Ein Kommentar von Andrew Korybko
Es kommt nicht oft vor, dass diejenigen, die eine multipolare Weltanschauung teilen, der Aussage eines polnischen Ministers zustimmen. Aber genau das tun jetzt viele, nachdem sie den Gastbeitrag von Außenminister Zbigniew Rau in der polnischen Zeitschrift Rzeczpospolita gelesen haben, in dem er schrieb: "Freiheit und Gleichheit der Nationen sind die einzige Verteidigung gegen die Bedrohung durch den Imperialismus."
Um es klar zu sagen, die Befürworter der entstehenden multipolaren Weltordnung, werden Rau offensichtlich nicht zustimmen, wenn es um Russlands laufende militärische Spezialoperation in der Ukraine geht, aber seine scharfe Kritik an den imperialistischen Neigungen der von Deutschland geführten EU, trifft den Nagel auf den Kopf.
Rau eröffnete seinen Gastbeitrag mit der Besorgnis über Deutschlands turbogeladene Bemühungen, vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Osteuropa, innerhalb der Europäischen Union offiziell die Führungsrolle zu übernehmen. Dies hat Polen dazu veranlasst, seine Sichtweise zu diesem heiklen Thema zu teilen, weil "wir in unserer Geschichte schon einmal dem Imperialismus eines Nachbarn zum Opfer gefallen sind". Obwohl nicht ausdrücklich erwähnt, ging diese Geschichte von Deutschland aus – während der 123-jährigen dreiteiligen Besetzung in den Jahren 1795 bis 1918 und erneut während der völkermörderischen Besetzung durch die Nazis von 1939 bis 1945, die auf tragische Weise zur Vernichtung von sechs Millionen Polen führte, von denen die Hälfte Juden waren. Ich habe bereits in der Vergangenheit über Deutschlands neuestes hegemoniales Machtspiel geschrieben, was man als zusätzliche Hintergrundinfo lesen kann.
Unter dem Titel "Deutschlands jahrhundertelange Verschwörung zur Eroberung der Kontrolle über Europa ist fast abgeschlossen" erkläre ich Berlins Spekulation, die Kontrolle über die Europäische Union zu übernehmen, indem es dafür die letzte Phase des Ukrainekonflikts, die Ende Februar begann, geschickt ausnutzt.
Mein Beitrag macht auch die Warnung des einflussreichen polnischen Politikers Jarosław Kaczyński von Anfang Januar glaubhaft, dass Deutschland plane, ein sogenanntes "Viertes Reich" zu errichten, auf die ich in einem anderen Artikel mit dem Titel "Polens grauer Kardinal hat recht: Deutschland baut tatsächlich ein Viertes Reich" näher eingegangen bin. Zusammengenommen sollten meine beiden Analysen und Raus jüngster Artikel von unerschrockenen Beobachtern nacheinander gelesen werden, um den größeren Zusammenhang besser zu verstehen.
Aber kommen wir auf den Gastbeitrag des polnischen Außenministers für Rzeczpospolita zurück, in dem er zunächst dazu überging, die Interpretation des Ukrainekonflikts durch seine Regierung aufzuwärmen und zu bekräftigen, dass "es für das heutige Europa zwingend erforderlich ist, die Freiheit und Gleichheit, sowohl von Einzelpersonen als auch von Nationen, in praktisch jedem Winkel des Kontinents zu verteidigen", was ihn dazu brachte, diesbezüglich auf die Heuchelei gewisser Mächte hinzuweisen. Polens Top-Diplomat beschuldigte in seinem Gastbeitrag die EU ausdrücklich, die Vorgehensweise dessen nachzuahmen, was er als "russischen Imperialismus" betrachte, was angesichts des gegenwärtigen Kontexts im Ukrainekonflikt, mit seiner extremen Sensibilität, eine beispiellose Kritik darstellt.
Rau schrieb dazu weiter: "Das größte Defizit an Freiheit zeigt sich in den zunehmenden Beschlussfassungen durch Mehrheitsentscheidungen, wodurch die Ungleichheit innerhalb der Mitglieder der Union zunimmt. Kleine und mittlere Staaten, die unverhältnismäßig weniger in der Lage sind, effektive Koalitionen zu bilden, einschließlich der Koalitionen, um eine Entscheidung zu blockieren, sind zum Verlieren verurteilt, wenn sie versuchen, ihre Rechte, Interessen oder Bedürfnisse allein zu verteidigen. Und wenn sie überstimmt werden, entscheiden dann andere über ihr Schicksal, was bedeutet, dass ihre Freiheit grundlegend verletzt wird." Dies steht im Einklang mit der eurorealistischen Vision der EU-Integration, die von Polen verfochten wird, und steht im Gegensatz zu Deutschlands euroliberaler Vision. Bei der ersteren wird die staatliche Souveränität unterstützt, während letztere sie verletzt.
Aufbauend auf diesem Paradigma ging Polens oberster Diplomat dann dazu über, den Euro zu beschimpfen. Das lässt sich auf die Warnung von Kaczyński von Anfang Juli zurückführen, dass Deutschland Polen unter Druck setze, diese Währungsordnung einzuführen, um seine wirtschaftlichen Aussichten "abzuwürgen" und Polen so zu einer willigeren Marionette zu machen. Rau führte das Beispiel von Griechenland an, um den dunklen Weg anzudeuten, den Polen betreten wird, falls es Deutschland gelänge, das Land zu zwingen, seine Landeswährung aufzugeben.
Die von ihm vorgeschlagene Lösung besteht darin, einen "systemischen und teilweisen Schuldenerlass für einige Mitglieder der Eurozone oder eine vorübergehende oder dauerhafte Rückkehr zu ihren nationalen Währungen" vorzuschlagen. Zusammenfassend beschrieb Rau den gegenwärtigen Moment als eine existenzielle Herausforderung.
Nach der Lektüre von Raus Einsichten über die imperialistische Bedrohung Polens durch Deutschland und die Europäischen Union, die von Berlin inoffiziell kontrolliert wird, kann gesagt werden, dass seine Perspektive relevant ist, um die Sorgen der mittelgroßen und kleineren EU-Länder im gegenwärtigen Kontext von Berlins Ambitionen, die formelle Führung in der umfassenden europäischen Integration zu übernehmen, zu verstehen.
Polen hat triftige Gründe zu der Annahme, dass die Pläne der deutschen Großmacht bis ins Mark hegemonial sind. Sie unterscheiden sich im Prinzip nicht von dem, was seine Regierung Russland im Falle der Ukraine vorwirft. Dem könnte – um es deutlich zu sagen – von Befürwortern der entstehenden multipolaren Weltordnung widersprochen werden, die aber dennoch Polens scharfe Kritik an Deutschland befürworten.
Weit davon entfernt, die EU unter Deutschlands Führung zu vereinen, hat die jüngste von den USA provozierte Phase des Ukrainekonflikts tatsächlich bereits bestehende und unüberbrückbare Differenzen über die Richtung, die diese Union in Zukunft einschlagen sollte, verschärft. Die von Polen geführte eurorealistische Vision befürwortet eine Rückkehr zur staatlichen Souveränität, um eine echte Gleichheit zwischen EU-Mitglieder sicherzustellen, während die von Deutschland geführte euroliberale Vision eine fortgesetzte Erosion der staatlichen Souveränität befürwortet, um sicherzustellen, dass die mitteleuropäische deutsche Großmacht eine anhaltende Hegemonie gegenüber allen anderen EU-Mitgliedern aufrechterhalten kann. Es bleibt noch unklar, welche Vision sich durchsetzen wird, aber es besteht kein Zweifel, dass sie in naher Zukunft in eine harte Konkurrenz treten werden.
Mehr lesen: Polen beklagt "imperialistische Tendenzen" in der Europäischen Union
Aus dem Englischen
Andrew Korybko
ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien, Chinas Belt and Road-Initiative sowie Russlands geopolitischem Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.