Ein Kommentar von Iwan Timofejew
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat erwartungsgemäß neue Sanktionen gegen Russland im Zusammenhang mit den Referenden im Donbass und in zwei weiteren Regionen der Ukraine gefordert. Diese Referenden fanden in den seit 2014 de facto selbst verwalteten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie in den Regionen Cherson und Saporoschje statt.
Nach der Meinung von der Leyens zeigen die bisher gegen Russland verhängten Sanktionen ihre Wirkung. "Die Sanktionen waren sehr erfolgreich. Wenn man sich die russische Wirtschaft ansieht, liegt sie in Trümmern", behauptete die Kommissionspräsidentin.
Erlauben wir uns, mit Frau von der Leyen anderer Meinung zu sein.
Entscheidend für die Wirksamkeit von Sanktionen ist, ob sie den politischen Kurs des sanktionierten Landes verändern. Dieses Kriterium ist sowohl in der akademischen als auch in der angewandten Literatur gut erforscht, und nur wenige Menschen haben Zweifel an der Richtigkeit dieses Kriteriums.
Allerdings hat Russland seinen politischen Kurs in Bezug zur Ukraine unter dem Einfluss der groß angelegten Sanktionen der EU, der USA und anderer Initiatoren nicht geändert. Darüber hinaus verhärtet sich Russlands Position zunehmend, wie die Ankündigung sowohl einer Teilmobilmachung der Armee und das Abhalten der Referenden zeigen. Somit können wir sagen, dass die Maßnahmen im Hinblick auf das, was sie bewirken sollen, tatsächlich eine negative Wirkung haben – aber nicht für Russland.
Anscheinend verbindet Frau von der Leyen die Wirksamkeit der Sanktionen mit dem Maß an zugefügten Schmerzen. Mit anderen Worten, sie glaubt, je größer diese sind, desto besser. Aber auch hier gibt es Probleme. Der Schaden ist tatsächlich groß. Aber Russland sitzt nicht nur still da und bemitleidet sich selbst. Russland passt sich sehr energisch an die veränderte Situation an.
Jetzt könnte man Russlands innenpolitische Finanzpolitik kritisieren und die Importsubstitution infrage stellen, so viel man will. Aber man kann natürlich nicht so weitermachen, als wäre alles so, wie es vorher war. Es ist zumindest klar, dass die russische Wirtschaft viel weniger geschrumpft ist als erwartet, dass die Inflation zumindest bisher unter Kontrolle gebracht werden konnte und dass Anpassungen in der Beschaffung von Gütern, unterstützt durch heimische Produktion, die Auswirkungen der Sanktionen mildern. Die russische Wirtschaft wird sich einfach anders ausrichten. Sie wird ihren Fokus und ihre Qualität verändern. In einigen Sektoren wird es es etwas länger dauern oder sogar hinterherhinken. Aber Russland wird weiter existieren.
Natürlich haben wir von US-Präsident Barack Obama schon einmal die Worte "die russische Wirtschaft liegt in Trümmern" gehört. Das war 2015, vor sieben Jahren. Die Wirksamkeit der Maßnahmen kann auch im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das Geschäftsverhalten bewertet werden. Hier gibt es tatsächlich Effekte. Unzählige westliche Unternehmen haben Russland unter finanziellen Verlusten für sich selbst verlassen und ihre Marktanteile im Land aufgegeben. Bedeutet dies, dass die von ihnen verlassenen Nischen leer bleiben? Nein, tun sie nicht. Sie werden bereits aktiv von russischen Mitbewerbern sowie von chinesischen, iranischen, indischen und anderen internationalen Unternehmern und Firmen übernommen.
Russland selbst kann natürlich kaum zufrieden damit sein. Die Probleme, mit denen Russland konfrontiert sein wird, sind zahlreich, und die meisten dieser Probleme müssen mit einer schnellen Eingreiftruppe bekämpft werden. Aber bis auf Weiteres warten wir die Wirkung des neuen Sanktionspakets der EU und der anderen westlichen Akteure ab. Mal sehen, was man sich hüben und drüben einfallen lässt.
Übersetzt aus dem Englischen.
Iwan Timofejew ist Programmdirektor des Waldai-Klubs und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.
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