Von Wiktorija Nikiforowa
Dann aber benahm sich Russland "daneben", hat Georgien zum Frieden gezwungen, die Krim annektiert und sich im Donbass eingemischt. Die US-Amerikaner waren sehr verärgert und mussten beginnen, Russland zu "bestrafen". In Wirklichkeit war das alles leider anders. In diesem Jahr wird die legendäre Wolfowitz-Doktrin 30 Jahre alt. Die ersten Auszüge daraus erschienen in der US-Presse im März 1992. Keine drei Monate waren da seit dem Zerfall der UdSSR vergangen. Allerdings bezeichnete Paul Wolfowitz, ein prominenter Beamter des US-Außenministeriums und des Pentagon, die Russische Föderation schon damals als die potenziell größte Bedrohung für die Vereinigten Staaten von Amerika und forderte die US-Regierung auf, sich nicht auf den vermeintlichen Lorbeeren des Sieges im Kalten Krieg auszuruhen.
Der Grund für diese angespannte Sichtweise ist äußerst einfach: Selbst als Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR geschwächt war, verfügte dieses Land über den weltweit größten Bestand an strategischen Kernwaffen und war als einziges Land der Welt theoretisch in der Lage, die Vereinigten Staaten zu vernichten. Für die US-Amerikaner ging es also in erster Linie darum zu verhindern, dass Russland weiter erstarken und sich von Washingtons Einfluss lösen könne.
Wolfowitz entwarf für die USA daher ein neues Feindbild. Denn das war dringend nötig nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Idee. Und es gelang auch mühelos: Jedes Land, das den Vereinigten Staaten von Amerika Konkurrenz machen konnte, wurde zur Zielscheibe eines Angriffs. Wobei der "Angriff" keine Metapher ist, um das gleich klarzustellen. Es handelt sich hierbei stets um einen ganz konkreten, bewaffneten Überfall, einfach gesagt: um einen Krieg, Bombenangriffe, Mord und Blutbad.
Wolfowitz schlug also vor, jedes Land, das "Ressourcen in einer für die USA kritischen Region der Welt undemokratisch kontrolliert", als Konkurrenten (oder mindestens potenziellen Konkurrenten) der Vereinigten Staaten zu betrachten. "Undemokratisch kontrolliert" bedeutet hierbei aus Sicht der USA, dass ein Land seine Reichtümer selbst verwaltet, sie nach Belieben verkauft und selbst den Preis dafür festlegt – anstelle des von Washington festgelegten Preises. Praktisch kommt damit fast die ganze Welt auf die Liste der "für die USA kritischen Regionen". Lediglich die Antarktis – und Afrika sowieso – sind in seiner Liste nicht enthalten.
Die US-Regierung kam durch die Offenheit von Wolfowitz etwas in Verlegenheit, weshalb das Dokument mehrere Abänderungen erhielt, um die Tatsache zu verschleiern, dass Washington gern jedes Land bombardieren würde, welches sich erlaubt, der Armut entfliehen und eine unabhängige Politik verfolgen zu wollen. Deshalb wurde gemäß der Orwellschen "Sprachpflege" die US-Hegemonie in "Demokratie" umbenannt, jede US-amerikanische Aggression in "kollektive Sicherheit" und die ganze Doktrin wurde zynisch "Verteidigung" genannt.
Nach dem Zurechtbiegen der Begrifflichkeiten begann die Umsetzung der Doktrin. In Washington, D.C. begann man, Kontrolle in internationalen Organisationen zu übernehmen, brach nach und nach alle Vereinbarungen, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg zwischen Ländern getroffen worden waren und drängte den vormals neutralen Institutionen seinen Willen auf. So fungierte Wolfowitz beispielsweise selbst wenige Jahre als Präsident der Weltbank. Nach seinem "Abgang" aufgrund eines schmutzigen Sexskandals wurde er durch Robert Zoellick von Goldman Sachs, natürlich einem anderen US-Amerikaner, , abgelöst.
Die Vereinigten Staaten zerrten und pressten immer mehr Länder in "ihren" NATO-Block hinein und missachteten dabei oft genug den Willen der Bevölkerungen der jeweiligen Länder. Und sie brachten auch die ukrainischen Streitkräfte unter ihre "demokratische Kontrolle", was der scharfsinnige Wolfowitz bereits im Jahre 1992 gefordert hatte. Sie verhinderten stets ein Entweichen etwa durch "Re-Nationalisierung des Verteidigungskomplexes" dieser Länder – nun Vasallen Washingtons.
Kaum erkannten sie einen Konkurrenten am Horizont, stürzten sie sich wortwörtlich mit Bombardements auf ihn, ohne Rücksicht auch auf die Meinung der Vereinten Nationen oder anderer "veralteter und schwacher" internationaler Organisationen, wie Wolfowitz sie beschrieb. Nach dem 11. September 2001 wurde das Konzept von Wolfowitz durch die Doktrin von George W. Bush Junior in geeigneter Weise ergänzt. Diese Doktrin ging davon aus, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auch einen Präventivschlag gegen jedes Land führen dürfen, wenn es eine Bedrohung für die USA darstellen könnte. Das Schreckliche daran ist, dass jeder mehr oder weniger erfolgreiche Staat von den USA als Bedrohung angesehen werden kann.
Rufen Sie sich nur diejenigen stabilen und prosperierenden Länder in Erinnerung, die darunter gelitten haben – Libyen, Irak, Jugoslawien. Wo sind sie jetzt? Wenn wir dort hinschauen, sehen wir nur Ruinen. Allein Syrien wurde seinerzeit – nur durch das Eingreifen Russlands – vor seiner endgültigen US-amerikanischen "Demokratisierung" bewahrt. Ebenso versucht Russland heute, den Osten der Ukraine vor der physischen Ausrottung zu bewahren.
Und diese barbarischen Übergriffe, manch ungeheuerlicher Genozid, wurden in Erwägung gezogen und ganz demonstrativ durchgeführt, damit alle Welt, insbesondere die Regierungen die US-Aggressionen sehen und sich fürchten. Dabei war die Hauptzielscheibe aller Angriffe aus Washington seit jeher Moskau. Und die Botschaft war unmissverständlich: Rührt euch nicht vom Fleck.
Auf diese Weise fand sich Russland in den frühen 2000er Jahren, als Putin an die Macht kam, vor einer paradoxen Aufgabe wieder. Einerseits war ein wirtschaftlicher Aufschwung erforderlich, um das Land nach den "heiligen 90ern" wieder aufzurichten, es war insbesondere die Kontrolle über die eigenen, von den USA so heiß begehrten Ressourcen wiederzuerlangen. Und es war eine beschleunigte Entwicklung der Wirtschaft zwingend erforderlich.
Andererseits galt es, in den Augen Washingtons tunlichst weiterhin schwach und unglücklich auszusehen. Es durfte keineswegs der Verdacht aufkommen, dass Russland in Zukunft zu einem Konkurrenten der USA werden könne.
Einige, sogar längere Zeit gelang es, diese paradoxe Aufgabe zu erfüllen. Durch Einigungen in Kleinigkeiten und über Kompromisse wurde Russland immer reicher, konnte sich entwickeln, modernisierte seine Armee, steigerte die Produktion und kam insgesamt voran. Ein Gewinn an friedlichen Jahren der Entwicklung – dieselben zwanzig Jahre eines inneren und äußeren Friedens, von denen Stolypin geträumt hatte.
An dieser Stelle übrigens gehört es sich, unserer "schöpferischen" Intelligenz und unseren "unbestechlichen" Journalisten besonderen Dank auszusprechen. Über Jahrzehnte haben sie der internationalen Gemeinschaft allen möglichen Mist in die Ohren geblasen, wie schlecht es bei uns zugeht. Internationale Filmfestivals wurden von russischen Filmen erobert, die unser malerisches Aussterben zum Thema haben. Der "liberale" Journalismus verbreitete einen verzweifelten Schwachsinn über Korruption, den Zerfall von allem und jedem, über gescheiterte Reformen in der Armee, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Alles in allem wurde die amerikanische Seele dadurch sehr getröstet, dass die Russen bald von selbst aussterben würden und man gar nichts mehr dafür tun müsste.
Washingtons engsten Vasallen erging es noch schlechter, zum Beispiel Deutschland. Einerseits ein erstaunlicher wirtschaftlicher Erfolg, wenn auch unmöglich ohne preiswerte russische Rohstoffe, andererseits eine absichtlich zögerliche und kompromissbereite Außenpolitik – samt einer Reihe geduldig ertragener Demütigungen, dessen Krönung vielleicht die offen zutage getretene Erkenntnis war, dass die US-Geheimdienste rund um die Uhr und ungeniert die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel abhören. Zaghafte Versuche, dem amerikanischen Souverän zu widersprechen, und ein sofortiger Rückzieher folgten, ebenso die bereitwillige Zustimmung zur Invasion von Migranten, zur Propagierung von Homosexualität, zur Zurückdrängung des Christentums, zu brutalen Lock-Downs samt mancher Insolvenzen während der Pandemie. Die Hauptsache war und blieb, dass man die Vordenker in Washington, D.C. nicht verärgert.
Was war der Zweck all dieser Maßnahmen der Regierung des reichsten Landes in Europa? Der Zweck war, nur nicht als Konkurrent der USA dastehen zu müssen. Die deutschen Behörden taten Buße und bezahlten gern, um noch ein und noch ein Jahr hinauszuzögern, dass der Hegemon gegen sie zu Felde zieht.
Und letztendlich gaben die Deutschen sogar ihren größten geostrategischen Vorteil auf nämlich ihre Nähe und die Zusammenarbeit mit Russland. Wie wir heute sehen können, hat sie das aber nicht gerettet. Denn in Washington entschied man doch, dass Deutschland unzulässig hoch aufgestiegen sei, und beschloss folglich, es ausbluten zu lassen – bislang "nur" mit wirtschaftlichen Mitteln. Sollten die Deutschen aber revoltieren, so wird es keinen Zweifel an Methoden der Gewalt geben. An US-Militärstützpunkten mangelt es in Deutschland keineswegs.
Lassen wir Deutschland nun mal beiseite. Selbst der wirtschaftliche Hegemon China, der über eine mächtige, moderne Armee verfügt, blieb vorsichtig und wartete ab. Wer möchte seine eigenen Bürger amerikanischen Raketen aussetzen, wenn es nicht sein muss?
Nur sehr dümmliche Liberale sind der Meinung, dass die Regierenden in Washington an Wettbewerb, Demokratie und Menschenrechte glauben. Früher riefen sie entsetzt aus: Warum sind die USA denn in den Nahen Osten gegangen? Sie können doch dort keine Demokratie aufbauen!
Um Himmels willen, das hatten sie auch weiß Gott nicht vor, dort etwas aufzubauen. Sie wollten die Region dem Erdboden gleich machen und so viele Menschen wie nur möglich töten. Das ist ihre Vorstellung von "freien Wettbewerb". Die unsichtbare Hand von Adam Smith ist nach US-Manier ein Mechanismus zum Öffnen eines Waffenschachts.
Spätestens im Jahr 2014 wurde deutlich, dass Russland seine Macht nicht länger verbergen konnte und wollte. Georgien wurde zum Frieden gebracht und das US-Militär hat keine Hilfe geleistet. Die Krim wurde integriert, was die US-Geheimdienste sehr erstaunte. Der Donbass blieb von Kiewer Säuberungsaktionen verschont. Übrigens waren die Olympischen Winterspiele in Sotschi ein Triumph – und die US-Amerikaner nehmen solche rein symbolischen Siege des Gegners sehr schmerzhaft wahr, wie es scheint.
Und so wurde der Ausbruch zu einem gewaltsamen Vorgehen Washingtons gegen unser Land nur eine Frage der Zeit. Bereits im Jahr 2017 – lange vor der Pandemie und lange vor der militärischen Sonderoperation – erstellten US-Analysten den Bericht über "Putins asymmetrische Attacke auf die Demokratie". Anfang 2018 wurde er im Ausschuss für auswärtige Beziehungen des US-Senats erörtert.
Darin sind die unzähligen Sünden Russlands aufgezählt, zuallererst natürlich diejenige, dass wir völlig "undemokratisch" unsere eigenen Ressourcen kontrollieren, damit Handel treiben, und zwar wie und mit wem wir es wollen. Auch, dass unsere Armee erfolgreich modernisiert wurde, die Industrie und neue Technologien sich in einem positiven Entwicklungsprozess befinden, die russischen Bürger zu gut leben und das wiedererstarkende Land eine Führungsposition im post-sowjetischen Raum zurückgewonnen hat und seine Interessen in Europa und in der Welt erfolgreich durchsetzt.
Doch das Allerschlimmste daran ist, dass Russland damit ein sehr schlechtes Beispiel abgibt. Die anderen Länder sehen zu und erkennen: Das ist möglich. Man kann ein prosperierendes, mächtiges Land sein, seine eigene Politik betreiben, Washington ignorieren, und es kommen doch keine US-Raketen angeflogen, um das Land in Schutt und Asche zu legen. Das wäre wirklich eine Alternative gegenüber dem globalen Hegemon? Was für ein Skandal! So etwas darf nicht sein.
Bemerkenswert bleibt auch die Diskussionen über Putins "asymmetrischen Angriff" noch unter Donald Trump. Denn der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten forderte Trump auf, sofort etwas gegen Russland zu unternehmen. Schon damals galt unser Land als allzu gefährlicher Konkurrent für die Vereinigten Staaten von Amerika. Nach herrschender Meinung in den USA sollte es einfach nicht mehr existieren.
Aber Trump – das muss man ihm wirklich zugutehalten – fiel nicht auf diese Provokation herein. Kaum aber ist Joe Biden an der Macht, begannen die USA mit dem Vorrücken auf unsere Grenzen. Die Ukraine wurde so eklatant auf einen Krieg vorbereitet, dass es niemanden mehr täuschen konnte. Heute ist völlig offensichtlich, dass die USA versuchen, Russland zu vernichten, indem sie die Bewohner der Ukraine in die Schlacht werfen.
Es wird übrigens gar nicht versucht, das alles zu tarnen. Die US-Geheimdienste ermittelt Zielkoordinaten für die ukrainischen Streitkräfte, US-Instrukteure bilden die Infanterie aus und trainieren sie im Umgang mit den amerikanischen Waffen. Die USA verwickeln auch ihre NATO-Vasallen in ein Blutbad. Und sie versuchen nebenbei, unsere Wirtschaft zu zerstören. Und sie toben ihre wilde Aggressivität in internationalen Institutionen aus, die Washington im Vorfeld unter seine Kontrolle gebracht hat. Psychologische und mediale Attacken sind allgegenwärtig und brechen den Willen und den klaren Verstand vieler Menschen.
In einem Roman von Stephen King entgleitet dem besiegten Ungeheuer die Maske eines sympathischen, interessanten, vertraut blickenden menschlichen Gesichts – und unter den Fetzen der Maske erscheint ein böses Monster als der wahre Besitzer dieser menschlichen Tarnhülle. Genau das passiert jetzt an unseren westlichen Grenzen.
Ein langes Nachsinnen darüber, wo überall Russland sich falsch verhalten habe und die USA deshalb beschlossen, uns zu bestrafen, ist hier nicht angebracht. Wir haben einfach zu gut gelebt, wir waren zu unabhängig, wir erlaubten es uns, unsere Landsleute und unsere Freunde zu verteidigen und unseren Feinden einen Schlag zu versetzen. Nun ist das Böse der Welt unseretwegen gekommen. Das war zu erwarten. Es hat sich seit Langem darauf vorbereitet. Daher müssen wir nun auch alles tun, um es zu besiegen.
Übersetzt aus dem Russischen
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