Von allerhöchster Wichtigkeit ist es, die Millionen Bewohner der vier Regionen, denen automatisch die russische Staatsangehörigkeit gewährt wurde, in das russische nationale Umfeld einzugliedern. Hiermit hat Moskau seit dem Jahr 2014 Erfahrung, als die Krim und Sewastopol der Russischen Föderation beitraten – in Kriegszeiten dürfte diese Aufgabe jedoch herausfordernder sein. Vieles wird natürlich davon abhängen, wie die russischen Truppen an der Frontlinie zurechtkommen, die ganz nahe an Donezk und Cherson verläuft und die Stadt Saporoschje noch im ukrainisch besetzten Teil zurücklässt.  

Selbst wenn der ukrainischen Gegenoffensive die Luft ausgeht und die Russen ihren Vormarsch wieder aufnehmen, kann keine dieser Aufgaben schnell erledigt werden. Dieser Teil der neuen Nationalidee wird das russische Volk noch lange beschäftigen.

Putins Konzept macht hier jedoch noch nicht Halt. Es geht nicht so sehr um die Wiederherstellung der Sowjetunion: Eine solche Wiederherstellung ist nach Putins Worten nicht das Ziel Moskaus. Das Baltikum, der Südkaukasus und Zentralasien sind wahrscheinlich nicht als Teil des neuen Konstrukts vorgesehen. Wie Außenminister Sergei Lawrow in der Staatsduma andeutete, könnten allerdings in Zukunft andere ukrainische Regionen die Chance erhalten, Cherson und Saporoschje zu folgen.

Für Putin ist Großrussland eine eigenständige Zivilisation, die sich nicht nur der hegemonialen Politik Amerikas widersetzt, sondern auch der Projektion der westlichen Werte als universelle Werte. Dies ist nicht nur eine Kehrtwende gegenüber Gorbatschows Träumereien über ein gemeinsames europäisches Haus, sondern auch gegenüber Putins eigenen Ambitionen, ein Großeuropa von Lissabon bis Wladiwostok zu schmieden, und seinen Bemühungen, einen Weg für den NATO-Beitritt Russlands zu finden.

Ein Großeuropa hat es nicht gegeben; ein Großasien, das Russland einschließt, ist de facto im Entstehen begriffen. Was ein Großrussland betrifft, so erfordert dies mehr als die Vorstellungskraft eines Anführers.

Die Sowjetunion, so wie sich die lebenden Generationen an sie erinnern, war zu einem großen Teil das Ergebnis des Großen Vaterländischen Krieges. Der hybride Krieg mit dem Westen, von dem die Ukraine nur ein kleiner Teil ist, wird Russland zweifellos umgestalten. Die Frage ist, ob der Krieg Russland auch so umgestalten wird, dass es der Vision einer mächtigen Wirtschaft und einer lebendigen Gesellschaft entspricht, die ihren erklärten Werten treu bleibt: der Substanz – und nicht der Form – eines Großrusslands.

Übersetzt aus dem Englischen.

Dmitri Trenin ist Professor an der Moskauer Higher School of Economics und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen. Er ist ebenfalls Mitglied des Russischen Rates für Internationale Beziehungen.

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