Von Wladislaw Sankin
Der Tageschau-Journalist Demian von Osten sieht sich gerne als Wächter über die russischen Medien. Auf seinem Twitter-Account mit über 43.000 Follower postet er die besonders skurrilen Äußerungen, die während der aufgeheizten russischen Polittalkshows getätigt werden.
Der Gedanke dahinter ist durchschaubar. Die russischen "Staatspropagandisten" müssen von seinem Zielpublikum als aggressiv und bedrohlich wahrgenommen werden – ganz und gar ihrem über die Jahre aufgebauten Image gerecht. Zwar werden oft die Zitate ihres Kontextes beraubt, aber was soll es – gesagt ist schließlich gesagt.
Schwieriger wird es allerdings, wenn das gehütete rosige Image der Ukraine durch die aktuelle Nachrichtenlage beschädigt werden könnte, etwa durch eine Tat wie den Auftragsmord an der russischen Philosophin und Journalistin Darja Dugina. Dann bleibt dem Tagesschau-Journalisten nicht anders übrig, als zur direkten Manipulation zu greifen.
So hat er in seiner Funktion als Moskau-Korrespondent in einem Beitrag am 23. August über die vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB gelieferten Beweise für den Anschlag gegen Dugina berichtet. Der Beitrag ist distanziert und sehr kurz gehalten, gibt aber die Inhalte korrekt wieder.
Nachdem der trauernde Vater, der den Tod seiner Tochter und Weggefährtin aus nächster Nähe miterleben musste, "vorsorglich" als "rechter Ideologe" eingeführt wurde, kommt dann ein Zitat von ihm. Laut von Osten ließ Alexander Dugin über seine Vertraute das Folgende vernehmen:
"Unsere Herzen dursten nicht nur nach Rache oder Vergeltung. Das ist zu wenig, nicht russisch genug. Wir brauchen einfach nur den Sieg."
Diese Worte entstammen einem längeren Statement, das Dugin am Tag zuvor verlauten ließ. Warum wurde aber durch von Osten ausgerechnet diese andere Stelle herbeizitiert? Das liegt auf der Hand. Seiner Übersetzung zufolge besteht das "Russisch-Sein" aus einem Übermaß an Rachsucht. Der ist eben ein Rechter, ein Hetzer, was habt ihr denn erwartet? So lautet die klare Botschaft des Journalisten an sein Millionenpublikum – wieder einmal zur besten Sendezeit. Dem Mordvorwurf gegen die Ukraine ist nun wenigstens etwas nicht weniger Derbes entgegengesetzt.
Das Problem ist, dass Dugin das so gar nicht gesagt hatte. Dieser Teil seiner Äußerungen ist in der Originalsprache folgendermaßen ausgedrückt:
"Наши сердца жаждут не просто мести или возмездия. Это слишком мелко, не по-русски. Нам нужна только наша Победа. На ее алтарь положила свою девичью жизнь моя дочь. Так победите, пожалуйста! Мы хотели воспитать ее умницей и героем. Пусть и сейчас она вдохновляет сынов нашей Отчизны на подвиг."
Die Aufgabe jedes Übersetzers ist es, den Inhalt des Gesagten sinngemäß wiederzugeben. Jeder, der russisch kann, muss anerkennen, dass Dugin in seinem recht pathetisch klingenden Statement klarmachen will, dass der Wunsch nach Rache und Vergeltung zwar ein legitimes Gefühl ist, der auch in ihm nach Darjas Tod hochkam, aber dass es gerade nicht das ist, was er als ihr Vermächtnis sehen will:
"Unsere Herzen sehnen sich nicht nach einfacher Rache oder Vergeltung. Das ist zu kleinlich, nicht die russische Art. Wir brauchen nur unseren Sieg. Auf dessen Altar hat meine Tochter ihr jungfräuliches Leben gelassen. Also, seid siegreich, bitte! Wir wollten sie zu einem klugen Mädchen und einer Heldin erziehen. Möge sie die Söhne unseres Vaterlandes weiterhin zum Heldentum inspirieren."
In seiner Ansprache bei der Trauerfeier verdeutlichte Dugin, dass Russland zwar in der Ukraine, aber nicht gegen die Ukraine Krieg führt – ein Gedanke, den auch Darja vor ihrer Ermordung oft genug wiederholt hatte. Der Journalist Demian von Osten verzichtet in seiner Berichterstattung nicht nur auf diesen in aller Wahrhaftigkeit unverzichtbaren Kontext, um seinem eigens gesetzten Framing zu entsprechen, er verdreht vielmehr durch falsche Übersetzung auch noch das ohnehin "passend" gekürzte Zitat faktisch in sein komplettes Gegenteil. Denn ihm zufolge müsse laut Dugin, um dem "Russisch-Sein" zu genügen, eine extreme Rache an Ukrainern verübt werden.
Es ist bemerkenswert, dass von Osten mit dieser seiner als "Fehler" enttarnten Manipulation sogar der offiziellen dpa-Übersetzung widerspricht, die am Tag zuvor in vielen deutschen Mainstreammedien geteilt wurde. So hieß es etwa gemäß dieser Übersetzung beim Tagesspiegel:
" 'Unsere Herzen dürstet es nicht einfach nach Rache oder Vergeltung. Das wäre zu klein, nicht russisch', ließ Dugin am Montag über seinen Vertrauten, den Oligarchen Konstantin Malofejew, auf Telegram ausrichten. 'Wir brauchen nur unseren Sieg. Auf dessen Altar hat meine Tochter ihr mädchenhaftes Leben gelegt. Also siegt bitte!' "
Zwar ist auch diese Übersetzung nicht optimal, denn "das wäre zu klein" lässt sich besser durch "zu kleinlich" oder "zu oberflächlich" übertragen, aber zumindest nicht so falsch, vulgär und verkürzt wie bei von Osten in der Tagesschau.
Presseamt für Selenskij
Solche Manipulationen gehören bei öffentlich-rechtlichen Propaganda-Medien in Deutschland leider zum Tagesgeschäft. Wenn die Nachrichtenlage keinen Raum mehr für die freundschaftliche Rückendeckung der Ukraine gibt, dann passieren solche bewussten "Fehler" wie diese.
Wie etwa beim Bericht über den "russischen" Beschuss eines Lebensmittelmarktes im "ostukrainischen" Donezk in Juni, bei dem drei Zivilisten ums Leben kamen. In dieser Strategie bleibt der Tagesschau nichts anderes übrig, als in die Fußstapfen der langjährigen Propaganda der Ukraine während ihres Krieges im Donbass zu treten: "Separatisten beschießen sich selbst."
Besonders peinlich ist diese Art der Berichterstattung im Falle des systematischen und immer gefährlicher werdenden Artilleriebeschusses des größten Atomkraftwerkes in Europa im Saporoschje-Gebiet. Bereits seit kurz nach Beginn der Militäroperation kontrollieren die russische Streitkräfte das weitläufige AKW-Gelände. Seit über einem Monat vermelden sie täglich dort Angriffe auf kritische Infrastruktur.
Die Tagesschau übernimmt dabei jedoch ohne jegliche Kritik und ungeprüft die Vorwürfe der ukrainischen Gegenseite und setzt sie in ihren Berichten prominent an erster Stelle. Nach dieser Logik hat Russland dann also die Kontrolle über das Atomkraftwerk übernommen, um es dann fünf Monate später massiv selbst zu beschießen. Die Frage bleibt nur: In welchen Schulen wird solche Logik für solches Handeln gelehrt? Oder handeln die Russen wie Außerirdische, deren Motive für uns Irdische einfach unbegreiflich sind?
Von dem Verdacht, dass die ukrainische Seite für den Beschuss verantwortlich sein könnte, ist bei der Tagesschau dennoch tagtäglich keine Spur zu entdecken. Der deutsche Sender übernimmt anstelle von journalistischen Prinzipien in nicht mehr zu übertreffender Einseitigkeit freiwillig den Job des Presseamtes des ukrainischen Präsidenten und beginnt fast jeden seinen Artikel zu diesem Thema mit einem pathetischen Selenskij-Zitat, wie etwa in dem Artikel "AKW Saporischschja: Selenskyj warnt vor Atomkatastrophe":
"Nach den Angriffen auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja hat Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einer atomaren Katastrophe gewarnt und Vergleiche zur Tschernobyl-Katastrophe 1986 gezogen. 'Die Welt sollte Tschernobyl nicht vergessen und sich daran erinnern, dass das Atomkraftwerk Saporischschja das größte in Europa ist', sagte der ukrainische Staatschef. 'Die Tschernobyl-Katastrophe war die Explosion eines Reaktors. Saporischschja hat sechs Reaktoren.'
Zugleich forderte Selenskyj neue Sanktionen gegen Russland. 'Nötig sind neue Sanktionen gegen den terroristischen Staat und die gesamte russische Atomindustrie wegen der Schaffung der Gefahr einer atomaren Katastrophe.' "
Nach diesem ungezügelten Propaganda-Feuer gegen die eine, angeblich für den Beschuss verantwortliche Partei kommt noch die andere, russische Position als die andere Hälfte in einem Nachsatz zur Sprache: "Russland und die Ukraine schieben sich dafür gegenseitig die Verantwortung zu." Sogar die Tatsache, dass Russland das Werk eigentlich unter seiner Kontrolle hat, wird kurz erwähnt, wird aber beiläufig mitten in dem Artikel eingebaut: "Das AKW ist seit Anfang März von der russischen Armee besetzt." Bedarf diese irrsinnige Berichterstattung eines weiteren Kommentars?
Nein, das ist bloß Qualitätsjournalismus des Jahres 2022 – "made in Germany".
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