von Gert Ewen Ungar
Am 29. August 2022 hielt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) anlässlich der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft an der Prager Karlsuniverität eine Rede, in der er Reformen in der EU anmahnt. Gleichzeitig skizziert er seine Idee einer zukünftigen EU.
Augenhöhe ist der Begriff, der in der Rede einen zentralen Punkt einnimmt. Doch sollten die Vorschläge von Scholz umgesetzt werden, ist klar, dass es Augenhöhe in der EU noch weniger geben wird als jetzt schon.
Was aber am Redebeitrag des Kanzlers vor allem erschreckt, ist, dass die sozio-ökonomischen Auswirkungen, die durch das Sanktionsregime der EU auf die Bürger zukommen, in den Überlegungen von Scholz offenbar keine Rolle spielen. Begriffe wie Energiepreise oder Inflation kommen in der Rede des Bundeskanzlers schlicht nicht vor. Das breite Absinken von Wohlstand in der EU ist für Scholz kein Thema. Die sich daraus ergebenden Verwerfungen in der Konsequenz auch nicht.
Dabei ist absehbar, dass die Rückwirkungen der Sanktionen auf die Gesellschaften der EU für die EU ganz klar zu einer enormen Belastungsprobe werden. Wird nicht unmittelbar und sofort gegengesteuert, wird dieser Konflikt auf dem europäischen Kontinent auch die EU selbst infrage stellen. Scholz' Rede macht vor allem eines deutlich: Es gelingt den politischen Entscheidern noch nicht einmal, eine sich deutlich ankündigende, heraufziehende Gefahr zu sehen, geschweige denn geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Bürger der EU davor zu schützen.
Dabei dürfte trotz aller rhetorischer Manipulationsversuche für die Mehrheit der Bürger in der EU feststehen, dass die kommende Rezession nicht Putin, sondern die EU selbst zu verantworten hat. Wer glaubt, die EU würde sich angesichts eines rapide fallenden Lebensstandards ihrer Bürger, zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsender Armut auch wachsender Beliebtheit erfreuen, hat ganz einfache Mechanismen nicht verstanden. Mit dem Sanktionsregime hat die EU selbst ihre vermutlich schwerste Krise ausgelöst.
Scholz widmet alldem nicht ein einziges Wort. Für ihn ist klar: Das, was für ihn eine Zeitenwende markiert und ein Umdenken in Deutschland und der EU notwendig macht, wurde von Russland und Russlands Einmarsch in die Ukraine ausgelöst. Es gibt keinen Vorlauf, keine Mitverantwortung, keinen Funken historischen Denkens. Russland ist der Aggressor, die EU verteidigt die westlichen Werte. Die EU ist das Bollwerk der liberalen Demokratie gegen die Autokraten.
Das Problem dabei ist: Die EU ist alles, nur keine Demokratie. Ihre Technokratie hat selbst stark autokratische Züge. Die Vorschläge, die Scholz in seiner Rede macht, sind dabei wenig geeignet, die massiven Demokratiedefizite der EU zu beheben. Das Gegenteil ist der Fall.
Noch vor einem halben Jahr war es ein festes Ritual, in Bezug auf Reformen in der EU immer auch eine nachholende Demokratisierung der EU einzufordern. Zu signalisieren, man habe die Demokratiedefizite der EU im Blick und arbeite daran, sie zu überwinden, gehörte standardmäßig ins Repertoire jeder Rede eines europäischen Politikers. Das waren zwar leere Floskeln, denn am Demokratiedefizit hat sich in den letzten 30 Jahren, in denen von einer nachholenden Demokratisierung der EU gesprochen wird, wenig geändert. Olaf Scholz lässt diesen Part nun nicht nur einfach weg, er setzt die EU und Demokratie schlicht gleich. Das hat dann tatsächlich etwas von Zeitenwende, wenn jetzt schon jede Form kritischer Analyse unterlassen wird.
Es ist schon ganz erstaunlich, zu welchen Verdrehungen sich Scholz in seiner Rede hinreißen lässt. Die Frage bleibt, ob er selbst glaubt, was er hier sagt, oder ob er seine Zuhörer absichtlich täuscht:
"Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin. Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen. Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie. Die Europäische Union funktioniert nicht durch Über- und Unterordnung, sondern durch die Anerkennung von Verschiedenheit, durch Augenhöhe zwischen ihren Mitgliedern, durch Pluralität und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen."
Was Olaf Scholz hier ausführt, hat mit der Realität wenig zu tun. Der Ukraine-Konflikt ist aufgrund des Expansionsdrangs von sowohl der EU als auch der NATO entstanden. Der Konflikt wurde vom Westen seit 2008 immer weiter eskaliert. Alle Forderungen Russlands, russische Sicherheitsinteressen nicht zu übergehen, wurden in den Wind geschlagen. Das Minsker Abkommen wurde von Deutschland, Frankreich und der EU sabotiert. Auch Scholz waren die Forderungen und Einwendungen Russlands egal. Scholz hat noch bei seinem Antrittsbesuch in Moskau wenige Tage vor Beginn der russischen Spezialoperation in der Ukraine Putins Sorgen mit einem überheblichen Lachen abgetan. Das war fahrlässig.
Die EU ist zweifellos kein demokratisches, dafür ein imperialistisches Projekt. Die jetzt angedachte Erweiterungsrunde, in der die EU die Ukraine und Moldawien, schließlich noch Georgien aufnehmen will, macht das deutlich. Die Aufnahme dieser Länder ist ausschließlich geostrategischen Überlegungen geschuldet und richtet sich direkt und aggressiv gegen die Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation. Im Gegensatz zu Russland duldet die EU an ihren Rändern keinen neutralen Status, sondern zwingt eine Entscheidung auf. Die Ukraine-Krise wurde genau auf diese Weise ausgelöst. Scholz ignoriert diese Fakten völlig und kleistert seine Rede mit rhetorischem Freiheitskitsch zu, der nicht der Realität entspricht.
Was es in der EU zudem nicht gibt, ist "Augenhöhe". Nicht mit Deutschland, vor allem aber nicht mit den Institutionen der EU. Es gibt eine klare Hierarchisierung, die bewirkt, dass die Demokratie der Nationalstaaten immer weiter ausgehöhlt wird. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) müssen von den Nationalstaaten umgesetzt werden. Dabei weitet der EuGH den Bereich, über den er Recht spricht, immer weiter aus. Er urteilt auch in Bereichen, in denen er laut EU-Verträgen gar keine Kompetenz besitzt.
Gleiches gilt für die EU-Kommission. Die Aufnahme von Schulden ist ihr beispielsweise verboten. Sie hat es im Rahmen der Corona-Krise dennoch getan. Auch die Regulierung von Medien ist nicht ihre Aufgabe. Dennoch hat die Kommission im Rahmen der Sanktionen gegen Russland russische Sender verboten und damit ihren Machtbereich ausgeweitet.
Scholz möchte nun die Souveränität der Einzelstaaten weiter aushöhlen, indem er sich vom Einstimmigkeitsprinzip verabschiedet. Damit wäre der Europäische Rat neben Kommission und EuGH ein weiteres Gremium, dem die Nationalstaaten im Zweifelsfall ihre Souveränität unterordnen müssten. Das Einstimmigkeitsprinzip beugt dem bisher vor.
Die Lobgesänge des Bundeskanzlers auf die freiheitliche, demokratische EU wirken angesichts all dieser Fakten reichlich bizarr. Noch bizarrer wird es dann, wenn Scholz vom erfolgreichen Handelskonzept der EU spricht. Scholz führt aus:
"Europa verdankt seinen Wohlstand dem Handel. Dieses Feld dürfen wir nicht anderen überlassen. Deshalb brauchen wir auch weitere, nachhaltige Freihandelsabkommen und eine ambitionierte Handelsagenda."
Nun gibt es in der Europäischen Union ganz genau ein Land, auf das diese Sätze vollkommen zutreffen. Das ist der Exportweltmeister Deutschland. Auf alle anderen allerdings nicht. Sie hatten unter der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft zu leiden. Der deutsche Handelsbilanzüberschuss sorgt nicht nur in der EU, sondern auch bei den USA immer wieder für Verärgerung und führte zu Konfrontationen. In der EU wirkt er krisenverstärkend.
Es wird in diesem Zusammenhang klar: Scholz entwirft in seiner Rede ein deutsches Europa; eines, das vor allem deutschen Interessen dient. Es ist erschreckend, dass der deutsche Kanzler aus den vorangegangenen Krisen der EU nichts gelernt hat und keinen Erkenntnisgewinn ziehen konnte. Man könnte jetzt noch seine Ausführungen zur Militarisierung der EU analysieren, dann wird vollkommen deutlich, Scholz möchte eine abgeschottete EU unter deutscher Führung in Konfrontation mit Russland. Ein Deutschland, das in relativer wirtschaftlicher Autarkie seine Handelspartner in Grund und Boden konkurriert.
Es ist daher gut, dass von den Ideen, die der deutsche Bundeskanzler im Interesse der deutschen Wirtschaft hier fordert, absehbar nichts umgesetzt wird.
Das größte Defizit der Rede bleibt, dass Scholz keinerlei Abwägung trifft, was angesichts des Sanktionsregimes auf die EU und ihre Bürger zukommt. Es ist ein umfassend großer blinder Fleck. Scholz glaubt beispielsweise, die EU sei für Arbeitsmigranten attraktiv, die dort auch dringend gebraucht würden. Davon wird nach der kommenden Wirtschaftskrise wenig übrig bleiben. Die EU wird an Anziehungskraft verlieren. Es wird schon sehr bald andere Wirtschaftsräume mit einer weit besseren Performance und damit einer höheren Attraktivität für Arbeitsmigranten geben.
Aber auch zu anderen Zeiten würden die Vorschläge von Scholz auf wenig Resonanz und Gegenliebe in der EU treffen. Sie dienen überwiegend deutschen Interessen und fordern von den Mitgliedsstaaten eine weitere Aufgabe ihrer nationalen Souveränität und ihrer nationalen Interessen.
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