Doch kein "Querdenker"? Tagesschau rudert bei Grünen-Urgestein Ströbele zurück

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist im Alter von 83 Jahren gestorben. In einem ersten Nachruf betitelte die Tagesschau-Redaktion den streitbaren und unbequemen Realpolitiker als "Querdenker". Diese Titulierung schien jedoch in Zeiten vorgegebener Sprachregulierungen ein unverzeihlicher Fauxpas, der umgehend korrigiert werden musste.

Von Bernhard Loyen

Hans-Christian Ströbele verstarb am 29. August in Berlin. Ohne Frage war der Rechtsanwalt und spätere Mitbegründer der Partei "Die Grünen" bis zuletzt ein Paradebeispiel für die immer seltener werdende Spezies eines unbestechlichen und vor allem glaubwürdigen Berufspolitikers. Die Berliner taz, die Ströbele ebenfalls Ende der 1970er Jahre mit aufbaute, schrieb über ihn, dass seine gefürchtete Integrität "in seiner bis zur Sturheit gehenden Beharrlichkeit begründet" war, die ihn "gegenüber dem Heer von Opportunisten in der Politik auszeichnete".

Die Tagesschau des öffentlich-rechtlichen Senders ARD schrieb in einem ersten Nachruf, dass Ströbele "für seine Partei stets unbequem war", um dann diesen Beitrag mit der Überschrift zu krönen:

"Zum Tod Ströbeles: Ein Querdenker, der seinem Gewissen folgte."

Der Beitrag wurde am 31. August um 12:12 Uhr auf der Webseite der Tagesschau veröffentlicht. Man kann nur Mutmaßungen darüber anstellen, ob die Autorin Kerstin Breinig womöglich selbst siedend heiß ein Schreck bei einem Erkenntnisblitz durchfuhr oder ob Kollegen der Tagesschau-Redaktionsleitung sie auf eine heute medienpolitisch untragbare Formulierung hinwiesen. Denn auch in dem folgenden Text hieß es dort noch:

"Sein letzter Sieg: die öffentliche Anhörung der Geheimdienstchefs im Bundestag. 2017 tritt er nicht mehr an. Hans-Christian Ströbele – ein Querdenker, der nur seinem Gewissen gefolgt ist."

Offenbar wurde kurze Zeit später redaktionell beschlossen, dass der Beitrag überarbeitet werden, also korrigiert werden muss. Der Stein des Anstoßes war natürlich das Wort "Querdenker". So hieß die modifizierte Schlagzeile dann ab 13:55 Uhr politisch korrekt:

"Zum Tod Ströbeles: Einer, der seinem Gewissen folgte."

Auch der dazugehörigen Artikeltext heißt nun korrigiert: "(...) 2017 tritt er nicht mehr an. Hans-Christian Ströbele – einer, der nur seinem Gewissen gefolgt ist." Was störte die Tagesschau-Redaktion an dem Wort "Querdenker", zu deren Begriffserklärung es auf der Seite des digitalen Duden ursprünglich lediglich hieß:

"jemand, der eigenständig und originell denkt und dessen Ideen und Ansichten oft nicht verstanden oder akzeptiert werden."

Die Korrektur musste vermutlich erfolgen, weil der anscheinend schon vor längerer Zeit für diesen traurigen "Tag X" im Tagesschau-Archiv vorbereitete Beitrag über Ströbele nun heute nicht mehr dem Zeitgeist der Mainstream-Medien nach Coronazeiten entsprach. Denn der Begriff "Querdenker" dient mittlerweile nachweislich als (ab)wertende und diskreditierende Bezeichnung für alle jene Menschen, die sich kritisch gegenüber den politischen Maßnahmen in der Coronakrise positionierten. So heißt es auf der Seite des digitalen Duden seit November 2020 in der neuen Definition

"männliche Person, die eigenständig und originell denkt und deren Ideen und Ansichten oft nicht verstanden oder akzeptiert werden",

womöglich ausgehend von der ebenfalls irritierenden Auffassung, dass vermeintlich mehrheitlich männliche Individuen die im April 2020 vom Stuttgarter IT-Unternehmer Michael Ballweg gegründete Initiative "Querdenken 711" unterstützten. Später wurde infolge medialer wie auch politischer Einflussnahme als Reaktion auf eine stetig wachsende Protestbewegung in Deutschland mit einer alternativen Medienszene im Jahr 2021 der aktuelle Duden-Beitrag zum Begriff "Querdenker" nochmals umformuliert und ergänzt. So gibt es seit dem März letzten Jahres sogar zwei Bedeutungen, erläutert mit jeweils einem Beispielsatz:

Frau Breinig hätte sich also eigentlich nunmehr auch auf eine gewisse Ambivalenz des Begriffes im Duden berufen können, wonach Hans-Christian Ströbele auch weiterhin als eine "männliche" Person der Zeitgeschichte geehrt werden darf, die "eigenständig und originell denkt und deren Ideen und Ansichten oft nicht verstanden oder akzeptiert" wurden. Eigenständiges Denken wird aber den GEZ-zahlenden Menschen im Land nachweislich nicht mehr so gern zugetraut. Der Anspruch, auch mal "um die Ecke denken" zu dürfen, scheint ebenfalls mit dem letzten Jahrhundert verfallen zu sein.

Die sehr empfehlenswerte Binsenweisheit, auch mal über den sprichwörtlichen Tellerrand zu blicken, wurde spätestens mit dem Auftrag für ein 89-seitiges "Framing Manual", das die ARD beim "Berkeley International Framing Institute" 2019 in Berlin in Auftrag gegeben hatte, in die höchst vertraulichen Tiefen der Öffentlich-Rechtlichen Archive verbannt. Dorthin, wo vermutlich unbemerkt "unkorrekt" bis zum 31. August auch der Nachruf für Hans-Christian Ströbele auf dessen Ableben warten musste. In einem Kommentar des Magazins Der Spiegel vom Februar 2019 heißt es treffenderweise zum Thema Manipulationen der Bürger:

"Die ARD-Chefs haben sich beraten lassen, wie sie dafür sorgen können, dass die Deutschen positiver über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk denken (...) Framing ist der große Hit, wenn es darum geht, sich und anderen zu erklären, warum man kommunikativ ins Hintertreffen gerät. Der Begriff kommt von "frame", also Rahmen, und bedeutet, dass man das Publikum über Begriffe beeinflusst, ohne dass dieses das gleich merkt."

Treffer, selbst versenkt oder auch "sich mit den eigenen Waffen schlagen", könnte der aufgeweckte Bürger nun anmerken. Was federführend in der Coronakrise Der Spiegel wie auch die Tagesschau immer noch nicht verstehen wollen oder können: sehr viele mündige Bürger empfinden nur noch Hohn und Spott, auch Verachtung, für den Zustand und das Agieren der öffentlich-rechtlichen Medien, die auch noch mit Milliarden von Euro an Gebühren durch die Bürger finanziert werden. Ein Renner in den sozialen Medien besagt mit schwarzem Humor:

"Zahlst du keine Gas- oder Stromrechnung, wird dir alles abgeschaltet. Zahlst du keine GEZ-Gebühren, wird dir aber nicht der Fernseher und das Radio abgestellt."

Am 7. Juli noch twitterte Ströbele als gefürchteter Querdenker von seinem Krankenbett aus:

"Doch keine gute Idee Putin mit Öl/Gas-Embargo in die Knie zwingen zu wollen. Jetzt scheint eher Deutschland den Schaden zu haben mit neuen Milliarden Schulden und längerer Verbrennung der Kohle. Putin verkauft seine Rohstoffe mit höheren Gewinnen. Schade eigentlich."

Am 27. Juli, gut vier Wochen vor seinem Tod, eine weitere lästige Ansage des Grünen-Urgesteins an seine eigenen Parteianhänger:

"Grüne wollten immer 'Frieden schaffen ohne Waffen', nun 'Frieden mit immer mehr schweren Waffen'. Jetzt auch statt 'AKWs Ne' – 'AKWs ja bitte' gegen die Alternative weiter mit russischem Gas? Wann kippt die nächste Säule? Bloß nicht."

Wie schrieb doch die taz nun gleich noch in ihrem Nachruf auf den Politiker Ströbele:

"Christian lachte gerne und war mit sich selbst im Reinen. Dafür hatte er wohl Gründe, die in seiner bis zur Sturheit gehenden Beharrlichkeit begründet waren, die ihn gegenüber dem Heer von Opportunisten in der Politik auszeichnete." 

Ja, auch die politische Vorgabe der Sprachkorrektur wird rein gar nichts an der historischen Tatsache ändern – Hans-Christian Ströbele war glaubwürdig und unbequem – eben ein echter Querdenker im besten Sinne (auch des Dudens).

Mehr zum Thema - Grünen-Mitbegründer und Kriegsgegner Hans-Christian Ströbele gestorben