Von Alexei Sakwasin
Vor 80 Jahren verabschiedete der Generalstab der Roten Armee eine Direktive über die Erfassung von Militärangehörigen in Strafeinheiten. Dieses Dokument folgte dem bekannten Befehl № 227 mit der Ermahnung "Keinen Schritt zurück" und der Vorschrift, getrennte Einheiten aus schuldigen Soldaten und Offizieren zu bilden. Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden Hunderte solcher Einheiten geschaffen, die an den gefährlichsten Stellen der Front operierten und daher schwere Verluste erlitten. Entgegen dem weit verbreiteten Mythos waren die bestraften Soldaten jedoch kein Kanonenfutter und kämpften Seite an Seite mit den regulären Truppen, so die Historiker.
Am 28. August 1942 erließ der Generalstab der Roten Armee die Direktive № 989242 über die Erfassung von Militärangehörigen, die den Strafbataillonen und Strafkompanien zugeteilt wurden. Dies war eines der Dokumente, das der Auslegung des bekannten Befehls № 227 "Keinen Schritt zurück" diente, der am 28. Juli 1942 vom Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR, Josef Stalin, unterzeichnet wurde.
Die Direktive № 989242 wurde an die Stabschefs der Fronten und der 7. selbständigen Armee gesandt. Sie enthielt die Anweisung, den Generalstab zweimal im Monat "über die Größe des veränderlichen Truppenkontingents in den Strafbataillonen und –kompanien" zu informieren und führte auch die zu liefernden Daten auf.
Sühne durch Blut
Zur Erinnerung: In dem Dokument, das als Befehl "Keinen Schritt zurück" bekannt wurde, wies Stalin auf die mangelnde Disziplin in den Reihen der Roten Armee hin. Zur Verbesserung der Situation rief er dazu auf, auf die Erfahrungen mit der Bildung von Strafeinheiten zurückzugreifen, die seiner Meinung nach vom Feind erfolgreich eingesetzt wurden.
"Nach ihrem winterlichen Rückzug unter dem Ansturm der Roten Armee ... die Deutschen ergriffen einige harte Maßnahmen zur Wiederherstellung der Disziplin, mit gutem Erfolg. Sie bildeten mehr als 100 Strafkompanien von Soldaten, die sich durch Feigheit oder Laxheit der Disziplin schuldig gemacht hatten, versetzten sie in gefährliche Frontabschnitte und befahlen ihnen, für ihre Schuld mit Blut zu büßen",
bemerkte der sowjetische Staats- und Parteichef.
Seinen Worten zufolge bildete die Wehrmacht zusätzlich etwa ein Dutzend Strafbataillone aus Kommandeuren, die sich als feige erwiesen und wegen Disziplinarverstößen ihre Abzeichen verloren hatten, wonach "sie in noch gefährlichere Frontabschnitte versetzt wurden".
"Schließlich wurden spezielle Sperrkommandos gebildet, die, hinter instabilen Divisionen aufgestellt, die Anweisung erhielten, in Panik geratene Soldaten auf der Stelle zu erschießen, falls sie versuchen sollten, ihre Stellungen eigenmächtig zu verlassen oder sich zu ergeben",
schrieb Stalin.
Bei der Analyse der Erfahrung des Kriegsgegners kam er zu dem Schluss, dass die Deutschen in der Lage waren, die militärische Disziplin zu verbessern, "obwohl sie nicht das erhabene Ziel der Verteidigung ihres Heimatlandes haben".
In diesem Zusammenhang verbot Stalin im Namen des Oberkommandos der Roten Armee den Rückzug von Truppen ohne den Befehl der Front- und Armeeführung und ordnete an, Straf- und Sperreinheiten zu schaffen.
Laut Befehl № 227 sollte das Kommando jeder Front je nach Lage ein bis drei Strafbataillone mit je 800 Mann bilden. In diese Einheiten sollten Politkommissare sowie mittlere und höhere Kommandeure strafversetzt werden, die sich eines "Verstoßes gegen die Disziplin aufgrund von Feigheit oder Laxheit" schuldig gemacht hatten. Den Strafbataillonen war die Operation an den schwierigen Abschnitten der Frontlinie übertragen worden.
Die Strafkompanien wurden wiederum innerhalb der Armeen gebildet. Die von Stalin festgelegte "Quote" war ebenfalls gering – fünf bis zehn Kompanien mit 150-200 Mann. Sie bestanden aus Gefreiten und Kommandeuren des unteren Dienstgrades. Genau wie die Strafbataillone sollten sie an den schwierigsten Frontabschnitten "mit Blut für ihre Verbrechen vor dem Vaterland büßen".
Der führende wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Militärgeschichte des Ministeriums für Verteidigung der Russischen Föderation, Wladimir Daines, bemerkte, dass der sowjetische Staatschef in seiner Anweisung № 227 nicht erwähnte, dass die Bolschewiki noch während des Bürgerkriegs auf Strafeinheiten zurückgriffen, was Stalin, der zu der Zeit Mitglied des Revolutionären Militärrats war, nicht unbekannt sein konnte.
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die erste Strafkompanie der sowjetischen Streitkräfte noch vor der Bekanntgabe des Befehls № 227 gegründet wurde. Sie erschien am 25. Juli 1942 in der 42. Armee an der Leningrader Front.
In einem Gespräch mit RT sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter vom "Museums des Sieges", Andrei Gorbunow, dass in der Schaffung von Strafeinheiten nichts Neues sei. Ihm zufolge gibt es seit der Antike ähnliche Verbände in verschiedenen Erscheinungsformen:
"Die Sowjetunion und Stalin waren keine Pioniere, was die Schaffung von Strafeinheiten angeht. Zu allen Zeiten gab es Soldaten und Offiziere, die sich Plünderungen, Gewalt, Feigheit und Desertion erlaubten. Ihnen drohte entweder eine harte Strafe bis hin zur Todesstrafe oder ein besonders gefährlicher Dienst, um ihre Schuld zu begleichen."
Der Historiker unterstrich, dass sich die Sowjetunion unter den Bedingungen des Großen Vaterländischen Krieges sich nicht erlauben konnte, verschwenderisch mit menschlichen Ressourcen umzugehen. Diesbezüglich, so Gorbunow, habe Stalin eine vernünftige Entscheidung getroffen: die Bildung von Angriffstruppen aus Militärangehörigen, die unter anderen Umständen hätten inhaftiert werden müssen.
"Im Namen des Vaterlandes"
Der Befehl № 227 erreichte die Truppen auf der Stelle. Bis Ende Juli 1942 wurden in der Roten Armee etwa 80 Strafkompanien und fünf Bataillone gebildet.
Wie Daines feststellte, hatten die sowjetischen Soldaten und Offiziere eine ambivalente Haltung zu dem Befehl "Keinen Schritt zurück", worüber die Berichte der Staatssicherheit und der politischen Abteilung, welche die Stimmung der Truppen beobachteten, Aufschluss gaben.
So steht im Sonderbericht des Leiters der Sonderabteilung des NKWD der Stalingrader Front, des Obersten Majors der Staatssicherheit, Nikolai Seliwanowski, vom 8. August 1942 geschrieben, dass die Reaktion der Kommandeure der Roten Armee widersprüchlich war. Ein Zitat aus diesem Dokument:
"Im Führungsstab wurde der Befehl richtig verstanden und gewürdigt. Inmitten der allgemeinen Aufmunterung und der korrekten Einschätzung des Befehls ist allerdings eine Reihe negativer, antisowjetischer Defätismus-Stimmungen zu verzeichnen, die von einzelnen labilen Kommandeuren geäußert werden."
Der Marschall der Sowjetunion Alexander Wassilewski schrieb in seinem Buch "Sache eines ganzen Lebens", dass er und viele andere Generäle in ihrer Beurteilung des Befehls "eine gewisse Härte und Unnachgiebigkeit" sahen. Gleichzeitig waren diese Maßnahmen aus Sicht eines militärischen Befehlshabers durch die ernste Lage, in der sich die Armee und das Land befanden, gerechtfertigt.
"Der Befehl № 227 ist eines der kraftvollsten Dokumente der Kriegsjahre im Hinblick auf die Tiefe seines patriotischen Inhalts und den Grad seiner emotionalen Intensität ... Der Befehl hat uns zuallererst durch seinen sozialen und moralischen Aspekt angesprochen. Er erregte die Aufmerksamkeit mit seiner rauen Wahrheit, mit der Unbefangenheit seiner Ansprache des Volkskommissars und Oberbefehlshabers Stalin an die sowjetischen Krieger, vom einfachen Soldaten bis zum Heerführer. Beim Lesen hat sich jeder von uns gefragt, ob wir unsere gesamte Kraft in den Kampf stecken. Wir wussten, dass die Brutalität und der kategorische Charakter des Befehls im Namen des Vaterlandes und des Volkes erfolgten, es war nicht wichtig, welche Strafen verhängt werden würden, (...) es schärfte das Verantwortungsbewusstsein der Krieger ... Und diejenigen Disziplinarmaßnahmen, die per Befehl eingeführt wurden, hörten schon vor der Gegenoffensive der sowjetischen Streitkräfte bei Stalingrad und der Einkreisung der deutschen Streitkräfte an der Wolga auf, eine unerlässliche, unabdingbare Notwendigkeit zu sein",
rief Wassilewski in Erinnerung.
Erwähnenswert ist, dass der gerühmte Kriegsherr zu den Unterzeichnern der Direktive gehörte, welche die Schaffung von Strafkompanien in den Panzertruppen vorsah. Am 9. September wurde ein ähnliches Dokument in Bezug auf die Piloten angenommen. Diejenigen Piloten, die sich den Kampfeinsätzen entzogen, wurden entweder zu Strafgeschwadern oder zur Infanterie geschickt.
Der Geltungsbereich des Befehls № 227 wurde später auf schuldig gewordene "Osobisten" [die Besonderen] ausgeweitet. Das waren Militärangehörige, die sich dem Feind kampflos ergaben, Befehlshaber, die die Lebensmittelversorgung der Einheiten unterbrachen, sowie Bürger, die mit den Besatzern kollaborierten.
Insgesamt gab es etwa 30 Kategorien von Personen, die den Strafeinheiten zugewiesen werden konnten. Im ersten Jahr des Inkrafttretens des Befehls № 227 wurden manchmal sogar Frauen zu Bestraften erklärt. Im September 1943 erließ der Generalstab jedoch eine Direktive, wonach die Rekrutierung von verurteilten Frauen in die Strafeinheiten eingestellt wurde.
Die Bildung und der Einsatz von Strafbataillonen und Strafkompanien erfolgten nicht immer in dem Rahmen, der von der sowjetischen Führung gefordert wurde. So entsandte der Vertreter des Volkskommissariats für Verteidigung, Marschall Georgi Schukow, im März 1943 eine Direktive an die Befehlshaber der Front mit der Aufforderung, die Zahl der Strafeinheiten zu verringern und einen "ziellosen Aufenthalt im Hinterland" dieser Schuldigen zu vermeiden.
Dennoch, so Daines, bezeugten die meisten Frontsoldaten, dass in den Strafkompanien dank einer gut organisierten politisch-pädagogischen Arbeit Ordnung herrschte. Außerdem erhielten die Verbände, sofern die Zeit dafür vorhanden war, eine zusätzliche Ausbildung, bevor sie in den Kampf zogen, damit sie die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen konnten.
Sie waren kein Kanonenfutter
Die Größe des sogenannten veränderlichen Truppenkontingents der Strafeinheiten in der Roten Armee betrug 24.993 Personen am Ende von 1942 und 177.694 im Jahr 1943, schreibt Generaloberst Grigori Kriwoschejew, Professor an der Akademie der Militärwissenschaften, in seinem Buch "Russland und die UdSSR in den Kriegen des 20. Jahrhunderts: Verluste der Streitkräfte" unter Bezugnahme auf archivierte statistische Dokumente. Später sank die Zahl der Bestraften: 143.457 Personen waren es im Jahr 1944 und 81.766 im Jahr 1945. Insgesamt wurden während des gesamten Krieges 427.910 Personen in Strafbataillone und Strafkompanien strafversetzt.
Die Angaben über die Anzahl der Strafeinheiten sind in der nationalen Geschichtsschreibung immer noch sehr unterschiedlich. In der Liste № 33 der Schützenabteilungen und Untereinheiten, die vom Generalstab zu Anfang der 1960er-Jahre zusammengestellt wurde, heißt es, dass während des gesamten Großen Vaterländischen Krieges 65 Strafbataillone und 1.028 Strafkompanien gebildet wurden.
Dagegen stellte Justizoberst Andrei Moros fest, dass im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums nur Unterlagen über 38 Strafbataillone und 516 Strafkompanien lagern.
Daines unterstrich, dass die Bestraften – entgegen eines verbreiteten Mythos – kein Kanonenfutter waren, denn ihnen sind praktisch dieselben Aufgaben wie die regulären Schützeneinheiten der Roten Armee zugeteilt worden. Dabei erlitten sie tatsächlich große Verluste, weil sie in den gefährlichsten Abschnitten der Front operierten. Im Jahr 1944, als an allen Fronten Offensivoperationen durchgeführt wurden, betrugen die durchschnittlichen monatlichen Verluste in allen Strafeinheiten 14.191 Mann oder 52 Prozent ihrer durchschnittlichen Stärke. Dieser Wert war drei- bis sechsmal höher als bei normalen Truppen, die an den gleichen Operationen beteiligt waren. Diese Zahlen werden von Kriwoschejew aufgeführt.
In den meisten Fällen wurden die Bestraften fristgerecht auf Anweisung des Volkskommissars für Verteidigung und seiner Stellvertreter entlassen. Außerdem wurden die Krieger der Strafeinheiten für ihren Mut und ihr Heldentum in den Kämpfen mit Orden und Medaillen ausgezeichnet, und einige von ihnen erhielten sogar den Titel "Held der Sowjetunion".
"Die Strafeinheiten waren generell standhaft und tapfer in der Verteidigung. Sie nahmen Teil an der Überquerung von Wasserhindernissen, der Einnahme und der Verteidigung von Brückenköpfen, an Kampfhandlungen im Rücken des Feindes",
schrieb Daines.
Nach Einschätzung Gorbunows kämpften die Strafeinheiten "nicht besser und nicht schlechter als andere Einheiten". Allerdings, so dieser Experte, waren sie zahlenmäßig verhältnismäßig klein und haben keine strategisch wichtigen Aufgaben zu erfüllen gehabt.
"Die Massenkultur hat es sich zur Gewohnheit gemacht, die Bestraften zu romantisieren. Doch ein solches Erscheinungsbild kann kaum als angemessen bezeichnet werden. Die Strafeinheiten wurden nicht in den Tod geschickt, und generell waren sie in ihrer Zahl begrenzt. Sicher, sie waren oft die ersten, die nach der Vorbereitung durch die Artillerie zum Angriff übergingen, aber ihr Beitrag zum Sieg ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den gigantischen Anstrengungen der regulären Streitkräfte und unseres Volkes",
resümiert Gorbunow.
Von Alexei Sakwasin, Korrespondent bei RT und politischer Kolumnist bei der online Zeitschrift "Russkaja Planeta". Er studierte Internationale Beziehungen an der HSE-Universität in Moskau.
Übersetzt aus dem Russischen
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