Von Dagmar Henn
Eines kann man mit Sicherheit sagen – um die demokratischen Rechte ist es in Deutschland schlecht bestellt. Aber wie schlecht? Es gibt immer wieder einzelne Ereignisse, die bekannt werden und, wenn auch nicht im Mainstream, Empörung hervorrufen, aber es ist schwierig, ein Gesamtbild zu erstellen.
Die jüngste Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz ist allerdings symptomatisch für diesen Zustand. Was er auf seiner Rede beim GdP-Bundeskongress gesagt hat, ist schlimm genug:
"Friedlich seine Meinung zu äußern – das ist eines der wichtigsten Rechte in unserer Demokratie. Aber immer häufiger erleben wir, dass Kundgebungen von Extremisten gekapert werden; dass verfassungsfeindliche Parolen gebrüllt werden; dass friedlicher Protest in Gewalt umschlägt, so wie bei mancher Querdenker-Demo und manchem Protest gegen Corona-Schutzmaßnahmen. Dieser Missbrauch des Versammlungsrechts kann von uns nicht hingenommen werden."
Abgesehen davon, dass "Kapern" eigentlich nur für eine Situation angebracht wäre, in der eine Kundgebung zu einem völlig anderen Thema übernommen wird; ansonsten ist das eine schlichte Teilnahme, gleich, ob einem die Inhalte nun passen oder nicht, und damit eine gewöhnliche Ausübung des Versammlungsrechts.
Und man muss sich in Erinnerung rufen, welchen Ursprung das Wort "Verfassungsfeinde" hat. Der wirkliche juristische Begriff lautet "verfassungswidrig" und muss gerichtsfest belegt werden. "Verfassungsfeinde" wurde eingeführt, um all jene zu diskriminieren, gegen die ein juristisches Vorgehen nicht möglich ist, weil eine "Verfassungswidrigkeit" nicht nachgewiesen werden kann, die man aber dennoch, eben ohne gerichtsfeste Grundlage, zu Feinden erklären will. Der Begriff spielte eine zentrale Rolle bei den Berufsverboten der 1970er, und Innenministerien wie Verfassungsschutz können über ihn nach Belieben verfügen.
Bundeskanzler Olaf Scholz ist Jurist; ihm muss also sowohl die Unschärfe als auch die schwache Rechtsgrundlage dieses Begriffs klar sein. Wenn er ihn auf diese Art und Weise verwendet, dann, weil er genau diese Unschärfe in seinem Interesse nutzen will.
Die Twitter-Version seiner Aussage ist noch schärfer:
"Wehrhafte Demokratie" ist ein Begriff, der schon in den 1950ern genutzt wurde, um das Vorgehen gegen unliebsame politische Bewegungen (wie jene gegen die Wiederbewaffnung) zu rechtfertigen. Hintergrund ist die Theorie, die Weimarer Republik sei durch die Extreme, also durch Nazis wie durch Kommunisten, zerstört worden. Faktisch war ihr Untergang seit Hitlers Rede vor dem Düsseldorfer Club der Industriellen Ende 1932 beschlossene Sache. Die Justiz war nachweisbar auf dem rechten Auge blind, und mit SA und der aus den Freikorps rekrutierten schwarzen Reichswehr stand ein fertiger Unterdrückungsapparat zur Verfügung. Nicht Straßenkämpfe führten zum Untergang der ersten deutschen Republik, sondern die politischen Sympathien der Spitzen der Industrie und ihr Interesse an der Vorbereitung eines großen Krieges.
In der Endphase der Weimarer Republik war, nebenbei, eine zunehmende Einschränkung der demokratischen Rechte zu sehen. Opfer dessen wurden unter anderem Presseorgane wie die Weltbühne. Die Nazis hingegen blieben nach Hitlers "Legalitätseid" im Reichswehrprozess 1930 weitgehend unbelästigt.
Aber zurück in die Gegenwart. Was Scholz mit diesen Sätzen bestätigt hat, ist etwas, das sich bereits davor vermuten ließ: diese Bundesregierung beabsichtigt, Proteste gegen das von ihr verursachte Elend mit allen Möglichkeiten zu unterdrücken. Wenn man die Reaktionen auf Sahra Wagenknechts Rede im Bundestag betrachtet, ist es bereits die Erwähnung des Zusammenhangs von Sanktionen und Energiemangel, die als unzulässig behandelt wird. Dabei war diese Aussage bereits fast bis zur Unkenntlichkeit weichgespült, mit dem Kotau vor dem "russischen Angriffskrieg".
Die Vorgänge im Ministerium von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lassen ahnen, wie weit man zu gehen bereit ist. Wenn selbst Referenten in einem Ministerium, Fachleute, die dem begrenzt kompetenten Minister aus guten fachlichen Gründen widersprechen, daraufhin unter dem Verdacht einer Agententätigkeit überprüft werden (in vernünftigeren Zeiten wäre selbst der Verfassungsschutz ob dieser Anforderung vor Lachen unter dem Tisch gelegen), dann besagt das, dass niemand, wirklich niemand vor einer solchen Anschuldigung sicher ist,
Vor einigen Wochen wurde in einem Kommentar der Tagesschau geradezu gefordert, schärfer gegen "Kriegsbefürworter" vorzugehen. Das ist eine politische Standardtaktik, ein Thema erst von außen, über die Presse zu setzen, und dann aufzugreifen, weil es von der Bevölkerung so gewollt werde. In diesem Fall ist festzustellen, dass sich das Handeln inzwischen deutlich verschärft hat – inzwischen wurde der zweite Verein, der humanitäre Hilfe in den Donbass liefert, juristisch attackiert; es werden Strafbefehle für Facebook-Äußerungen verschickt, bereits für das Weiterverbreiten von Texten; ich weiß von einer Hausdurchsuchung, die einzig aufgrund der Vermutung stattfand, der Betroffene besitze eine russische Fahne (die nicht verboten ist); und es gibt diesen seltsamen Spionageprozess am OLG Düsseldorf, der darauf abzielt, den Vorwurf der Spionage auf Höhen zu schrauben, auf denen er zuletzt Ende der 1950er, Anfang der 1960er war, als bereits Kontakte in die DDR verdächtig machten.
Wie es um die Pressefreiheit bestellt ist, muss ich den Lesern von RT DE nicht gesondert erläutern. Schließlich müssen sie sich mühen, die Seite überhaupt zu erreichen. Und auch hier hat der übliche Vorlauf für eine weitere Verschärfung bereits begonnen.
Die Richtung war bereits mit dem Auftauchen von Begriffen wie "Putintroll" und "Russlandversteher" im Jahr 2014 absehbar. Solche Worte dienen dazu, durch ständigen Gebrauch die Vorstellung zu verbreiten, Menschen, deren Ansichten nicht dem russophoben Wahn der NATO entsprechen, hätten nicht schlicht eine andere Überzeugung, die sie auch äußern, sondern täten dies in fremdem Auftrag. Der Vorlauf zwischen diesem Beginn und der inzwischen festzustellenden realen Verfolgung ist deshalb so lang, weil anders als in den 1950ern nicht mehr direkt auf die Nazipropaganda zurückgegriffen werden konnte.
Mit der neuen Kategorie "Delegitimierung des Staates", die in den Verfassungsschutzberichten auftaucht, ist bereits der Boden bereitet, um im Grunde jeden Protest gegen die Regierung, der über eine Bittprozession hinausgeht, für unzulässig und "verfassungsfeindlich" zu erklären. Das muss man dann im Zusammenwirken mit der obigen Aussage von Scholz sehen, dass "verfassungsfeindliche Parolen" einen Missbrauch des Versammlungsrechts darstellten. Konkret könnte das bedeuten, dass Plakate mit einem schlichten "Weg mit dieser Regierung!" nicht gezeigt werden dürfen, könnte aber ebenfalls heißen, dass die Versammlungen selbst, die solche Forderungen aufstellen, verhindert oder zerschlagen werden. Zu einem Zeitpunkt, an dem genau dies, ein Ende dieser Regierung und der Sanktionspolitik, eine existentielle Frage für viele Menschen sind, und die Legitimität des Regierungshandelns objektiv fragwürdig ist, eine Aussage, die Schlimmes befürchten lässt.
Rechtlich hat sich die Bundesregierung mit der Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes eine Fortsetzung des Notstands verschafft. Wenn wir uns erinnern, wie letztes Jahr Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen verhindert wurden, erklärt sich schnell, warum in Deutschland immer noch solche Maßnahmen gelten, während die WHO überlegt, die Pandemie für beendet zu erklären. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil zu den Maßnahmen bereits belegt, dass es für den Schutz demokratischer Rechte nicht mehr zu gebrauchen ist. Demonstrationen unter freiem Himmel wegen vermuteter Nichteinhaltung der Maskenpflicht zu verbieten, ist sicher eine große Versuchung, wenn man den meisten Deutschen das Leben derart zur Hölle macht, wie diese Bundesregierung es tut. Zorn äußert sich nicht mit Masken und eineinhalb Metern Abstand.
Die Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes ist auch nützlich, weil sie die verfassungsrechtliche Schwelle für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren bereits mit beseitigt. Nachdem eine reale Prüfung, ob wirklich Gesundheitsgefahren vorliegen oder nicht, beim Verfahren um die Maßnahmen vom Bundesverfassungsgericht verweigert wurde, ist es damit ins Belieben der Regierung(-en, die Landesregierungen sind mitbeteiligt) gestellt, eine solche Gefahr zu sehen oder nicht, und auf die Möglichkeiten zurückzugreifen, die dieses Gesetz liefert. Wer sagt denn, dass man, um den Ansturm auf sich leerende Supermärkte zu verhindern, nicht wieder auf die Beschränkung der Zahl der eingelassenen Kunden zurückgreift und dabei die Hilfe der Bundeswehr nutzt, weil die Begründung nicht über die Versorgungslage, sondern über das Infektionsschutzgesetz konstruiert wird?
Es wird jetzt sichtbar werden, was mit diesem Urteil im vergangenen Jahr eigentlich geschehen ist. Die Existenz demokratischer Rechte wurde ins Belieben der Regierung gestellt. Das bedeutet notwendigerweise, dass sie nicht mehr existent sind, sobald man sie ausüben will. Denn der Sinn dieser Rechte besteht eben nicht darin, es zu ermöglichen, der Regierung zuzujubeln; sie sind Schutzrechte, um die Bürger vor der Regierung zu schützen. Die nur auf Grundlage von Recht und Gesetz handeln darf.
Die Erosion ist hier bereits sehr weit fortgeschritten. Dazu genügt ein Blick auf den aktuellen Stand im Fall Alina Lipp. Nachdem erst der jungen Frau selbst das Konto gesperrt worden war, wurde inzwischen auch das der Mutter gesperrt und das darauf befindliche Geld wurde auf ein Sperrkonto gebucht. Ohne einen vorliegenden richterlichen Beschluss übrigens. Das eigentlich Schockierende daran ist allerdings, dass das bundesdeutsche Recht keine juristische Verantwortung von Eltern für volljährige Kinder kennt, es also für eine solche Sperrung keine Rechtsgrundlage gibt. Schlimmer noch – für das, was da praktiziert wurde, gib es einen Begriff. Er lautet Sippenhaft. Das ist ein Wort aus der Nazijustiz.
Um bestimmen zu können, was als Reaktion auf Proteste zu erwarten ist, kann und muss man die gesamte Geschichte um die Corona-Maßnahmen als Muster betrachten. Völlig unabhängig davon, ob und wie sehr man eine Bedrohung durch COVID-19 sah und sieht, diese Zeit liefert ein Muster dafür, was in Deutschland alles durchsetzbar ist. In dem Scholz-Zitat findet sich auch das Wort "Querdenker", das in jener Zeit eine grundsätzliche Umdeutung erfahren hat; davor war es schließlich ein Begriff, der unabhängige Intellektuelle bezeichnete. Während die Durchsetzung der ersten Begriffe "Putintroll" und "Russlandversteher" sich noch über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinzog und noch Reste in der Medienlandschaft übrig waren, die nicht in den Chor mit einstimmten, wurden "Querdenker" und "Corona-Leugner" in wesentlich kürzerer Zeit etabliert. Gleichzeitig lieferten die Maßnahmen verlässliche Zahlen über das in Deutschland vorhandene Denunziationspotential. Und es wurde kenntlich, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung durchaus auf Kommando bereit ist, sich hasserfüllt gegen andere Teile der Bevölkerung zu wenden, sofern das Kommando dazu von oben kommt.
Wir haben also folgende Lage: nicht nur die Ausübung, selbst die Existenz der Bürgerrechte sind völlig ins Belieben der Regierung gestellt; in manchen Bereichen, wie bei der Meinungsfreiheit, sind sie bereits bis auf einen kärglichen Rest beseitigt. Die Justiz ist, bis in die höchste Ebene, bereit, im Sinne der Regierung und nicht im Sinne der Verfassung zu handeln. Die Polizei hat sich bisher als ebenso dienstbar erwiesen. Strafverfahren auf einer Grundlage, die mit "fragwürdig" noch beschönigt würde (gleich, ob gegen "Querdenker" oder "Kriegsbefürworter"), nehmen zu und können jederzeit ausgeweitet werden; gleichzeitig ist über die Neudefinition von Spionage, die gerade in Arbeit ist, eine Grundlage in Reichweite, gar nicht erst mit Strafbefehlen anzufangen, sondern gleich zu verhaften.
Ein existentiell nötiger Protest wird bereits, wie heißt das so schön, "eingeordnet", also für illegitim erklärt; was das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Exekutive, das in einer Demokratie üblich sein sollte, auf den Kopf stellt. Für die Organe des Staates ist nicht die Regierung, deren Mitglieder in die Welt posaunen, es sei ihnen egal, was ihre Wähler denken, die Bedrohung der Verfassung, sondern jene, die versuchen, ihre Existenz vor dem von dieser Regierung verhängten Ruin zu retten.
Das Mindeste, was an Maßnahmen zur Protestverhinderung zu erwarten ist, sind Kontensperrungen bei möglichen Organisatoren, die Verhinderung der Buchung von Transportmitteln zu zentralen Demonstrationen und jede Form von Denunziation gegen sichtbare Einzelpersonen. Das Schlimmste, was erwartet werden kann, ist der Einsatz massiver Gewalt, womöglich unter Einbeziehung der Bundeswehr und unter Überschreitung aller in der bundesdeutschen Geschichte bisher gehaltenen Grenzen (wie Schusswaffengebrauch). Dazwischen könnte eine Beschleunigung der juristischen Verfolgung mit deutlicher Ausweitung liegen, beispielsweise indem jede Forderung nach einem Ende der Sanktionen verboten und entsprechend geahndet wird.
Nicht vergessen sollte man allerdings auch die ukrainischen Hilfstruppen, die importierten Ukronazis, denen viel Spielraum gewährt wird und die längst damit beschäftigt sind, auch in Deutschland einzuschüchtern, zu bedrohen und zu verfolgen. Sie dienen als eine Art importierter SA, die ebenfalls jederzeit das Niveau ihres Terrors bis auf die aus ihrer Heimat gewohnte Ebene erhöhen kann.
Die Mitglieder dieser Bundesregierung wissen, dass sie der eigenen Bevölkerung gegenüber feindselig handeln und bekunden offen, zum Einsatz aller Mittel bereit zu sein, um die Macht zu halten. Alle Barrieren, die einen plötzlichen Umschlag in die Diktatur verhindern hätten können und sollen, sind bereits gefallen. Die wirklichen Verfassungsfeinde sitzen an den Hebeln der Macht.
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