Von Dagmar Henn
Am Montag veröffentlichte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf, den sie "Notfallinstrument für den Binnenmarkt" (Single Market Emergency Instrument: SMEI) betitelt. Dieser Entwurf sollte sehr aufmerksam gelesen werden, denn das ist ein wirtschaftlicher Putsch in der Europäischen Union (EU).
Seine Lektüre ist – wie bei allen EU-Normen – eine Qual, in diesem Fall ist die Qual allerdings eine doppelte. Sie liegt nicht nur in der angelsächsisch beeinflussten Diktion, sondern ebenso sehr im Inhalt. Begründet wird der umfangreiche Text mit Erfahrungen, die während Corona gemacht worden seien; tatsächlich würde dieses Gesetz der EU-Kommission Vollmachten verleihen, die als Grundlage einer ökonomischen Mobilisierung gelesen werden können.
Der Entwurf muss noch gebilligt werden durch das Europäische Parlament sowie den Rat der Europäischen Union, der mit den zuständigen Fachministern der Mitgliedsländer besetzt ist; er unterliegt aber nicht der Vorgabe einer Einstimmigkeit aller Mitgliedsländer, weil es sich nicht um Außenpolitik, sondern um EU- Wirtschaftspolitik und somit Innenpolitik handelt. Das heißt, die letztlich entscheidende Abstimmungsschwelle liegt bei mindestens 15 Ländern, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Alle übrigen Länder wären diesen Regelungen dann auch gegen ihren Willen so lange unterworfen, wie sie Mitglied der EU bleiben wollen.
In dem Entwurf sind zwei Stufen vorgesehen: ein Überwachungsmodus und ein Notfallmodus. Den Überwachungsmodus kann die Kommission selbständig erklären; für die Aktivierung des Notfallmodus braucht sie eine Zustimmung des Rates der EU, also exakt desselben Gremiums, das bald auch die wirkliche Entscheidung über den Entwurf treffen wird.
Es ist in dem gesamten Entwurf nur sehr allgemein von einer "Krise" die Rede, die "den Binnenmarkt bedroht". Nun kann man nicht leugnen, dass eine sehr schwere Form einer solchen Krise durch EU-Entscheidungen faktisch bereits ausgelöst wurde und gerade in der EU wirkt – die Krise, die durch die gegen Russland verhängten Sanktionen entstand. Und diese massive Krise betrifft sehr viele Güter, Dienstleistungen und Lebensnotwendigkeiten.
Um zu bewerten, was die EU-Kommission da mit SMEI versucht, muss man sich zuerst darüber im Klaren sein, dass es ihr keineswegs darum geht, etwa das Überleben der EU-Bürger in dieser Krise zu sichern; der Kommission geht es einzig um den Markt. Ein kleines Zitat aus der Presseerklärung dazu belegt das: "Der Notfallmodus legt Grundsätze fest, die von den Mitgliedsstaaten einzuhalten sind, wenn es gilt, die Freizügigkeit zu erleichtern und gegebenenfalls wiederherzustellen. Gleichzeitig wird es den Mitgliedsstaaten untersagt, spezifische Beschränkungen des freien Verkehrs krisenrelevanter Waren und Dienstleistungen zu erlassen, es sei denn, diese werden als gerechtfertigtes letztes Mittel eingesetzt."
Jetzt zur Definition des Begriffs "krisenrelevante Waren": " 'Krisenrelevante Waren und Dienstleistungen' sind Waren und Dienstleistungen, die für die Beantwortung der Krise unverzichtbar sind oder dafür, die Auswirkungen der Krise auf den Binnenmarkt während eines Binnenmarktnotfalls zu mildern."
Es gibt keine feste Liste solcher Waren, die Kommission lässt alle im Unklaren, was damit gemeint ist. Das bedeutet aber auch, weder Lebensmittel noch militärische Güter sind grundsätzlich ausgeschlossen. Wenn man sich an das Frühjahr dieses Jahres erinnert, als das Sonnenblumenöl plötzlich aus den Supermarktregalen in Deutschland verschwunden war und zur selben Zeit die ungarische Regierung einen Export von Sonnenblumenöl untersagte, so war das ein mögliches Beispiel, wann die EU-Kommission hätte eingreifen können, wäre dieses Gesetz bereits in Kraft gewesen.
Nun sind zwei Dinge dabei von zentraler Bedeutung. Zum einen reden wir in der wirklichen Welt von einer Krise, die auch Bereiche wie die Lebensmittelversorgung umfasst; ebenfalls dank entsprechender EU-Entscheidungen – nicht nur zur Sanktionierung von Erdgas, sondern zudem zur Verringerung des Einsatzes von Kunstdüngern –, was der Auslöser der niederländischen Bauernproteste war. Notfallversorgung in einer Lebensmittelkrise lässt sich aber nur von unten nach oben lenken, nicht von oben nach unten. Das Vorhaben der Kommission, solche Befugnisse an sich zu ziehen, was mit entsprechenden bürokratischen Abfragen gekoppelt ist, wäre das letzte Mittel, das unter solchen Umständen sinnvoll ist und Probleme lösen könnte.
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Notfallvorsorge und Notfallhilfe gehören zu den zentralen Aufgaben von Staaten und bilden mit den Kern ihrer Legitimität. Was die EU-Kommission hier zu übernehmen beabsichtigt, ist ein essentieller Bestandteil der staatlichen Souveränität. Im Interesse der Bevölkerung getätigte Notfallmaßnahmen etwa bei einer Krise in der Lebensmittelversorgung sind notwendigerweise gegen den Markt gerichtet, denn sie erfordern es, in dieser Situation ungeeignete Marktmechanismen aufzuheben. Jede historische Erfahrung belegt, dass andernfalls die lebenswichtigen Güter eben nicht der Bevölkerung zugutekommen, sondern für Spekulationen benutzt werden. Man muss sich nur die Vorgänge auf dem künstlich von der EU eingerichteten "Gasmarkt" ansehen, um zu erkennen, dass das heute noch so gilt wie seit Hunderten von Jahren.
Der Entwurf der Kommission stellt den Markt und sein Funktionieren selbst über elementarste Interessen der Bevölkerung, und diese Regeln treten an die Stelle jener, denen souveräne Staaten im Falle solcher Krisen zu folgen pflegen. Dabei gibt es zwischen der Kommission und den Regierungen der einzelnen Länder einen grundlegenden Unterschied – die Regierungen sind eigentlich noch immer ihren eigenen Bevölkerungen gegenüber verpflichtet (auch wenn viele das zur Zeit nicht befolgen), die EU-Kommission jedoch – ist niemandem Rechenschaft schuldig.
Mitgliedsstaaten der EU wird es während eines Binnenmarktnotfalls untersagt, Exportverbote oder Maßnahmen, die entsprechend wirken, über krisenrelevante Güter oder Dienstleistungen zu verhängen. Es ist also beispielsweise der ungarischen Regierung dann untersagt, den Export von Sonnenblumenöl zu verbieten, oder der slowenischen, die Abwanderung von im eigenen Land dringend benötigten Pflegekräften zu unterbinden. Ebenso ist es untersagt, zwischen Bürgern der EU zu unterscheiden. Nun nehme man einmal an, Deutschland käme in ernsthafte Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung und würde, den deutschen Notstandsplanungen zufolge, auf eine Versorgung über Lebensmittelkarten umstellen. Das wäre nach diesem Gesetzentwurf gar nicht möglich, weil allein die Ausgabe nur an im jeweiligen Ort ansässige Personen bereits gegen das Diskriminierungsverbot verstieße und grundsätzlich jeder EU-Bürger Anspruch auf Berücksichtigung hätte. Damit ist der eigentliche Zweck solcher Maßnahmen aber gar nicht mehr erfüllbar, der schließlich darin besteht, zumindest den Mangel vor Ort einigermaßen gerecht zu verteilen.
Aber es geht noch weiter. Im Falle eines Mangels an Dingen, die von der EU-Kommission als strategische oder krisenrelevante Güter klassifiziert werden, erhält die Kommission das Recht, in sämtlichen EU-Staaten nicht nur die vorhandenen Mengen, sondern gleichfalls auch noch alle Produzenten zu erfassen und durch direkte Anweisungen deren Produktionen zu priorisieren, eine Ausweitung anzuordnen oder die Lieferung in einen anderen EU-Mitgliedsstaat anzuweisen.
Das klingt bereits nach Kriegswirtschaft – und genau so ist das vermutlich auch gedacht. Eine Kriegswirtschaft, die dann von der korruptesten, undemokratischsten und bürokratischsten Struktur kommandiert wird, die in ganz Europa zu finden ist. Eine Struktur, die sich außerdem selbst das Recht zuspricht, Beschaffungen auf Rechnung von Mitgliedsstaaten vorzunehmen, selbst wenn diese dazu keinen spezifischen Auftrag erteilen.
Mit diesem Gesetz greift die EU-Kommission nach den noch verbliebenen Resten einer Souveränität ihrer Mitgliedsländer. Sie lässt sich zum Souverän ermächtigen, getreu der in Deutschland so beliebten Definition von Carl Schmidt, "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet". Wenn man beim Lesen dieses Entwurfs berücksichtigt, dass nirgendwo darin eine Anwendung auf den Bereich der Produktion von Rüstungsgütern ausgeschlossen ist, und die Prioritäten der EU-Kommission in der Vergangenheit im Blick hat, bei der immer das Wohl der Konzerne über dem Wohl der Bürger stand, dann kann einem Angst und Bange werden. Das Resultat hieße mit absoluter Sicherheit: Kanonen statt Butter.
Übrigens beschränken sich die Anweisungsbefugnisse, die sich die EU-Kommission erteilen lassen will, nicht nur auf große Unternehmen, sondern ebenfalls auf kleine und mittlere. Es gibt keine Grenze nach unten, und alle werden sie verpflichtet, gewünschte Daten zu liefern, oder eben auch, ihre Waren und Dienstleistungen nach den Vorgaben der Kommission zu liefern.
Auch wenn es (noch) auf den Sektor der Wirtschaft beschränkt ist, handelt es sich hier um ein Ermächtigungsgesetz, das mit der staatlichen Souveränität in der Bewältigung von Notfällen auch gleich die daraus abgeleiteten Entscheidungen jeglicher demokratischen Kontrolle entzieht. Mit diesem Gesetz verwandelt sich die EU in eine konzerngelenkte Diktatur – mit der EU-Kommission als ihrer Regierung.
Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser Entwurf noch weit genug verbreitet und zur Kenntnis genommen wird, ehe er verabschiedet werden kann, und sich somit noch rechtzeitig ausreichender Widerstand dagegen regt. Denn wenn er erst einmal verabschiedet ist, bleibt den EU-Mitgliedsstaaten nur noch eine Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen – diese EU zu verlassen. Und wer möchte wirklich miterleben, dass eine existentielle Krise so endet wie etwa die Renovierung der Gorch Fock?
Mehr zum Thema - Von Doppelmoral und Korruption: EU, Ungarn und die Ukraine