Von Dagmar Henn
Jetzt sind es also 700 Seiten, die den großen Skandal um Trump ausmachen, oder "mehr als 300 Verschlusssachen", wie die FAZ titelt, "durch Trump entwendet". Und es ist kein Wunder, dass die bundesdeutschen Medien einhellig die Position der gegenwärtigen US-Regierung einnehmen – mit Formulierungen, die klingen, als hätte sich Trump heimlich ins Weiße Haus geschlichen und die Akten aus Schränken gestohlen.
Aber betrachten wir die Frage einmal logisch.
Gibt es in den USA eine Instanz, die über dem Präsidenten steht? Allerhöchstens der Supreme Court, das Oberste Gericht. Der Präsident hat unbegrenzten und vollständigen Zugriff auf alle Dokumente, gleich welcher Sicherheitsstufe. Das bedeutet auch, dass er nach der Amtszeit Dokumente aus dieser Amtszeit immer noch einsehen darf. Anders sähe es damit aus, solche Dokumente, sofern sie noch klassifiziert sind, anderen zugänglich zu machen. Aber dieser Vorwurf wird nicht erhoben. Es wird nur behauptet, sie seien nicht sicher genug aufbewahrt gewesen. Das allerdings ist Gegenstand der Debatte.
Ist der Präsident befugt, eine Klassifizierung aufzuheben? Selbstverständlich. Sollte Trump einen entsprechenden Beschluss während seiner Amtszeit getroffen haben, sind diese Dokumente deklassifiziert. Das Argument, da gäbe es ein langwieriges Verfahren, ist schwach. Das langwierige Verfahren existiert als Hilfsmittel für Präsidenten, die unter Druck stehen, bestimmte Dokumente zu deklassifizieren, dies aber nicht tun wollen. In einer Präsidialdemokratie sind zwar die Gesetze auch vom Präsidenten zu befolgen, schlichte Verwaltungsverfahren aber nicht. Letztlich müsste sich ein entsprechender Beschluss bei verfassungsrechtlicher Klärung als gültig erweisen. Andernfalls wäre auch das Recht, alle Dokumente zu sehen, infrage gestellt.
Ein weiterer Punkt, der nicht klar ist, ist, ob es sich bei den Akten, deren "Entwendung" Trump vorgeworfen wird, tatsächlich um die einzigen Kopien handelt. Im Normalfall existiert selbst ein streng klassifiziertes Dokument in mehreren Kopien; jedes Schreiben beispielsweise in einer Kopie beim Absender und einer weiteren beim Empfänger. Historische Akten erwecken da oft einen falschen Eindruck, weil in der Regel mit Glück ein Exemplar aufgehoben wurde.
Die Biden-Regierung beziehungsweise das US-Justizministerium bezieht sich jedoch in seinem Anspruch auf die Akten auf ein Urteil, das einem amtierenden Präsidenten einen Anspruch auf die "zur Erfüllung seiner Amtspflichten" erforderlichen Dokumente gibt. Dann sind es allerdings keine abgeschlossenen Akten, was gleichzeitig bedeutet, dass es aktuell noch weitere Kopien in den entsprechenden Behörden gibt. Gibt es aber weitere Kopien, dann bedarf es dieser nicht.
Der rechtliche Punkt, um den es in der Auseinandersetzung geht, nennt sich exekutives Privileg. Der Begriff, allerdings nicht die Praxis, stammt aus der Eisenhower-Ära. Er beinhaltet das Recht, die Vertraulichkeit von Informationen auch Gerichten gegenüber zu bewahren. Der technische Grund für die Existenz dieses Privilegs ist simpel – bestimmte Arten von Verhandlungen sind gar nicht möglich, wenn die Vertraulichkeit nicht garantiert ist. Dieses Privileg gilt auch für ehemalige Präsidenten. Auch das wieder aus pragmatischen Gründen: Ein Amtsinhaber, der fürchten müsste, von seinem Nachfolger bloßgestellt oder gar juristisch verfolgt zu werden, würde diesem nicht genug Informationen zukommen lassen, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten.
Nun zur Vorgeschichte der Durchsuchung. Im Januar übergab Trump fünfzehn Kisten mit Dokumenten an das Nationalarchiv (NARA). Üblicherweise werden solche Akten kopiert und anschließend zurückgegeben. Das soll im April auch geschehen sein. Im selben Monat nimmt das NARA aber Kontakt mit dem Justizministerium auf und informiert darüber, dass sich klassifizierte Dokumente darunter befänden.
Das ist an sich nicht ungewöhnlich; alle bisherigen US-Präsidenten hatten nach ihrer Amtszeit Unterlagen in Besitz, und oft wurden sie erst nach ihrem Tod zugänglich. Trump hat jüngst erklärt, Barack Obama habe ganze dreißig Millionen Seiten mitgenommen. Ungewöhnlich ist allerdings, dass das Archiv sich an das Justizministerium wendet. Das Justizministerium schaltete daraufhin das FBI ein, ein weiterer höchst ungewöhnlicher Vorgang. Und das FBI verlangte Einsicht in diese Akten – also erst einmal in die Kopien, die das NARA angefertigt hatte.
Schon dieses Verlangen ist schwach begründet. Das Gesetz, auf dem die Archivierung der Unterlagen eines US-Präsidenten beruht (und auf das sich die NARA-Leiterin beruft), der Presidential Records Act, verlangt, dass der Zugang nach dem Ende einer Amtszeit für mehrere Jahre streng beschränkt wird. Die Aufzeichnungen sollen nur "einem amtierenden Präsidenten zur Verfügung gestellt werden, wenn diese Aufzeichnungen Informationen enthalten, die für die Erfüllung des laufenden Geschäfts des amtierenden Präsidenten benötigt werden und andernorts nicht zur Verfügung stehen." Sprich, es müssten zwei Punkte nachgewiesen sein – dass diese Dokumente tatsächlich aktuell benötigt werden, und dass es keine weiteren Kopien andernorts davon gibt. Beides ist bisher unbewiesene Behauptung.
Der Anwalt Trumps verwies auf das exekutive Privileg und verlangte einen Aufschub, damit sein Mandant die Dokumente daraufhin sichten und entscheiden könne, ob er bei einigen davon Gebrauch von diesem Recht machen will. Das ist ein Verlangen, das völlig den Spielregeln entspricht. Schließlich werden selbst Schmierzettel des Präsidenten aufgehoben. Wer nachdenkt, was er schon alles einmal beim Telefonieren auf Zettel gemalt hat, begreift schnell, dass es dabei auch um Persönlichkeitsschutz geht, der in diesem Fall genau durch die Regeln der Aufbewahrung bedroht wird.
Im Mai erklärte Jonathan Su, der stellvertretende Rechtsberater des Weißen Hauses, gegenüber der neuen Leiterin des Nationalarchivs, Debra Steidel Wall, dass Biden einer Aufhebung des exekutiven Privilegs für Trump nicht widerspräche. Daraufhin schrieb Steidel Wall an den Anwalt Trumps, sie werde dem FBI Einsicht gewähren.
Eine unbeantwortete Frage ist, ob die entsprechenden Beamten des FBI überhaupt die nötigen Sicherheitsfreigaben besaßen, um diese Dokumente zu sichten. Jedenfalls kamen sie zu dem Schluss, die Originale übergeben haben zu wollen. Das Justizministerium schickte daraufhin eine Vorladung an Trumps Mannschaft, alle entsprechenden Dokumente zu übergeben. Am 3. Juni dann kamen FBI-Angehörige mit dessen Zustimmung zu Trump und sein Anwalt übergab ihnen Papiere. Am 8. August erfolgte dann die Durchsuchung.
Noch einmal – der Grund, den NARA-Chefin Steidel Wall in ihrem Schreiben anführte, warum die Verwaltung des amtierenden Präsidenten Zugriff auf diese Dokumente haben solle, wäre, sofern er überhaupt gegeben war, bereits durch die Einsicht in die Kopien erledigt gewesen. Ein anderer Grund macht diese Einsicht rechtswidrig.
Einer der Gründe, warum die Auseinandersetzung um den Durchsuchungsbefehl so scharf ist, ist, dass in der Begründung desselben benannt sein muss, welche Dokumente warum gesucht werden sollen. Denn die Frage, was eigentlich gesucht wurde, ist neben der Frage, ob nicht ohnehin Kopien vorhanden waren, der zweite völlig unklare Punkt in der Geschichte.
Unübersehbar ist allerdings, dass eine ganze Reihe Institutionen auf eine Weise reagiert haben, die bisher beispiellos ist. Ein Nationalarchiv, das sich direkt an das Justizministerium wendet, ist ein Nationalarchiv, dem man nur noch mit äußerster Vorsicht Akten übergeben wird. Damit hat sich das höchstrangigste Archiv der USA auf eine Stufe mit halb-wissenschaftlichen ideologischen Instituten wie der ehemaligen Gauck-Behörde gestellt. Auch, dass das Justizministerium dann sogleich das FBI in Marsch setzt, ist ungewöhnlich.
Die Aufhebung des exekutiven Privilegs, die die NARA-Leiterin Steidel Wall so beiläufig mitteilte, ist ein sehr ungewöhnlicher Akt. Sie bezog sich dabei auf ein Urteil des Höchsten Gerichts zu Nixon; dabei ging es um die Watergate-Bänder. Nixon hatte sämtliche Gespräche im Weißen Haus aufzeichnen lassen. Das Band, um das es in dem Gerichtsverfahren ging, beinhaltete ein Gespräch zwischen Nixon und seinem Stabschef, wie man die Ermittlungen zu dem Einbruch in die Parteizentrale der Demokraten ausbremsen könne.
Es handelte sich also um kein Gespräch, das aus Gründen der nationalen Sicherheit geheim war, sondern um ein Gespräch, in dem eine Verabredung zur Rechtsbeugung stattfand. Der Vorwurf, den das FBI gegen Trump vorträgt, bezieht sich auf Dokumente, die andere für geheim erklärt haben. Wobei man eben nicht übersehen darf, dass in dieser Frage der Präsident selbst für alle Dokumente seiner Amtszeit die höchste Instanz ist. Im Grunde hätte das FBI also erst belegen oder rechtlich durchsetzen müssen, dass die Deklassifizierung durch Trump nicht rechtens war. Die Sachlage ist jener des Streitfalls um Watergate genau entgegengesetzt – der Präsident erklärt etwas für nicht klassifiziert, und das FBI besteht darauf, es sei es.
Das US-Portal Just the News fragte einen der bekanntesten US-amerikanischen Juristen, Alan Dershowitz, zu seiner Meinung bezüglich der Aufhebung des exekutiven Privilegs. Dershowitz hat zwar in der Vergangenheit auch bereits für Trump gearbeitet, aber ebenso für Epstein oder für Patty Hearst und angeblich sogar – vor vielen Jahren – für Nelson Mandela. Er ist langjähriges Mitglied der Demokraten und lehrte an der juristischen Fakultät von Harvard. Man könnte also annehmen, dass seine Aussage sowohl qualifiziert als auch in diesem Zusammenhang einigermaßen neutral ist.
"Ich war sehr überrascht", kommentierte Dershowitz das Schreiben der Archivdirektorin. "Es sollte dem amtierenden Präsidenten nicht möglich sein, das exekutive Privileg eines Vorgängers ohne dessen Zustimmung aufzuheben. Andernfalls bedeutet es nichts. Welcher Präsident wird etwas vertraulich diskutieren, wenn er weiß, derjenige, der ihn in der Wahl geschlagen hat, kann und wird es veröffentlichen? Die vernünftigste Auffassung ist, dass ein amtierender Präsident das Recht des vorhergehenden Präsidenten nicht aufheben kann. Das würde den ganzen Gedanken des Privilegs ad absurdum führen."
Es zeichnet sich bereits ab, dass die Begründung des Durchsuchungsbeschlusses, um deren Herausgabe seit der Durchsuchung gerungen wird, nur in stark bis vollständig geschwärzter, also nutzloser Version freigegeben werden dürfte. Die Begründung dafür lautet "Quellenschutz".
Inzwischen ist ein weiteres Schreiben aufgetaucht, das aus dem Weißen Haus an Steidel-Wall ging, mit Datum vom 10. Mai. In diesem schrieb Dana Remus, eine weitere Mitarbeiterin der Rechtsberatung des Weißen Hauses: "Was die verbliebenen vorrangigen Aufzeichnungen betrifft, hat Präsident Biden die Ansprüche des ehemaligen Präsidenten abgewogen und ich habe mich mit dem Büro für Rechtsberatung im Justizministerium beraten. Der Präsident hat entschieden, dass eine Bestätigung des exekutiven Privilegs nicht im besten Interesse der Vereinigten Staaten und daher nicht begründet ist."
Damit ist endgültig belegt, dass es die Regierung Biden war, die das ganze Verfahren angestoßen hat. Mit jedem weiteren Schritt wird der Fall explosiver. Vor allem, weil viele US-Amerikaner noch nicht vergessen haben dürften, wie sich Hillary Clinton in einer ansatzweise ähnlichen Situation bezogen auf ihren Umgang mit Dokumenten und Kommunikation als Außenministerin auf ihrem privaten Mailserver verhielt.
Zero Hedge fasst das so zusammen: "Sie bestritt, jemals eine Vorladung erhalten zu haben, sagte dem FBI, sie könne keines der eingeforderten 13 Mobilgeräte finden, löschte über 30.000 Mails von ihrem persönlichen Server und machte öffentlich Witze darüber! Irgendwie führte dieses Verhalten nicht zu einem Durchsuchungsbeschluss für ihr Sommerhaus in Chappaqua, N.Y."
Es bleibt das gleiche Fazit, das schon zur Durchsuchung selbst zu ziehen war. Recht kann gebeugt werden und wird es auch oft und politisch instrumentalisiert, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Wird diese Grenze überschritten, dann hört es auf, Recht zu sein und verwandelt sich in Willkür. Der Schaden ist dauerhaft.
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