Ein Kommentar von Timofei Bordatschow
Für Russland, mit seiner einzigartigen geopolitischen Lage, ist es grundsätzlich schwierig, die geografischen Prioritäten seiner Außenbeziehungen zu bestimmen. Dies umso mehr, als der enorme natürliche Reichtum des Landes und die Fähigkeit, sich vollständig mit Ressourcen selbst zu versorgen, es im Prinzip unnötig macht, die Außenbeziehungen als einen existenziellen Teil der eigenen Entwicklungsstrategie zu betrachten.
Es ist unbestritten, dass alle außenpolitischen Erklärungen Moskaus der vergangenen zwei Jahrzehnte, einen fast rituellen Hinweis darauf enthielten, dass das Ziel der Außenpolitik Russlands darin besteht, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu sichern. Betrachtet man jedoch das Fundament, auf dem die russische Staatsstruktur steht, dann bedeutet das in der Praxis, dass die Aufrichtigkeit dieser Zusicherungen mit Vorsicht zu genießen ist. In Wirklichkeit ist Russland – wie sein geostrategischer Hauptgegner, die USA – eines von nur zwei Ländern der Welt, das, zumindest grundlegend, überlebensfähig wäre, wenn es sich vollständig auf die heimischen Ressourcen verlassen müsste.
Trotz der Beteuerungen über die Bedeutung der Außenwirtschaftsbeziehungen legt Russland die eigentlichen Prioritäten seiner Außenpolitik nicht auf der Grundlage der Chancen fest, die ein externes Umfeld bieten kann, sondern auf der Grundlage potenzieller Bedrohungen, die seine Fähigkeit zur Verwaltung seiner eigenen Ressourcen einschränken könnten.
Das Ergebnis ist eine Außenpolitik, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Bedrohungen abzuwehren und erst in zweiter Linie darauf, Chancen zu nutzen. Und es muss zugegeben werden, dass viele diplomatische Initiativen Russlands der vergangenen Jahre mit diesem unüberwindbaren Problem konfrontiert waren, darunter vor allem die Ausrichtung nach Osten, eine Strategie, die vor einem Jahrzehnt von einheimischen Denkern formuliert und durch Erklärungen auf höchster Ebene untermauert wurde.
Der rein materialistische Charakter dieser Politik hatte zunächst große Schwierigkeiten, mit der russischen außenpolitischen Tradition zu interagieren – und vor allem mit dem System beim Setzen von Prioritäten. Der Versuch, die Eliten von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Beziehungen zu den asiatischen Ländern zu intensivieren, weil dies erhebliche materielle Vorteile mit sich bringen würde, stieß auf ein objektives Hindernis: Es bestand keine Notwendigkeit, sich in Richtung Westen anzustrengen. Dies lag daran, dass materielle Vorteile von dort vergleichsweise leicht zu erzielen waren, da man sich auf die über Hunderte von Jahren aufgebauten Verbindungen zu anderen großen europäischen Akteuren stützen konnte. Infolgedessen waren im Jahr 2019 etwa 80 Prozent der Investitionen im Fernen Osten Russlands einheimischen Ursprungs. Diese Region, die größer als die Europäische Union ist, hat nur etwa 7 Millionen Einwohner und ist politisch um die Städte Wladiwostok und Chabarowsk zentriert.
Vielleicht wegen wirtschaftlicher Beschränkungen, ist die Strategie der Ausrichtung nach Osten, konkret nicht über den Aufbau wirklich starker Beziehungen zu China hinausgekommen, mit dem Russland nun begonnen hat, um die wirklich entscheidenden Fragen der internationalen Ordnung anzugehen. In jeder anderen Hinsicht ist die östliche Ausrichtung ein wichtiges rhetorisches, aber nur schwach realisiertes Feld für den russischen Staat geblieben. In den vergangenen zehn Jahren hat Moskau seine Präsenz in verschiedenen asiatischen internationalen Formaten jedoch erheblich ausgebaut, seine Beteiligung an verschiedenen zwischenstaatlichen Foren erhöht und damit begonnen, mehr über den Osten nachzudenken und dessen Platz im eigenen außenpolitischen System zu verstehen.
Die Beziehungen zu China lassen sich nicht nur als Ergebnis der in den letzten zehn Jahren intensivierten Interaktionen in Asien betrachten. Die Beziehungen zwischen Moskau und Peking sind strategischer Natur und beruhen auf einer gemeinsamen Vision einer gerechteren internationalen Ordnung, die nicht von einer kleinen Gruppe von Staaten dominiert wird.
Außerdem teilen sich Russland und China die Verantwortung für die Stabilität eines großen Teils Eurasiens. Die bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich in dem Bewusstsein, dass sich die beiden Staaten eines Tages tatsächlich gemeinsam den Versuchen der USA und ihrer Verbündeten widersetzen müssen, die Kontrolle über die Weltwirtschaft und -politik zurückzuerlangen.
Auch wenn wir anerkennen, dass dies die naheliegendste Interpretation der Art, des Inhalts und der Ergebnisse von Russlands Hinwendung zum Osten ist, können wir die potenziellen Auswirkungen des anhaltenden politischen und militärischen Konflikts in Europa auf die Politik nicht ignorieren. Zudem haben die meisten Beobachter seit Anbeginn argumentiert, dass ein faktischer Bruch mit dem Westen zwangsläufig zu einer Stärkung der Beziehungen Russlands zu nichtwestlichen Staaten führen wird, von denen die asiatischen Länder wirtschaftlich und entwicklungspolitisch die wichtigsten sind.
Vor dem Hintergrund massiver Maßnahmen im gegenwärtigen Wirtschaftskrieg der westlichen Länder gegen Moskau, hat sich Asien zum wichtigsten Abnehmer traditioneller russischer Exporte entwickelt, ist zu einer Quelle technologischer Produkte und zu einem vorrangigen Handels- und Wirtschaftspartner geworden. Viele Beobachter meinen sogar, dass die Weiterentwicklung der Beziehungen zu China und dem restlichen Asien, die traditionellen Partnerschaften Russlands im Westen "ersetzen" sollten.
Mit anderen Worten: Der aktuelle Konflikt zwischen Russland und den USA und ihren europäischen Verbündeten – eigentlich eine hybride Kriegsführung – könnte als jener Umstand angesehen werden, durch den eine Ausrichtung nach Osten nicht länger eine Wahl war, sondern zu einer Notwendigkeit wurde. Das zwang Moskau dazu, es wirklich ernst zu meinen. Dies ist eine ziemlich neue Situation für Russland, da es sich in seiner Geschichte nie damit auseinandersetzen musste, sich intern von der Nachhaltigkeit der Interaktion mit dem einen oder anderen externen Partner abhängig zu machen. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, bleibt abzuwarten. Es lassen sich aber bereits einige Vermutungen anstellen, die in direktem Zusammenhang mit der Bedeutung der Beziehungen Russlands zu Asien in den kommenden Jahren stehen.
Erstens sind die Beziehungen zu China – und insbesondere zu anderen asiatischen Staaten – nicht der Weg, um existenzielle Probleme zu lösen, selbst wenn man bedenkt, dass die Zusammenarbeit mit außereuropäischen Partnern im Energiebereich ein wichtiger Faktor für die künftige Nachhaltigkeit der russischen Haushaltseinnahmen und die Aufrechterhaltung der Präsenz Russlands in der Weltwirtschaft sein wird, aus der die USA und ihre Verbündeten es auszuschließen versuchen.
Dies ist umso wahrscheinlicher, weil Länder wie Japan und Südkorea im Vergleich zu ihren europäischen Äquivalenten viel seltener von den USA unter Druck gesetzt werden, den Handel mit Russland einzustellen. Angesichts der wachsenden Konfrontation mit China ist es nicht im Interesse Washingtons, seine asiatischen Verbündeten zu schwächen oder sie zu abhängig von amerikanischer Hilfe zu machen.
Zweitens müssen die zentralen Aufgaben der nationalen Entwicklung von Russland selbst gelöst werden, ohne die Art der Abhängigkeit von externen Technologiequellen, wie wir es zuvor schon erlebt haben, geschweige denn von Finanzmitteln. Die kommende Ära wird ein viel größeres Maß an De-facto-Souveränität und gewissermaßen die Fähigkeit zu begrenzter Autarkie erfordern. Bei aller Bedeutung der Beziehungen außerhalb des Westens, kann Russland nicht daran denken, sich einfach von einer Richtung in die andere umzuorientieren und gleichzeitig seine historisch etablierte Strategie der Abhängigkeit von externen Entwicklungsquellen beizubehalten. Russland muss beispielsweise wieder eigene Langstreckenflugzeuge bauen, statt auf Fertigprodukte von Boeing und Airbus zu setzen.
Drittens ist zu berücksichtigen, dass auch die aktivsten Beziehungen in Asien die Beziehungen zu den Staaten der islamischen Welt, den Nachbarländern und sogar innerhalb Europas nicht ersetzen können, wo auch nicht jeder entschlossen ist, Mauern an seiner Ostgrenze zu errichten.
Russlands geopolitische Position kann nicht durch einen einzigen militärpolitischen Konflikt in eine bestimmte Richtung geändert werden. Ganz zu schweigen davon, dass es aus historischer und kultureller Sicht für Russland immer schwierig sein wird, in Asien ein Engagement aufzubauen, das in Umfang und Geist dem im Süden und Westen ähnlich kommt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beziehungen zu den asiatischen Ländern im aktuellen Kontext eher zu einer Notwendigkeit als zu einer Wahl werden. Dies bedeutet jedoch nicht, sich für eine komplette Umkehr der wichtigsten Aspekte der nationalen Außen- und Außenwirtschaftspolitik zu entscheiden. Vielmehr hat es einen wichtigen taktischen Wert und könnte bei gebührender Sorgfalt zu einer bedeutenderen russischen Präsenz im Weltgeschehen führen, dessen Zentrum sich zunehmend nach Osten verlagert.
Aus dem Englischen
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor beim Valdai Club. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik spezialisiert, sowie auf die russisch-europäischen Beziehungen.
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