Für die NATO auf Konfrontation mit den Bürgern – Antirussische Hysterie und Transatlantizismus

Hybride Bedrohung, Informationskrieg, russische Propaganda: Das sind die Schlagworte, in die deutsche Medien und Politik ihren Kampf gegen die Meinungsfreiheit kleiden. Verhindert werden soll vor allem eine Diskussion über das transatlantische Bündnis.

Von Gert Ewen Ungar

Deutschland fühlt sich bedroht. Zumindest die verantwortlichen Akteure in der Politik und den großen deutschen Medien. Bedroht werden sie von russischer Propaganda und Desinformation. Schaut man genauer hin, was mit diesen Begriffen gemeint ist, wird schnell klar: Alles, was nicht der regierungsoffiziellen Linie folgt, ist Desinformation. Westliche Regierungen, insbesondere die deutsche, berichten nämlich ausschließlich wahrheitsgemäß. Weil das so ist, haben die großen deutschen Medien es aufgegeben, die Bundesregierung kritisch zu begleiten. Ihre Aufgabe ist es inzwischen, Regierungsentscheidungen der Bevölkerung zu vermitteln und zu erklären. Was sich liest wie eine Satire ist leider bittere Realität. Der deutsche Journalismus hat den Journalismus an den Nagel gehängt und beschränkt sich auf PR.

Gleichzeitig merkt der Mainstream an, es sei schwierig, die russische Desinformation vollkommen zu unterdrücken. Trotz immer strengerer Zensur, trotz Verboten russischer Sender gibt es immer noch viele Menschen, die auf russische Propaganda reinfallen und beispielsweise glauben, der Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar in die Ukraine habe eine Vorgeschichte und Russland sei nicht einfach nur so aus einer bösen Laune heraus über das Land hergefallen. Wer so etwas verbreitet, verbreitet russische Desinformation im Dienste des Kreml. Auch das wird in seiner Abstrusität von den deutschen Medienvertretern verbreitet und vermutlich zum Teil sogar geglaubt.

Weil die russische Sicht aber immer noch verbreitet wird, mussten nicht nur deutschsprachige russische Sender, sondern auch russischsprachige russische Sender verboten werden, weil sage und schreibe etwa 500.000 russischstämmige Menschen in Deutschland russische Sender in ihrer Muttersprache verfolgen. Diese verschwindend kleine Minderheit verbreitet dann die russische Propaganda in ihrem deutschen Freundeskreis, und schwupp, ist der Kreml seinem Ziel der Destabilisierung Deutschlands wieder einen Schritt nähergekommen.

Widerstand gegen Sanktionen leicht zu erklären

Man könnte über den geistigen Zustand im politisch-medialen Establishment in schallendes Lachen ausbrechen, ginge davon nicht eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie und den Zusammenhalt der Gesellschaft aus. Die deutsche Politik und die großen deutschen Medien sind inzwischen zur größten Bedrohung für das Recht auf freie Meinungsäußerung geworden. Immer häufiger werden aus diesem Kreis auch Forderungen nach Bestrafung für die Verbreitung "falscher" Meinungen erhoben. Die Entwicklung ist ebenso erschreckend, wie sie geschichtsblind ist.

Dabei wäre mit ein bisschen Empathie eigentlich schnell eine Erklärung für den zunehmenden Widerwillen der Bürger Deutschlands gegenüber neuen Sanktionspaketen und weiteren Waffenlieferungen gefunden. Sie sind nämlich direkt und ausschließlich negativ von den Auswirkungen dieser Politik betroffen.

Doch hinter dem zunehmenden Widerwillen und der ihn begleitenden Zunahme von Protest wittert der deutsche politisch-mediale Komplex nicht die Sorge der Deutschen um ihren Wohlstand, sondern wahlweise russische Einflussnahme oder rechte Gesinnung. Während deutsche Medien die deutsche Bevölkerung auf umfassende Wohlstandsverluste vorbereiten, wird die Kritik am Sanktionsregime, das zu ebenjenen Wohlstandsverlusten führt, als vom Ausland gesteuert abgetan. Denn selbstverständlich sind die Deutschen bereit, für die Ukraine und ihre Sache einen hohen persönlichen Preis zu zahlen, ist man sich im Mainstream anscheinend sicher.

Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Kritik an der Unterstützung der Ukraine. Bei all jenen, die am friedensstiftenden Sinn von Waffenlieferungen zweifeln, die daran zweifeln, dass die Ukraine in der Weise unschuldig ist, wie es deutsche Politik und große Medien behaupten, dass die Ukraine im Gegenteil schwerste Kriegsverbrechen begeht, kann es sich nur um russische Einflussagenten oder um Opfer russischer Propaganda handeln.

Der deutsche politisch-mediale Komplex, die Verschmelzung von Politik und großen Medien, möchte die Deutungshoheit behalten. Wer dem westlichen Narrativ nicht folgt, desinformiert und gerät in den Verdacht, ein Agent des Kreml zu sein. Dass ihnen diese Meinungshoheit immer mehr entgleitet, führt bei den großen deutschen Medien und der deutschen Politik zur Paranoia. Überall russische Einflussnahme.

Daran wird auch sichtbar, dass Deutschland weit weniger frei und weit weniger liberal ist, als es von sich selbst annimmt. Gerade auch im direkten Vergleich mit dem vermeintlich autoritären Russland schneidet Deutschland immer schlechter ab.

Maßnahmen in Deutschland repressiver als in Russland

Es gibt in Russland auch Verbote westlicher Organisationen. Das Verbot unterscheidet sich aber von der deutschen Zensur grundlegend. Westliche Organisationen und Stiftungen verfolgen ziemlich unverhohlen das Ziel eines Regime-Changes in Russland. Das trifft für die Heinrich-Böll-Stiftung ebenso zu wie für das Zentrum Liberale Moderne.

Russische Medien verfolgen dieses Ziel nicht. Es geht darum, Information zur Verfügung zu stellen, die der deutsche Mainstream seinen Konsumenten vorenthält, die aber für eine breite, offene Diskussion und zur umfassenden Meinungsbildung notwendig sind. Schon das aber ist in Deutschland zu viel der Einflussnahme. Diese Freiheit gewährt Deutschland daher nicht. Es agiert damit autoritärer als Russland.

Es geht dem politisch-medialen Komplex um die totale Kontrolle des Narrativs. Das ist bedenklich, denn es deutet darauf hin, dass sich für das Funktionieren von Demokratie zentrale Institutionen faktisch von ihr verabschiedet haben.

Die Frage ist: Warum? Die Antwort ist wenig überraschend: Es geht letztlich um das Festhalten am transatlantischen Bündnis – selbst unter Preisgabe der "westlichen Werte", für die dieses Bündnis in seiner Selbstwahrnehmung steht.

Die transatlantische Bindung soll aufrechterhalten werden, auch wenn der Preis, den die Deutschen dafür bezahlen müssen, immer höher wird. Und das gleich in zweifacher Hinsicht, sowohl wirtschaftlich als auch im Hinblick auf die Ausübung ihrer Grundrechte werden sich die Bundesbürger einzuschränken haben. Damit tritt das Bündnis in seine finale Phase ein.

Transatlantizismus und Krise

Die westdeutsche Anbindung an die USA nach dem Zweiten Weltkrieg und zu Beginn des Kalten Krieges war begleitet vom Versprechen wachsenden Wohlstandes. Dieses Versprechen wurde auch bis in die 80er-Jahre weitgehend gehalten. Es ist ein deutscher Mythos, dass das deutsche Wirtschaftswunder auf dem Fleiß deutscher Arbeiter basierte. Es hat seine Ursache auch weniger in kluger deutscher Wirtschaftspolitik, sondern beruhte auf der Keynesianischen Wirtschaftspolitik des US-Hegemons.

Die USA hatten nach dem Zweiten Weltkrieg für ein wirtschaftspolitisches Umfeld gesorgt, in dem lang anhaltendes Wachstum möglich war. Das allerdings ist jetzt vorbei. Das hat viele Ursachen. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass die USA nicht mehr in der Lage sind, Wachstum in einem Maß zu generieren, dass auch ihre Satelliten davon profitieren können. In 20 Jahren US-amerikanischer Präsenz in Afghanistan beispielsweise ist es nicht gelungen, dort Wachstum in einem das Land stabilisierenden Ausmaß zu schaffen.

Durch Festhalten an der transatlantischen Ausrichtung wird es in Deutschland künftig zu umfassenden Wohlstandsverlusten kommen. Es ist in diesem Zusammenhang tatsächlich mit zunehmenden Protesten zu rechnen, zumal es eine Alternative zum Abrutschen gibt: der Fokus auf Eurasien und die dortigen aufsteigenden Ökonomien.

Das transatlantische Bündnis wird sich nur unter Preisgabe sämtlicher westlicher Werte und gegen den Widerstand der eigenen Bürger aufrechterhalten lassen. Wenn jetzt das deutsche Außenministerium und das Wirtschaftsministerium erkennen lassen, dass sie bereit sind, zugunsten eines immer fragwürdiger werdenden Bündnisses noch eine zweite Front gegen China zu eröffnen, besteht die Gefahr eines kompletten Absturzes Deutschlands.

Statt antirussischer Hysterie bräuchte es dringend einen offenen und breiten gesellschaftlichen Diskurs über den tatsächlichen Wert einer transatlantischen Ausrichtung und Gefolgschaft jenseits von wohlklingenden Floskeln wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Wobei, nebenbei gesagt, all diese westlichen Werte nirgendwo derart unter Druck sind wie im Westen selbst.

Die Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt kommt eben nicht von außen, von russischer Propaganda oder ausländischer Einflussnahme, sondern aus dem Innern. Es kommt aus dem Auseinanderklaffen der Interessen zwischen dem politisch-medialen Komplex einerseits und den vitalen Interessen der deutschen Bevölkerung andererseits.

Die antirussische Hysterie ist Anzeichen dafür, dass eine Bedrohung sehr wohl gefühlt wird, dass aber die Fähigkeit zur Analyse fehlt, woher diese Bedrohung kommt. Es fehlt der reflexive, selbstkritische Blick. Das ist angesichts der tiefen transatlantischen Vernetzung der deutschen Politik und Medien auch kein Wunder. Die Akteure dort vertreten ihre eigenen Interessen. Damit vertreten sie allerdings immer weniger die Interessen Deutschlands.

Es ist die deutsche Politik in Verbindung mit den großen deutschen Medien, von der diese Bedrohung für die deutsche Gesellschaft ausgeht. Es ist die ideologische Verkrustung der Eliten in Politik und Medien, ihre Unfähigkeit zur Korrektur des eingeschlagenen Kurses und ihre systemisch bedingte mangelnde Analysefähigkeit.

Es braucht keine destruktive Einflussnahme. Diesen Job erledigt die tektonische Reibung in der deutschen Gesellschaft mit ihren immer weiter auseinanderfallenden Interessen zwischen politischer und medialer Elite auf der einen und den Bürgern auf der anderen ganz von selbst. Das deutsche System ist bereits in Agonie. Je länger deutsche Politik und deutsche Medien am Transatlantizismus festhalten, desto disruptiver und destruktiver wird der Bruch ausfallen. Die politischen Pläne zu einer immer weitergehenden Konfrontation mit den Repräsentanten der multipolaren Ordnung wird die deutsche Gesellschaft aufreiben, ohne dass dieses Opfer nennenswerten Einfluss auf die geopolitische Entwicklung haben wird.

Allerdings wird vermutlich jeder, der auf dieses Faktum verweist, zum russischen Propagandisten erklärt werden. Die deutsche Mittelschicht wird unter der mangelnden Fähigkeit des deutschen politisch-medialen Komplexes, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die Weichen entsprechend zu stellen, am meisten leiden. Sie wird abstürzen. Man ist bereit, für ein im Abstieg befindliches Bündnis den Wohlstand und den sozialen Frieden Deutschlands zu opfern und auf Konfrontationskurs mit den eigenen Bürgern zu gehen. Dass diese Politik keine Zukunft hat, ist selbsterklärend.

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