Von Gert Ewen Ungar
Der auf Wirtschaft spezialisierte Nachrichtendienst Bloomberg veröffentlichte am 5. September einen Beitrag über eine Studie zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. Die Untersuchung habe der Kreml in Auftrag gegeben. Deutsche Nachrichtenformate übernehmen den Beitrag am darauffolgenden Tag. Die Welt, der Focus sowie das Wirtschaftsmagazin Capital springen auf das Thema auf und kopieren den Bericht in weiten Teilen wortgleich, lassen dann aber wesentliche Informationen aus.
Die Studie selbst ist nicht öffentlich und daher nicht im Internet abrufbar. Bloomberg lag nach eigenen Angaben eine Kopie vor, deren Echtheit von mit der Angelegenheit vertrauten Personen bestätigt wurde. Ob das Dokument tatsächlich "geheim" ist, wie Die Welt behauptet, ist fraglich. Bei Bloomberg ist lediglich von einer Studie für ein geschlossenes Arbeitstreffen die Rede. Aber "Impulsreferat" klingt natürlich weniger reißerisch als "Geheimdokument".
Einen Tag später, an dem Tag, als Die Welt und Capital ihren Beitrag veröffentlichen, ergänzt Bloomberg seinen Artikel um eine wichtige Bemerkung. Der russische Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow nannte die Prognosen der Studie "analytische Schätzungen, mit denen wir abzuschätzen versuchten, was passieren würde, wenn wir nicht reagieren, wenn wir keinen Widerstand leisten würden". Sie sind entsprechend negativ und prognostizieren für die russische Wirtschaft in allen Szenarien einen tiefen Einbruch. Das heißt aber auch, das Papier zeigt nicht die reale Entwicklung und prognostiziert nicht auf Grundlage der realen Situation, sondern ist rein fiktiv, denn Russland hat mit einer Vielzahl von Maßnahmen reagiert.
Dieses Zitat schafft es allerdings weder in das Managermagazin Capital noch in den Artikel des Springer-Blattes Die Welt. Dort hält man die Leser weiterhin im Glauben, der Kreml wüsste um eine desaströse wirtschaftliche Entwicklung in Russland, würde sie aber vor der Öffentlichkeit geheimhalten wollen. Das aber ist Desinformation. Gefälschte Nachrichten. Denn der Satz des russischen Wirtschaftsministers relativiert den gesamten Bericht Bloombergs.
Die tatsächliche Information lautet: Der Kreml hat für ein Expertentreffen als Diskussionsbeitrag ein Modell mit drei unterschiedlichen Szenarien ausarbeiten lassen, das zeigen soll, wie sich die russische Wirtschaft in dem Fall entwickelt hätte, wenn die Politik nicht auf das Sanktionsregime des Westens reagiert hätte. Das ist ergreifend unspektakulär. Mehr Gehalt ist allerdings nicht vorhanden, weshalb Die Welt diese Information auch einfach weglässt und durch ganz viele Konjunktive ersetzt. Das ist natürlich kein ehrlicher Journalismus und Qualität ist es schon gleich zweimal nicht.
Mit einem kühleren Kopf betrachtet, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Ja, die Sanktionen haben auch Auswirkungen in Russland. Es gibt Unannehmlichkeiten - mehr allerdings auch nicht. Bisher steckt die russische Wirtschaft die Sanktionen gut weg. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich mittelfristig etwas daran ändert. Die Exportsubstitution läuft. Russland investiert zudem viel, um sich vom Westen unabhängig zu machen. Das Land sitzt aufgrund der Energieabhängigkeit westlicher Staaten ohnehin am längeren Hebel. Die russische Regierung und die russische Zentralbank haben klug und weitsichtig auf die Sanktionen reagiert. Sie waren in der Lage, ihre schlimmsten Auswirkungen abzuwehren.
Anders sieht es in der EU und in Deutschland aus. Die Effekte der Sanktionen auf die deutsche Wirtschaft und die deutschen Verbraucher sind wesentlich heftiger. Sie bestimmen daher die aktuelle gesellschaftliche Diskussion und die Politik. Die Rückwirkungen der Sanktionen drohen westliche Gesellschaften zu überfordern. Eine solche Entwicklung gibt es in Russland nicht.
Ja, Die Welt hat Recht. Auch in Russland gibt es Migration. Im ersten halben Jahr haben deutlich mehr Menschen Russland verlassen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Welt schreibt das nicht, aber ja, es gibt in den Großstädten Russlands eine junge, liberale, gut ausgebildete Schicht, die sich nach Westen orientiert. Diese Schicht liest westliche Medien und ist überwiegend nicht mit dem Krieg einverstanden. Ob diese Menschen verantwortlich für die Zunahme der Migrationsströme aus Russland sind, ist schwer zu beantworten. Nehmen wir an, es wäre so, wie die Welt und mit ihr westliche Medien suggerieren, dann stellt sich die Frage, ob dieser Migrationsstrom nachhaltig ist.
Er ist es nicht. Die westlichen Gesellschaften sind zwar gut in der Selbstvermarktung, aber dem entworfenen Bild von freier Gesellschaft in Wohlstand entspricht in der realen Welt kaum etwas. Deutschland hat einer jungen liberalen Elite schon aufgrund der defizitären Infrastruktur und der technologischen Rückständigkeit wenig zu bieten. Wohnungsnot, Verelendung der Innenstädte, sanktionsbedingte Energieknappheit, ein völlig eng und unfrei geführter öffentlicher Diskurs … Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Attraktiv und lockend ist das alles nicht. Vor allem dann nicht, wenn man als junger, liberaler Großstädter aus einem Land wie Russland kommt, in dem es diesen umfassenden Mangel nicht gibt, man aber glaubte, im gelobten Westen sei die Situation noch besser. Sie ist es nicht. Das stellen auch diejenigen fest, die zu Beginn des Kriegs Russland den Rücken gekehrt haben. Sie kehren wieder zurück. Der Westen hat ihnen außer schöne Worte nichts zu bieten.
Daran wird sich auch in absehbarer Zukunft wenig ändern. Denn im Gegensatz zu Russland, das auf die Sanktionen pragmatisch reagierte, reagiert der Westen ideologisch. Das ist nicht klug und verhindert Lösungen, stellt aber vor allem die vitalen Interessen der eigenen Bevölkerung hintan und befördert den ökonomischen Absturz.
Die Welt wird sich nicht hinter dem westlichen Sanktionsregime versammeln. Das zeigen die diplomatischen Erfolge Russlands im letzen halben Jahr. Nicht mehr, sondern immer weniger Länder unterstützen die Sanktionen. Selbst innerhalb der EU bröckelt die Front.
Der Artikel in der Welt und im Magazin Capital sind getragen von großer journalistischer Unredlichkeit. Sie desinformieren ihre Leser und wiegen sie in einem falschen Gefühl von Überlegenheit des Westens. Dabei wird gerade im direkten Vergleich mit Russland deutlich: Die Sanktionen sind gescheitert. Guter Journalismus würde darüber informieren, denn es ist eine wichtige Information für die deutschen Leser.
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