Von Timofei Bordatschow
Erstens würde solch ein wahrlicher Kannibalismus eher der politischen Kultur weniger entwickelter Länder ähneln, was kaum die Vorstellungen der russischen Politiker widerspiegeln dürfte. Zweitens sollten besser diejenigen die Opfer ihrer eigenen Aggression gegen Russland werden, die den Krieg in der Ukraine mit ihren Steuern finanzieren, nämlich die Industrie und die großen Unternehmen. Es kann nicht das Ziel Russlands sein, einfache Menschen auf eine solche Weise zu bestrafen. Und schließlich: Selbst wenn die Heizkosten in Europa ins Unermessliche steigen und es in den Wohnungen richtig kalt wird, wäre es naiv zu glauben, dies werde ein Grund für die Europäer sein, ihre politischen Führer zu stürzen.
Fangen wir mit Letzterem an. Entgegen einer bei uns weit verbreiteten Meinung, sind die Westeuropäer im Hinblick auf das alltägliche Leben nicht so verweichlicht. Jeder, der schon einmal in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland gelebt hat, und zwar nicht nur in der Sommerhitze, weiß: Unsere boshaften Nachbarn sind ziemlich resistent gegen Kälte und andere häusliche Unannehmlichkeiten. Gewiss gibt es in Europa eine beträchtliche Gruppe von Bürgern, die seit Jahrhunderten in jedem Zimmer einen Kamin anheizen würden und tagsüber buchstäblich Kerzen anzünden. Doch diese große und mittlere europäische Bourgeoisie hat so viel Reichtum angehäuft, dass die Bezahlung jeglicher Rechnung für sie kein ernsthaftes Problem ist. Wir sprechen natürlich von den reichen Ländern Westeuropas.
Alle übrigen Bewohner – die Europäer als übergroße Mehrzahl – haben längst gelernt, Entbehrungen stoisch zu ertragen. Sie wissen wirklich, wie man Heizung und Warmwasser sparen kann, und diese Gewohnheit hat sich in Westeuropa nicht über Jahrzehnte, sondern vielmehr über Jahrhunderte ihrer turbulenten Geschichte entwickelt. Auf die Beschwerden der russischen Stadtbewohner, die im Winter an Wärme im Haus gewöhnt sind, reagieren die Bürger der französischen Hauptstadt: Man könne sich ja einen warmen Pullover und Socken anziehen und im Pyjama unter zwei Decken schlafen. Dabei sprechen wir nicht von den Armen, denn in Europa ist die ganz normale Mittelschicht durchaus daran gewöhnt, in Sachen Heizung bescheiden zu leben.
Wenn also europäische Wähler mit Demonstrationen und Pogromen auf die Straße gehen, dann aus Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung und nicht wegen objektiver äußerer Umstände. Außerdem wird jetzt tatsächlich den Europäern mit Russophobie eingeheizt – selbst wenn langsam Zweifel durchdringen, dass allein Russlands an den dramatischen Entwicklungen schuld sei. Der Ausbruch der bewaffneten Kämpfe lässt dennoch alle Zweifel an der Richtigkeit der einheimischen Argumente weitgehend verstummen. Dass die erwachsenen Probleme nicht auf wirtschaftspolitische Fehler oder gar Korruption zurückzuführen sind, sondern angeblich auf den Kampf gegen Russland, versöhnt die Einwohner noch hinreichend mit der ungeliebten Realität. Und gleichzeitig können so die Regierungen ihrer unmittelbaren Zukunft relativ gelassen entgegensehen.
Eine andere Sache ist, dass man keine Branche der Industrie mit einem Pullover wärmen kann. Und hieraus erwächst tatsächlich die Möglichkeit, dass die kommende Saison ernsthafte Erschütterungen für Europa bringen wird. Allerdings sollten wir uns auch bei diesem Thema nicht auf Emotionen verlassen, sondern auf eine objektive Analyse des Standes der Dinge bei der wirtschaftlichen Abhängigkeit Europas von relativ billigem Gas aus Russland. Zunächst einmal fehlt es in der innenpolitischen Debatte akut an einer nüchternen Einschätzung, wie sehr die Industriegiganten in Deutschland und Frankreich von Energieträgerlieferungen aus Russland abhängig sind. Was können und was werden sie tun, um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien? Dies ist jetzt umso wichtiger, da die meisten Beobachter meinen, dass die 50-jährige Ära des Energiebündnisses zwischen Russland und Westeuropa zu Ende geht.
Leider bleibt diese Frage außerhalb unserer Betrachtungen, denn stattdessen wird davon ausgegangen, dass diese Abhängigkeit wie bisher gewohnt extrem groß ist. Nehmen wir an, dass dies so ist. Wissen wir dann aber auch, ob und wie tödlich die Auswirkungen sein werden? Zweifellos wird der Schlag sehr spürbar sein. Ich persönlich zweifle aber kaum daran, dass die Europäer mit gewissem Erfolg einen Ausweg suchen werden. Bislang sah man dort die Lösung in etwas hastigen Appellen und Ersuchen an die nahestehenden Nachbarn: Algerien, Norwegen oder Aserbaidschan. Die beiden Erstgenannten verfügen über die volle Souveränität und haben demzufolge eher kühl auf die Wünsche der Europäer reagiert. Baku ist weitaus abhängiger vom Westen und befürchtet zudem, wegen der eigenen Probleme mit Korruption und rückständigen Institutionen zu einer leichten Beute für subversive Bestrebungen der USA und ihrer Verbündeten zu werden. Auch das fragile Kasachstan befindet sich in einer vergleichbaren unkomfortablen Lage.
Derzeit wissen wir nicht, wie viel der Engpässe die Europäer unter den derzeitigen Bedingungen auf dem internationalen Markt "abfangen" können. Gleichzeitig gibt es historische Beispiele, wie diese Staaten in kritischen Situationen in der Lage sind, zusammenzukommen und nichttriviale Lösungen zu finden. So wurde beispielsweise in Zeiten der Ölkrise 1973 ein Ausweg in der Zusammenarbeit mit der UdSSR zusammenarbeitete und dem Bau von Kernkraftwerken gefunden. Und man sollte das damals formulierte Credo Westeuropas zumindest nicht geringschätzen: "Wir haben kein Erdöl, aber wir haben viele kluge Köpfe und Ideen."
Außerdem geht es hier nur um die Bedürfnisse einiger weniger Industrieländer in Westeuropa. Alle anderen – die südeuropäischen Länder, die Balten, Polen und Tschechen – könnten ihre Wirtschaftstätigkeit getrost einstellen. Für Deutschland wäre das in manchen Fällen nur von Vorteil, da es die Arroganz dieser osteuropäischen Agenten der USA dämpfen und auch die endgültige Unterwerfung Italiens und Spaniens ermöglichen würde. Letztendlich ist man in Berlin und Paris möglicherweise sogar ein wenig daran interessiert, Osteuropa wieder zu seiner wilden Ursprünglichkeit zurückkehren zu sehen.
Wir sollten uns auch nicht über die alltäglichen Schwierigkeiten der Europäer, ihr buchstäbliches Erfrieren in diesem Winter freuen. Schon deshalb nicht, weil es in schwierigen historischen Momenten besonders wichtig ist, die wichtigsten Errungenschaften der eigenen Zivilisation zu bewahren. Das macht Russland zu einer Großmacht und nicht zu einer "Menschenmasse", wie Nikolai Gogol die politische Natur unserer ukrainischen Brüder definierte. Das heißt, dass wir keine Freude über die bloße Tatsache der körperlichen Leiden eines Gegners empfinden, der uns nicht direkt vergleichbares Leid zugefügt hat.
Anstatt also die bevorstehenden Schwierigkeiten unserer engsten Widersacher im Westen mit Jubel zu begrüßen, sollten wir die Fragen nach der Zukunft ernst nehmen, insbesondere unserer eigenen. Wir wissen noch nicht, wie entwickelt die Infrastruktur für die energiepolitische Zusammenarbeit zwischen Russland und anderen wichtigen Abnehmern von Öl und Gas ist. Bisher scheinen die Dinge gut zu laufen, doch es ist offensichtlich, dass ein mit Europa vergleichbarer bisheriger Handelsumfang in Zukunft noch viel Zeit und Arbeit erfordern wird. Außerdem sollte es für Russland prinzipiell nicht darum gehen, einfach einen externen Käufer durch einen anderen zu ersetzen, obwohl dies eine jahrhundertealte Handelstradition ist.
Als ein plausibles Szenario wäre zu erwarten, dass ein enormer Anstieg der Energiepreise in Europa zu erheblichen Störungen der europäischen Industrie führen und die Regierungen dazu zwingen könnte, den Druck auf Russland in der Ukraine-Frage zu verringern. Es ist schwer etwas dagegen einzuwenden, dass dieses Szenario das Beste wäre und viele Leben retten würde. Aber angesichts der bisherigen Sturheit Europas und der völligen Gleichgültigkeit seitens der USA gegenüber den in Europa zu erwartenden Schwierigkeiten wäre es wohl zu gutgläubig, sich völlig darauf zu verlassen.
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Übersetzt aus dem Russischen
Timofei Bordatschow (geb. 1973) ist Doktor der Politikwissenschaften und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau sowie Programmdirektor beim Waldai-Klub. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik sowie insbesondere auf die russisch-europäischen Beziehungen spezialisiert.