Eine Analyse von Gevorg Mirzajan
Die Ukraine fordert eine "zweite Front" gegen Russland. Sie fordert dies von ihrem, so scheint es, Amtsbruder in Sachen Farbrevolution, nämlich Georgien. Unter "zweiter Front" ist hier nicht der direkte Kampfeinsatz gegen die Russische Föderation und der Einmarsch georgischer Truppen in Südossetien und Abchasien zu verstehen (auch wenn Kiew dies sicherlich sehr begrüßen würde), sondern vielmehr der Beitritt Georgiens zum Sanktionsregime. Und auch, möglicherweise, die Einrichtung westlicher Militärstützpunkte auf seinem Territorium, was zu zusätzlichen Spannungen im Kaukasus führen würde und Russland dazu veranlassen könnte (das alle möglichen Truppen in der Spezialoperation einsetzt), seine Kontingente im Kaukasus zu verstärken.
Allerdings ist man in Tiflis diesen Ideen gegenüber ziemlich reserviert. Erstens, weil sie ihre Sicherheit, ihre Wirtschaft (Georgien hat jetzt ein zweistelliges Wirtschaftswachstum) und ihren Staat selbst nicht auf dem Altar des ukrainischen Kampfes opfern wollen – denn es ist klar, welche Antwort von Russland auf eine solche "zweite Front" kommen wird. Zweitens bitten die Ukrainer, um es mit den Worten von Don Corleone zu sagen, ohne Respekt zu zeigen. Genauer gesagt – eine banale Erpressung. "Einerseits fordern sie von dir eine 'zweite Front', andererseits drohen sie mit Sanktionen, sie drohen Bidsina Iwanischwili und Vertretern der Behörden", empört sich Irakli Kobachidse, Vorsitzender der regierenden Partei "Georgian Dream". Gerade so charakterisierte er die Entscheidung des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine, den Milliardär Biszina Iwanischwili, seine Familienmitglieder und sein engstes Umfeld in die Sanktionsliste aufzunehmen – damit diese Personen später vom Westen mit Sanktionen belegt werden. "Heute ist Iwanischwili zu einem georgischen Janukowitsch geworden. Er und seine Leute verfolgen eine Politik in Bezug auf die Ukraine, die von der georgischen Bevölkerung nicht unterstützt wird. Sie wollen Georgier und Ukrainer für ein Jahrzehnt verfeinden", begründete Dawyd Arachamija, Vorsitzender der Parlamentsfraktion der ukrainischen Regierungspartei "Diener des Volkes", die Notwendigkeit von Sanktionen.
Dennoch lässt der Druck nicht nach. Denn neben dem offenen ukrainischen Druck und dem ebenso offenen Druck der georgischen Opposition (Partei "Vereinigte Nationale Bewegung", welche die Regierung für ihre übermäßige "Nachgiebigkeit" kritisiert) gibt es auch Druck aus dem Westen. Nicht so offensichtlich, doch weitaus stärker.
Doch dem Westen ist eine "zweite Front" nicht nur der zusätzlichen Spannung für Russland im Süden dienlich. Die Zielsetzungen der USA und der EU sind weitaus strategischerer Natur – sie möchten die bestehende Struktur der russisch-georgischen Beziehungen zu Fall bringen, da sie darin eine ernsthafte Bedrohung für ihre gesamte Russland-Politik sehen.
Die Besonderheit und Gefahr der Beziehungen zwischen Moskau und Tiflis besteht in darin, dass sie eine pragmatische Koexistenz und sogar mehr oder weniger gutnachbarliche Beziehungen zwischen Russland und einem pro-europäischen postsowjetischen Land gewährleisten. Natürlich gibt es Konflikte und Skandale (Fall des Abgeordneten Gawrilow, regelmäßige Zusammenstöße zwischen nationalistisch gesinnten Georgiern und russischen Touristen), aber im Allgemeinen sind die zwischenstaatlichen Beziehungen auf einem recht hohen Niveau. Ungeachtet des jüngsten Krieges, Russlands Anerkennung der Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien und der ausbleibenden diplomatischen Beziehungen, boomt der bilaterale Handel. Zudem ist das "feindliche" Georgien (insbesondere vor dem Hintergrund der westlichen Sanktionen) zu einem der beliebtesten Reiseziele für russische Touristen geworden. Menschen, die kaum Urlaub in georgischen Ferienorten machen würden, wenn sie wie "Okkupanten" behandelt würden.
Warum das so ist? Weil beide Seiten zum Grundsatz "Wir sind verschieden, aber wir sind keine Feinde" übergegangen sind.
Tiflis nimmt sich kein Beispiel an der Ukraine und stellt sein Territorium nicht als Aufmarschgebiet für die Feinde Russlands zur Verfügung, und Moskau respektiert diese Haltung Georgiens und steht dem Land deshalb nicht feindlich gegenüber.
Ein derartiges georgisches Rezept für die Koexistenz mit Moskau ist für den Westen gefährlich, denn es zerstört den Mythos der Aggressivität und Intoleranz Russlands. Und außerdem denjenigen, dass alle postsowjetischen Länder dringend in die NATO fliehen müssen. Daher sollte ein solche Format nach Ansicht Washingtons zerstört werden, was in Tiflis ständig signalisiert wird.
Allem Anschein nach ist der Druck so stark geworden, dass die georgischen Behörden ein letztes Argument auf den Tisch gelegt haben – ihr Angebot ist die Hinwendung zur Bevölkerung. "Georgien wird sich unter keinen Umständen in den russisch-ukrainischen Konflikt einmischen. Wenn irgendjemand Zweifel daran hat, dass die Mehrheit der georgischen Bürger keine "zweite Front" will und darin keine georgische Zukunft sieht, so lasst uns ein Plebiszit abhalten", sagt Mamuka Mdinaradze, Exekutivsekretär der Regierungspartei "Georgian Dream". "Entscheiden müssen die Menschen, ob sie mit hochrangigen Beamten der ukrainischen Regierung übereinstimmen oder ob sie mit unserer Position übereinstimmen, keine 'zweite Front' zu eröffnen", sagte Kobachidse. Obwohl er anschließend erklärte, es handle sich um einen Scherz. "Diese Aussage enthielt Sarkasmus und eine gewisse Ironie. Wir wissen, und das ist durch Studien belegt, dass die Bevölkerung Georgiens gegen den Krieg ist", bereinigte der Politiker. Wahrscheinlich deshalb, weil die Ergebnisse der gesamtstaatlichen Meinungsumfrage über die künftigen Beziehungen zu Russland sehr pro-russisch ausgefallen sein könnten.
Selbstverständlich, theoretisch, könnte sich Tiflis' Ansatz ändern. Georgien könnte es sich anders überlegen und eine "zweite Front" eröffnen, allerdings nur unter einer Bedingung. Falls Russland nicht nur schwächelt, sondern zu "zerbröseln" beginnt. Dann werden sich die georgischen Behörden natürlich auf die Seite der Sieger schlagen und versuchen, sich das zu nehmen, was sie glauben, dass es ihnen gehört.
Das Problem liegt allerdings darin, dass Russland nicht "bröckelt". Entgegen einer Reihe von Veröffentlichungen im Westen, die den Eindruck erwecken, der Zusammenbruch des Landes stehe unmittelbar bevor, sieht Tiflis die Realität klar vor Augen: Die russische Gesellschaft unterstützt die Regierung (auch wenn einige unglücklich über die "Weichheit" der Operation sind), die Wirtschaft hält dem Druck der Sanktionen stand, und die Regionen zeigen nicht nur keine separatistischen Tendenzen, sondern beteiligen sich zunehmend am Prozess der Befreiung [des russischen Territoriums von der Ukraine]. Das bedeutet, die Wahrscheinlichkeit ist ausgeschlossen, dass Georgien sich auf der Seite der Verlierer beteiligen wird.
Gevorg Mirzajan. Außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation. Politikwissenschaftler, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren 1984 in Taschkent. Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban. Promotion in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Übersetzt aus dem Russischen
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