Wann deeskaliert die EU endlich? – Borrell will noch mehr Waffen für die Ukraine

Die Regeln ändern sich, wenn die Referenden abgeschlossen sind und die Ergebnisse vom russischen Parlament anerkannt wurden. Das ist deutlich genug. Aber es gibt nicht das leiseste Zeichen, dass irgendjemand im Westen darüber auch nur nachdenkt. Die Losung lautet "Weiter so!".

Von Dagmar Henn

Hochmut kommt vor dem Fall, sagt das Sprichwort, und selbst das klassische griechische Drama arbeitete schon mit dem Motiv der Hybris, wenn Tragödie gefragt war. Nur, dass das klassische Drama auf den Hochmut des Helden dessen Leid und Untergang vorsieht, die gegenwärtige Führung Europas aber den Hochmut behält, Leid und Untergang aber ihren Bevölkerungen zuteilt.

Josep Borrell, der Mann, den sich die EU-Kommission als Platzhalter für einen Diplomaten hält, hat der BBC ein Interview gegeben, das belegt, dass keine Einsicht zu erwarten ist. Gar keine. Denn er wiederholt mehrmals nur den einen Satz: Wir müssen die Ukraine weiter unterstützen.

Die Referenden, die augenblicklich stattfinden, werden eine völlig neue Situation schaffen. Cherson, Saporoschje, Donezk und Lugansk werden russisches Staatsgebiet, und das bedeutet, die Reaktion der russischen Armee wird nicht mehr von den Regeln des speziellen Militäreinsatzes bestimmt, sondern von der russischen Verfassung, die dazu verpflichtet, auf jeden Angriff auf russisches Gebiet zu reagieren. Die Entscheidung liegt beim Präsidenten, der beide Kammern des Parlaments darüber nur informieren muss.

Der Unterschied zwischen Handlungen zum Schutz eigener Bürger und Handlungen zum Schutz des eigenen Territoriums ist zentral. Auch in Bezug auf die Frage, welches Verhalten der westlichen Staaten als Beteiligung gesehen wird und welches nicht. Die Waffenlieferungen, die nach wie vor fortgesetzt werden sollen, dienen dann dazu, russisches Staatsgebiet anzugreifen, und das ist dann kein kleiner Terrorangriff, wie sie schon mehrmals in Richtung Belgorod erfolgt sind, weil die gesamten Handlungen der ukrainischen Armee, sofern sie auf dem Territorium der Gebiete Cherson, Saporoschje, Donezk und Lugansk stattfinden, dann Angriffshandlungen sind.

Die Aussagen diesbezüglich sind klar und verständlich; die Medien wie die Politiker des Westens mühen sich aber nach Kräften, einen möglichst dicken Nebel darum heraufzubeschwören, wie mit der Behauptung, Putin habe mit Atomwaffen gedroht. Er hat nur schlicht festgestellt, dass russisches Gebiet mit allen verfügbaren Mitteln verteidigt wird. Eine Drohung mit Atomwaffen könnte es nur dann sein, wenn die russische Militärdoktrin einen Erstschlag vorsähe. Das tut sie aber nicht, wohl aber die der NATO.

Der Bezugspunkt dieser Sätze war unter anderem die Aussage von Liz Truss im Wahlkampf um den Vorsitz der Konservativen, sie wäre jederzeit bereit, den roten Knopf zu drücken. Es handelte sich also schlicht um den Hinweis, dass eine solche Handlung eine entsprechende Reaktion auslösen werde, mehr nicht.

Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass spätestens Anfang kommender Woche die Spielregeln in der Ukraine anders aussehen, und man sollte erwarten, dass in irgendeiner Weise darauf reagiert wird. Im Interview von Borrell ist davon nichts zu merken. Er murmelt zwar am Ende etwas von Diplomatie, aber zuvor wiederholt er das fatale Mantra, das aus all diesen Mündern zu hören ist: "Wir tun, was wir können, den Krieg zu beenden, aber der Krieg muss auf eine Weise beendet werden, die die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bewahrt."

Natürlich weiß auch Borrell, dass die "Souveränität der Ukraine" ein Witz ist, was das Eingreifen von Boris Johnson in die Verhandlungen in Istanbul nochmal bestätigte. Aber mit "territorialer Integrität" meint er, wie alle westlichen Sprachrohre, nicht nur den Donbass, sondern auch die Krim. Das hat etwas von den Deutschlandkarten in bayrischen Schulbüchern in den 1970ern, die immer noch Deutschland in den Grenzen von 1937 zeigten, eine konsequente Weigerung, Realitäten anzuerkennen. Aber bis zum Beginn des russischen Militäreinsatzes hätten die Staaten der EU, die laut Borrell "den Frieden im Sinn" haben, durch die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen jede militärische Handlung verhindern können; auch den ukrainischen Aufmarsch gegen den Donbass. Die friedliebende EU hat das nur nie gewollt.

"Die russische Armee", so Borrell, "ist in eine Ecke gedrängt." Glaubt er das wirklich? Deshalb würde Putin mit Atomwaffen drohen? Weil die glorreiche ukrainische Armee kurz vor dem Sieg steht?

Man könnte sich wenigstens etwas sicherer fühlen, wäre klar, dass das nur das Geschwätz fürs Volk ist, und sie in unbeobachteten Momenten reale Informationen zur Kenntnis nehmen. Aber Borrell lässt erkennen, dass er zwischen Erzählung, modisch Narrativ genannt, und Wirklichkeit nicht unterscheiden kann. Warum? Er berichtet, dass ihm "Leute sagen, mit diesen Gaspreisen können sie nicht weiterarbeiten". Mehr noch. Das sei "die gleiche Geschichte, die mir afrikanische, lateinamerikanische und ostasiatische Regierende erzählen". Die Überschrift, die er über diese Nachrichten aus der echten Welt setzt, lautet aber "Kampf ums Narrativ".

Als müsste man das nur etwas anders erzählen, und eine geschlossene Bäckerei ist nicht mehr geschlossen, und ein stillgelegtes Stahlwerk arbeitet wieder. Dabei geht es sowohl bei der Frage der Gaspreise und -versorgung wie beim Strom wie bei diversen Rohstoffen um harte, materielle Tatsachen, sprich, um Dinge, die sich nicht deshalb ändern, weil man sie anders erzählt. Offenkundig ist die Wahnvorstellung, alles, was nicht den eigenen Wünschen entspricht, sei nur russische Propaganda, den Herrschaften inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie nur noch ihr eigenes NATO-Disneyland als wirklich gelten lassen.

Und da kann Schneewittchen auch die sieben Zwerge dazu bringen, die leeren Munitionsdepots wieder zu füllen, damit man die Ukraine weiter beliefern kann. "Wir werden nachrüsten. Unsere Fabrik wird mehr produzieren können." Vermutlich kann er oder ein anderes Mitglied der Kommission auch Wasser zu Wein machen; anders dürfte es schwierig sein, an Stahl, Stickstoff und all die anderen Dinge zu kommen, die dafür gebraucht würden. Das neueste Sanktionspaket, das gerade in der EU durchgesetzt werden soll, sieht auch Sanktionen für russischen Stahl vor.

Das wäre von erschütternder Komik, ginge es nicht gleich mehrfach um Menschenleben. Borrell beklagt sich, dass Verhandlungen mit Moskau nicht möglich seien; aber es ist seine eigene Verhandlungsgrundlage, die sie unmöglich macht. Wer auch immer nach Moskau mit dem Vorschlag fährt, Russland möge die Krim, den Donbass und jetzt auch Cherson und Saporoschje an die Ukraine übereignen, wird dort allerhöchstens schallendes Gelächter auslösen. Nicht nur im Kreml; dafür genügt jede Straßenbahnhaltestelle. Da kann er sich noch so oft hinstellen und erklären, es bräuchte zwei, um einen Tango zu tanzen. Einen Tango, bei dem Borrell führt, wird es nicht geben.

Und auch hier ist die harte, materielle Welt die Grundlage. Der russische Außenminister Sergei Lawrow hat in seiner Rede bei der UNO-Vollversammlung noch einmal die ganze Vorgeschichte durchdekliniert. Nichts davon war gelogen oder an den Haaren herbeigezogen. Kein einziger Satz. Und sie war einfach genug formuliert, dass selbst eine Annalena Baerbock im Stande hätte sein müssen, ihr zu folgen.

Gefragt, wie die EU auf die durch die Teilmobilisierung und die Referenden geänderte Lage reagieren werde, sagt Borrell tatsächlich "mehr vom Gleichen". Mehr Sanktionen. Die ökonomischen Folgen sind schließlich nur ein Narrativ. Eine Erzählung. Und:

"Wir werden weiter Waffen an die Ukraine liefern."

Sie müssten damit aufhören. Sie dürften keine weiteren Waffen mehr liefern. Sie müssten endlich eingestehen, dass sie den Wirtschaftskrieg ebenso verloren haben wie die militärische Auseinandersetzung. Weil jeder Tag, den dieser Krieg weiter geführt wird, eine sinnlose Vergeudung von Leben ist. Weil die Ziele, die ein Josep Borrell als Verhandlungsgrundlage nennt, nur in seinen Tagträumen real sind. Weil Millionen von Menschen in der EU vor dem wirtschaftlichen Untergang stehen, weil ein Haufen NATO-süchtiger, größenwahnsinniger nicht gewählter EU-Bürokraten und geistig schwer überforderter Politikersimulationen glauben, es wäre ihre Berufung, Russland zu unterwerfen.

Es ist ihnen nicht klar, dass einzig ein vollständiger Rückzug von der ukrainischen Bühne sie davor bewahrt, sich in einem Krieg mit Russland wiederzufinden. Und ja, es ist vielleicht eines der Probleme in der europäischen politischen Landschaft, dass auch die Wähler es nicht mehr gewöhnt sind, sich zu fragen: "Würde ich dieser Person mein Leben anvertrauen?" Es wäre ein interessantes Experiment, das einmal abzufragen. Scholz (der sich gerade in Volle-Hosen-Quarantäne begeben hat), Baerbock, Habeck, Lindner – würden Sie diesen Personen Ihr Leben anvertrauen? Irgendeinem davon? Oder Borrell, von der Leyen?

Je länger diese ganze Geschichte weitergeht, desto näher kommen die ewigen Beteuerungen "Wir müssen der Ukraine helfen" dem alten Nazispruch "Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen." Die geradezu begeistert vorgetragene Aussage von Liz Truss, ja, sie würde auf den roten Knopf drücken, auf jeden Fall würde sie das, ist symptomatisch für das ganze Personal. Sie riskieren jede Eskalation in der festen Überzeugung vollkommener Unschuld; sie sind bereit, alles zu zertrümmern, um am Ende doch nicht Recht zu behalten, weil sie nicht Recht behalten können. Sie sollten, sie müssten die Kulissen verlassen und einmal einen Blick auf die wirkliche Welt werfen; aber selbst die klarsten und deutlichsten Worte dringen bei ihnen nicht durch.

"Wir müssen weitermachen. Wir werden weiter Waffen an die Ukraine liefern. Wir müssen die Ukraine weiter unterstützen."

Können wir diese Chronik eines angekündigten Untergangs nicht zuschlagen und zur Vernunft zurückkehren? Es müssen irgendwo doch noch Menschen mit Verstand übrig geblieben sein, selbst in Westeuropa.

Mehr zum ThemaDas Ende aller Illusionen: Der Westen führt einen Krieg zur Zerstörung Russlands