von Dagmar Henn
Die Welt ist im Umbruch. Das zeigte sich auch in Lateinamerika, dessen Staaten sich überwiegend weigerten, den Sanktionen gegen Russland zuzustimmen. Den 9. Amerika-Gipfel der USA, der im Juni in Los Angeles stattfand, kommentierte auch die deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als „wachsende Entfremdung zwischen den USA und ihren Partnern in Mittel- und Südamerika“.
Dabei sei nicht nur die Einladungspolitik der Vereinigten Staaten ein Streitpunkt gewesen; der Bruch gehe tiefer. "Eine projektbezogene Kooperation mit den extraregionalen Akteuren China, Europa, Russland und Indien erscheint ihnen lohnender, eine zu enge Bindung an die USA dabei nur hinderlich." Die SWP sieht da sogleich eine nützliche Bresche: "Europa muss sich auf diese neue Lage einstellen und sein Kooperationsangebot in variabler Geometrie umbauen." Übersetzt heisst das, man könne vom sinkenden Einfluss der USA profitieren.
Dementsprechend sind Vertreter der EU inzwischen bei der brasilianischen Regierung vorstellig geworden, um die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Handelsbündnis Mercosur wieder aufzunehmen. Dieses eigentlich fertig verhandelte Abkommen scheiterte über Jahre hinweg am Widerspruch innerhalb der EU, weil einigen unter anderem die Umweltauflagen nicht weit genug gingen.
Diese neuen Verhandlungen stehen aber unter keinem guten Stern. Die jetzige brasilianische Regierung hat bereits erklärt, sie werde diesem Abkommen nicht zustimmen, weil ihr eben diese Umweltauflagen, die insbesondere die Abholzung des Amazonaswaldes betreffen, zu weit gehen; aber der Kandidat der Opposition für die in zwei Monaten anstehenden brasilianischen Wahlen, Luis Ignacio da Silva (Lula), der bereits zwei Amtsperioden als brasilianischer Präsident hinter sich hat, hat erklärt, dass er keinesfalls Regelungen akzeptieren könne, die eine Reindustrialisierung Brasiliens verhinderten. Und auch sein Ton klingt schärfer, als er vor einigen Jahren gewesen wäre: "Brasilien hat es nicht nötig, etwas zuzustimmen, was nicht den Bedürfnissen Brasiliens entspricht." Das Ziel müssten "zivilisiertere Beziehungen" sein.
Über viele Jahrzehnte hinweg beruhten die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika auf der Tatsache, dass die Europäer eine Alternative zu den USA boten und die Konkurrenz zwischen beiden einen gewissen Spielraum für Souveränität ermöglichte. Der klassische Fall dafür ist der Bau der brasilianischen Kernkraftwerke Angra I und II. Angra I wurde vom US-Konzern Westinghouse errichtet, Angra II aber (gegen lautstarken US-amerikanischen Protest) von Siemens. Gerade viele deutsche Konzerne konnten sich auf dieser Grundlage in Lateinamerika ansiedeln.
Aber die Entwicklung des Anteils deutscher Importe in Brasilien kann als Beispiel dienen, wie sich die Lage verändert hat. 2002 lagen deutsche Importe dort noch auf dritter Position, mit einem Anteil von 9,4 Prozent; mittlerweile sind es nur noch 5,8 Prozent, während der größte Handelspartner China einen Anteil von 22,1 Prozent abdeckt. An diesem Punkt unterscheidet sich die Entwicklung für die Deutschen nicht von der für andere Europäer. China ist der interessanteste Partner und längst in ganz Lateinamerika an erster Stelle.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat jüngst in Lateinamerika die Stimmung Europa gegenüber abgefragt, was ergab, dass bei Europa vor allem an Monumente und Museen gedacht wird und auf den folgenden Plätzen Könige und Königinnen, Sozialstaat und ökonomische Integration miteinander wetteifern. Befragt wurden allerdings nur jene, die mindestens Sekundarbildung haben.
Die Ergebnisse sind sehr widersprüchlich. Auf die Frage, mit welcher Region die Wirtschaftsbeziehungen verstärkt werden sollten, antworteten 48,1 Prozent mit "Europa" und nur 19,3 Prozent mit "Nordamerika", dennoch gelten die USA für fast die Hälfte der Befragten als Vorbild. Der beste Partner für Digitaltechnologie und Infrastruktur heißt allerdings selbst in dieser Befragung China.
Die augenblickliche geopolitische Position der EU ist für die Pläne, die Kontakte zu Lateinamerika zu verbessern, nicht wirklich förderlich. Das erkennt auch Martin Schulz, der ehemalige Präsident des EU-Parlaments, der inzwischen die Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. Ihm wurde dort mitgeteilt, man werde sich keinesfalls den Sanktionen gegen Russland anschließen. "Für euch reiche Europäer sind die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise verkraftbar. Für uns bedeutet das aber teilweise Hunger in der Bevölkerung, teilweise den Absturz der Mittelschicht, der zu großen politischen Verwerfungen führen wird."
Er glaubt, mit Verweis auf die Umfrage, dennoch, dass die EU "gerade in Lateinamerika gegenüber China einen Vorteil" habe, weil die Werte ähnlich seien, und meint, jetzt müssten finanzielle Hilfen geboten werden, um die Folgen der Steigerungen bei Nahrungsmittelpreisen aufzufangen.
"In Ländern wie Mexiko, Argentinien und Brasilien, also in den größeren lateinamerikanischen Staaten, glaube ich, dass wir den Schwerpunkt der europäischen Unterstützung auf Folgendes legen müssen: Was sind Investitionen, die der Bevölkerung vor Ort helfen und das Land zugleich dabei unterstützen, nachhaltige Entwicklungsziele aus der Agenda 2030 umzusetzen, also die Ziele der Sustainable Development Goals (SDGs)."
Das Problem mit den "nachhaltigen Entwicklungszielen"“ ist allerdings, dass sie eine reale, solide Entwicklung insbesondere industrieller Art, wie sie Lula erwähnt, behindern. Die Widersprüchlichkeit ist in Lateinamerika längst aufgefallen – während Deutschland inzwischen mehr kolumbianische Kohle importiert, um das fehlende Erdgas zu ersetzen, soll den lateinamerikanischen Ländern die Nutzung im eigenen Interesse untersagt werden.
Ein Bericht aus dem Büro des EU-Außenkommissars Josep Borrell an die Außenminister der EU beschrieb die Lage in den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika als sehr problematisch. "Die Glaubwürdigkeit der EU und ihre Macht und Fähigkeit, Einfluss auf der internationalen Bühne auszuüben, ist in Gefahr," hieß es in dem Dokument. Es bestehe "das Risiko sozialer Proteste und politischer Destabilisierung." Gegenüber El Pais deutete ein Gesprächspartner aus der EU an, wo die Probleme mit den neuen Regierungen in Lateinamerika liegen: "sie sind weniger auf den Atlantik fokussiert und offener für alternative Bündnisse als die traditionellen". "Traditionell" steht dabei nicht nur für die USA, sondern auch für die EU.
Die EU ihrerseits wäre allerdings auf engere Beziehungen zu Lateinamerika mehr denn je angewiesen. "Das EU-Dokument hebt hervor, dass drei Länder der Region – Bolivien, Argentinien und Chile – 60 Prozent der Lithium-Reserven auf diesem Planeten besitzen, und Venezuela, Argentinien und Brasilien bedeutende Öl- und Gasreserven haben." In die gleiche Richtung ging auch die SWP: "Zunehmend wird erkennbar, wie wichtig Rohstoffe aus Lateinamerika wie Lithium, Niob, Kupfer, Bauxit und Eisenerz für die Energiewende und die Digitalisierung in Europa sind."
Während die EU-Bürokratie auf ein Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur setzt, sieht die SWP die Perspektive eher in bilateralen Verträgen. Die Differenzen zwischen den Ländern Lateinamerikas seien zu groß, um tatsächlich erfolgreich Verhandlungen zwischen zwei übergeordneten Strukturen zu führen. Aber auch die SWP kommt letztlic h auf keine andere Lösung, als Geld zu bieten. "Letztlich ist damit auf eine Fondslösung verwiesen, die sich aus Nachhaltigkeitsbonds finanzieren müsste." Damit sollten gemeinsame Projekte unter anderem in Wasserstoffwirtschaft ermöglicht werden.
Die Möglichkeit, aus der zunehmenden Distanz Lateinamerikas von den Vereinigten Staaten Nutzen zu ziehen, dürfte also weitgehend theoretisch bleiben. Nicht nur, dass die Frontstellung gegen Russland nicht geteilt wird (das chilenische Parlament hatte sich jüngst, wie auch das letzte Treffen des Mercosur, geweigert, eine Rede von Selenskij zu übertragen); auch die etwa im EU-Papier vorgeschlagene Unterstützung bei der Bewältigung der Lebensmittelkrise stößt auf zwei Probleme.
Zum einen, dass besagte Krise nicht auf einem realen Mangel beruht, sondern vor allem auf massiver Spekulation, die von den vier größten Getreidehändlern Cargill, Dreyfus, Walmart und Nestlé, betrieben wird, die dementsprechend Rekordgewinne verzeichnen, und die EU in keiner Weise dagegen vorgeht oder auch nur vorzugehen versucht. Sie hat schließlich selbst im Gas- und Strombereich ähnliche Handelsmöglichkeiten eröffnet, die nun die Hauptpreistreiber auf dem Energiesektor sind.
Nein, es gibt noch ein anderes Hindernis. Probleme, die nur mit Geld zu lösen sind, wird die EU bald nicht mehr lösen können. Mit technischer und industrieller Kompetenz werben auch nicht, denn für beides braucht man eine funktionierende Industrie. Eine Chance für die EU – oder auch Deutschland alleine - den Einfluss in Lateinamerika zu stärken, gäbe es nur unter Voraussetzungen, die die EU selbst zunichte gemacht hat.
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