Ein Kommentar von Glenn Diesen
Der Autor und Überlebende des Holocausts Victor Klemperer identifizierte zwei unterschiedliche Sprachstile, die Hitlers Propaganda gegen die Juden ausmachten: entweder die "spöttische Verhöhnung" als minderwertige Rasse oder das "panische Schüren der Angst" vor deren Bedrohung für die Zivilisation.
Die antirussische Propaganda der vergangenen Jahrhunderte hat in ähnlicher Weise zwei widersprüchliche Positionen hervorgebracht – die Verhöhnung der Russen als unzivilisiertes und rückständiges Volk, das gleichzeitig aber eine unermessliche Bedrohung für Europa darstellt. Ein Zustand, der von einem Autor einst als "Russophrenie" beschrieben wurde: die Idee, dass Russland am Auseinanderfallen ist, gleichzeitig aber auch die Weltherrschaft übernehmen wird.
Russland soll hoffnungslos unfähig und schwach sein, aber gleichzeitig auch in der Lage, die Demokratien der Welt zu untergraben und ein globales Imperium wiederherzustellen. Moskau ist derart unwichtig, dass der Westen seine eigenen grundlegenden Sicherheitsinteressen nicht anerkennen oder berücksichtigen muss, während die 30 Mitgliedsstaaten der NATO gleichzeitig nach immer mehr Waffen rufen, um sich gegen die gefürchteten Russen zu verteidigen. Die Schwäche oder die Stärke eines Gegners – oder beides – zu übertreiben, ist eine Schlüsselkomponente der Propaganda, was ein offensichtliches Risiko von Fehlkalkulationen mit sich bringt, weil die tatsächlichen Fähigkeiten des Gegners nicht präzise eingeschätzt werden. Der Krieg in der Ukraine ist eine gute Fallstudie dieses Phänomens.
Die Übertreibung der russischen Stärken und Schwächen
Um noch mehr NATO, noch mehr Militärausgaben und noch mehr Eindämmung Russlands zu fordern, wird allgemein argumentiert, dass man die Bedrohung durch die Russen unterschätzt habe. Während des Kalten Krieges wurde fälschlicherweise argumentiert, dass die Sowjets gegenüber den USA einen riesigen Vorsprung bei der Raketenbewaffnung hätten, was den USA Anreize für zusätzliche Militärausgaben gab. Und auch nach dem Kalten Krieg haben sich die Osterweiterung und die Daseinsberechtigung der NATO weiterhin auf eine übertriebene russische Bedrohung verlassen.
Um ein energischeres Vorgehen gegenüber Russland zu fördern, wird jetzt argumentiert, wir hätten Moskaus Stärke überschätzt. In einem Artikel in The Atlantic wird beispielsweise argumentiert, dass "der Krieg in der Ukraine Russland als nicht so starke Macht entlarvt hat". Weil die russische Armee "bisher nur 20 Prozent der Ukraine erobern konnte", suggeriert der Artikel, es sei an der Zeit, sich von der Illusion zu verabschieden, dass Russland eine Großmacht ist. Diese Schlussfolgerung unterstützt eine noch härtere Position gegenüber Russland, im Gegensatz zum Argument von Henry Kissinger, dass Großmächte dem Frieden entgegenkommen müssen. Mit anderen Worten: noch mehr von derselben Politik, die Spannungen angeheizt und uns in diesen schrecklichen Konflikt gebracht hat.
Das falsche Narrativ vom russischen Scheitern in der Ukraine
Es besteht kein Zweifel, dass Russland in der Ukraine keinen schnellen Sieg erringen konnte. Russland stürmte in der Anfangsphase bis in die Außenbezirke von Kiew und versuchte, eine Einigung mit der ukrainischen Regierung zu erzwingen. Die territorialen Vorstöße Russlands wirkten sehr beeindruckend und deckten sich mit dem Narrativ eines allmächtigen Russlands. In Wirklichkeit waren diese Vorstöße auf dünne und anfällige Versorgungslinien angewiesen. Da keine diplomatische Einigung mit Kiew erzielt werden konnte, mussten diese Stellungen wieder aufgegeben werden.
Großbritannien und die USA überredeten Kiew anschließend dazu, die Friedensgespräche in Istanbul abzubrechen, woraufhin sich die Art der Kampfhandlungen grundlegend änderte. Der kollektive Westen versprach, alle erforderlichen Waffen bereitzustellen, wenn die Ukraine die Verhandlungen abbrechen und gegen Russland kämpfen würde. Washington hat sich zum Ziel gesetzt, Russland dauerhaft zu schwächen und vom Tisch der Großmächte zu verdrängen.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin kündigte ausdrücklich an, dass das Ziel der USA sei, "Russland in einem solchen Maße zu schwächen, dass es nicht mehr in einen Nachbarstaat einmarschieren kann". Dieses Ziel steht im Einklang mit den Zielen, die sich die renommierte nachrichtendienstliche Denkfabrik RAND Corporation im Jahr 2019 gesetzt hat, um Moskau zu überfordern und zu Fall zu bringen: "Das ukrainische Militär blutet Russland bereits in der Donbass-Region aus – und umgekehrt. Die Bereitstellung von mehr US-Militärausrüstung und militärischer Beratung könnte Russland dazu veranlassen, seine direkte Beteiligung am Konflikt zu erhöhen, und damit steigt auch der Preis, den es dafür bezahlen muss."
Die russische Hoffnung auf einen schnellen Sieg wich somit einem Zermürbungskrieg, bei dem Moskau darauf setzt, die ukrainische Armee aufzuzehren und zu zerstören. Die Zerreißprobe scheint nun bevorzustehen, wie der aktuelle Zusammenbruch der am stärksten befestigten Stellungen der Ukraine in Marjinka, Peski und Awdejewka zeigt.
Dieser Teil der Operation wird wahrscheinlich Ende August oder im Laufe des Septembers enden und sich in eine schnelle territoriale Vorwärtsbewegung verwandeln.
Aber ist es strategisch klug, diese Realität zu leugnen, um das Narrativ eines schwachen Russlands aufrechtzuerhalten? Das Narrativ einer unfähigen, erschöpften und demoralisierten russischen Armee, der bald die Munition ausgeht, wird seit März gespeist. Es gibt jedoch ein noch größeres Problem mit dem Narrativ, dass Russland seinen schwachen Nachbarn nicht besiegen kann, denn in Wirklichkeit ist die NATO indirekt ebenfalls gegen Russland in den Krieg gezogen. US-Brigadegeneral Joseph Hilbert sagte kürzlich, dass "das Dümmste, was die Russen getan haben, war, uns acht Jahre zur Vorbereitung zu geben". Darüber hinaus hat der kollektive Westen seit dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 immer modernere Waffen geliefert.
Ist Russland eine Großmacht?
Der amerikanische Politologe John Mearsheimer definierte eine Großmacht durch ihre "vernünftige Aussicht, sich aus eigener Kraft gegen den führenden Staat im System zu verteidigen". Es scheint, dass Russland diesen Test bestanden hat, da der kollektive Westen jetzt alles, außer der Küchenspüle, in Bezug auf die Lieferung von militärischen Gütern, militärischen Geheimdienstinformationen und Wirtschaftssanktionen gegen Russland geworfen hat.
Der kollektive Westen hat in einem vergeblichen Versuch, den russischen Vormarsch auf dem Schlachtfeld zu stoppen, einen großen Teil seiner Waffenlager geleert. Dabei kämpft Russland mit einer 200.000 Mann starken Berufsarmee gegen ein um ein vielfach größeres ukrainisches Heer, das schon seine sechste Welle der Mobilisierung erlebt hat. Die Drei-zu-Eins-Kriegsregel besagt, dass der Angreifer mindestens dreimal so stark sein muss wie der Verteidiger, damit er die Schlacht gewinnen kann. In der Ukraine stand dieses Verhältnis mit eins zu drei zugunsten der Ukraine, während Russland seine zwei Millionen Reservesoldaten und viele seiner modernsten Waffen noch in den Kasernen belässt, für den Fall, dass die NATO direkt in den Krieg eingreifen sollte.
Der kollektive Westen hat beispiellose Wirtschaftssanktionen mit der ausdrücklichen Erwartung verhängt, dass die russische Wirtschaft, das Finanzsystem und die russische Währung sofort zusammenbrechen würden. Das ist nie passiert, und der russische Rubel hat sich dieses Jahr als bisher robusteste Währung erwiesen. Die Sanktionen sind so spektakulär nach hinten losgegangen, dass der Westen sein eigenes Haus in Brand gesteckt hat, in der Hoffnung, dass es auf Moskau übergreifen würde.
Auch der Versuch, die internationale Gemeinschaft gegen Russland zu mobilisieren, ist gescheitert, weil 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern lebt, die sich weigern, sich an Sanktionen zu beteiligen – trotz dem Druck und den Drohungen der USA. Sogar der Papst wies als Quelle des Krieges auf die aggressive Expansion der NATO hin.
Die Gefahren des Wunschdenkens
Zu bestreiten, dass Russland eine Großmacht ist, mag sich gut anfühlen, aber wie der chinesische Philosoph Lao-Tse vor mehr als 2.500 Jahren sagte: "Es gibt keine größere Gefahr, als seinen Gegner zu unterschätzen".
Wunschdenken über russische Schwächen verleitet den kollektiven Westen zur Eskalation, während es für die Diplomatie und für einen Waffenstillstand immer schwieriger und ungünstiger wird. Vor Ende Februar 2014 war es Russlands Politik gegenüber der Ukraine, sie als neutralen Staat, als Brücke zwischen Ost und West, zu bewahren. Nach dem vom Westen unterstützten Regierungsumsturz und der Mithilfe bei der "Antiterroroperation" im Donbass forderte Russland Autonomie für diese Region. Während die USA sieben Jahre lang das Friedensabkommen von Minsk sabotierten, das diese Autonomie vorsah, änderte der Kreml seine Haltung und begann, auf eine Unabhängigkeit des Donbass zu drängen. Als die USA damit begannen, moderne Waffen in die Ukraine zu schicken, mit dem ausdrücklichen Ziel, Russland dauerhaft zu schwächen, weitete Moskau seine territorialen Ansprüche aus, um dieser Bedrohung entgegenzuwirken.
Der Köcher der Sanktionen gegen Russland ist leer – und die Sanktionen sind schrecklich nach hinten losgegangen. Es wird jetzt allmählich erkannt, dass die Maßnahmen ein außerordentlicher Fehlschlag waren, mit denen die westlichen Volkswirtschaften an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wurden, während Moskau seine wirtschaftliche Konnektivität nach Osten verlagert hat. Russlands wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen war eine Quelle großen Einflusses auf den Kreml, aber dieser Einfluss schwindet, und er kommt nicht wieder zurück.
Der Wunsch, Russland als schwach darzustellen, ist deshalb erforderlich, weil die NATO darauf besteht, dass sie aus einer Position der Stärke heraus mit Russland verhandeln muss. Aber ist das nicht die Ursache des Problems? 30 Jahre lang verhandelte die NATO gegen ein angeblich schwächeres Russland, und das Ergebnis war, dass die von den USA geführte Militärallianz einseitig handeln und russische Sicherheitsinteressen ignorieren konnte. Durch die Aufgabe gesamteuropäischer Sicherheitsvereinbarungen brach auch die gesamteuropäische Sicherheit zusammen. Wir bewegen uns seit 30 Jahren langsam auf einen großen europäischen Krieg zu, und es gibt keine guten Lösungen mehr. Aber ein Ende des Wunschdenkens muss der Anfang sein.
Übersetzt aus dem Englischen.
Glenn Diesen ist Professor an der Universität Südost-Norwegen und Redakteur des Journals "Russia in Global Affairs". Man kann ihm auf Twitter unter @glenn_diesen folgen.
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