Von Wladislaw Sankin
Die deutschen Medien äußern vielfach Zweifel an der Darstellung des russischen Geheimdienstes FSB im Mordfall Darja Dugina. Die präsentierten Videobeweise gegen die ukrainische Bürgerin Natalja Wowk seien nicht ausreichend, so der allgemeine Tenor. Es fehle zum Beispiel eine Darstellung dessen, wie die Verdächtigte die Bombe unter dem Auto ihres Opfers platziert haben soll. Auch wird darauf hingewiesen, dass die Ukraine kein Interesse am Mord der jungen Publizistin haben könne, der Kreml dagegen aber schon, der das Verbrechen als Vorwand für ein härteres Durchgreifen gegen Oppositionelle im Inland nutzen könnte.
Man hätte an dieser Stelle gerne so viel Skepsis und Distanz bei allen bisher unaufgeklärten Fällen mit politischer Brisanz gewünscht, wie etwa im Fall Skripal oder Nawalny. Doch wie wir uns erinnern, hat die Videoaufnahme zweier russischer Staatsbürger im Londoner Flughafen bereits ausgereicht, um Russland wegen der angeblichen Vergiftung an Sergei Skripal und seiner Tochter mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok im März 2018 von der gesamten westlichen Politik an den Pranger zu stellen.
Auch seltsam klingt das von einer CDU-Politikerin vorgebrachte Argument, Dugina hätte im Kreml nichts zu entscheiden, sie sei kein Teil des Machtapparats und habe keinen Zugang zu Putin. Es ist zunächst aber nicht einmal klar, ob der Anschlag Darja Dugina, ihrem Vater oder doch beiden galt, denn das in die Luft gesprengte Auto hat nach den bislang bekannten Informationen dem Philosophen selbst gehört und er wollte ursprünglich mit seiner Tochter mitfahren. Außerdem sei Alexander Dugin nach der festen Überzeugung westlicher Medien kein Geringerer als das "Hirn Putins" oder der "Chef-Ideologe" des Kreml, wieso jetzt plötzlich "kein Einfluss"?
Solch rhetorische Equilibristik ist nachvollziehbar, denn die Einsätze sind hoch: Kiew strebt laut Darstellung westlicher Politik nach Freiheit und Demokratie, und sein Ruf darf auf keinen Fall durch einen üblen Terrorverdacht beschmutzt werden. Nichtsdestotrotz ist die Frage angebracht, inwieweit ein solcher im Fall Dugina berechtigt ist.
Darja Dugina wurde am Dienstag nach einer öffentlichen Trauerzeremonie in Moskau beigesetzt. An diesem Tag veröffentlichte RIA Nowosti Ausschnitte aus dem Gespräch mit dem Vater der Tatverdächtigen Natalja Wowk Pawel in seiner Wohnung in Mariupol. Er sagte, dass sie früher bei den ukrainischen Streitkräften gedient habe. Während ihres Dienstes habe sie an Schießübungen teilgenommen. Nach einer Gehirnoperation habe sie jedoch kündigen müssen. Nach dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine sei sie mit ihrem Kind als Kriegsflüchtling nach Frankreich gekommen. Dort habe es ihr jedoch nicht gefallen, weshalb sie nach Polen und danach zurück in die Ukraine gegangen sei. Vor drei bis vier Tagen habe sie mit ihm via Skype telefoniert. Sie sagte, dass sie sich in Litauen befinde.
Pawel Wowk selbst glaubt nicht, dass seine Tochter "einen Menschen in die Luft jagen" könnte, hält es aber für möglich, dass sie "wegen Geldes" etwa für Bespitzelung beauftragt werden könnte. Die Cousine der Verdächtigen deutete an, dass Natalia "Probleme" hatte, weil ihr Sohn Daniil als Student einer Militärschule mobilisiert werden müsste. Sie habe geweint, danach gelang es aber, die Sache mit dem Militärdienst irgendwie zu regeln. Nun sei ihr Sohn im Ausland, sagte sie.
Wie das russische Ermittlungskomitee später mitteilte, seien der Vater und weitere Verwandte sowie Teilnehmer und Mitarbeiter des Kulturfestivals "Tradition" befragt und die von Natalja Wowk gemietete Garage durchsucht worden. Die Stärke des detonierten Sprengkörpers werde noch durch eine forensische Sprengstoffanalyse ermittelt, so die Behörde weiter. Abschließend teilte das Komitee mit, dass Wowk bald auf die Fahndungsliste gesetzt wird. "Weitere an dem Verbrechen beteiligte Personen werden derzeit ermittelt."
Für die russischen Behörden gibt es keine andere Spur als diese. Zumal die Angaben der Verwandten einen Ansatz für das Motiv zeigen: Die Verdächtigte könnte einen Deal mit den ukrainischen Geheimdiensten eingegangen sein und ihren Sohn durch eine solche Tat von der Mobilisierung "freikaufen". Laut Cousine halten die Nachbarn eben diese Version für möglich - "wegen Daniil". Beide Befragten gaben auch an, dass Natalia nach der Gehirnoperation hyperaktiv und unberechenbar geworden sei. "Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vorgeht", so die Cousine.
Russlands UN-Vertreter versprachen, dass der Fall auf internationaler Ebene besprochen wird. Auf welche Argumente wird Kiew in seiner Verteidigungsstrategie also setzen? "Das ist definitiv nicht unsere Verantwortung. Sie ist keine Bürgerin unseres Landes, wir sind nicht an ihr interessiert. Und sie befand sich nicht auf ukrainischem Gebiet", sagte Wladimir Selenskij, als er von den Journalisten auf einer Pressekonferenz gebeten wurde, den Fall zu kommentieren. Zuvor haben seine Regierungsvertreter Gedanken geäußert, dass es lächerlich sei, eine Frau mit Kind eines solchen Verbrechens zu beschuldigen.
Argumentative Artikulation eines Präsidenten und seines Amtes sieht anders aus. Außerdem ist der Umstand, dass die mutmaßliche Täterin eine Frau mit Kind sein könnte, alles andere als "lächerlich". Denn ausgerechnet eine als Kriegsflüchtling getarnte Frau mit einem Kind könnte viel eher alle Durchgangskontrollen passieren als männliche Saboteure.
Frau als Rächerin
Die Möglichkeit, dass Natalia Wowk ihre Tat nicht aus Erpressung, sondern als überzeugte ukrainische Nationalistin begehen könnte, sollte nicht ausgeschlossen sein. Ihr Vater äußert da allerdings Zweifel. "Ich glaube nicht, dass sie so eine 'Ukrainerin' war." Jedenfalls, und das darf an dieser Stelle erwähnt werden, hat die Beteiligung der Frauen im Guerillakampf und bei Sabotageaktionen in der Geschichte des ukrainischen Nationalismus lange Tradition.
Die ukrainische Publizistin Miroslawa Berdnik hat über die Bandera-Bewegung geforscht und teilte am Dienstag via Facebook ein von ihr eigenhändig im Archiv des ukrainischen Sicherheitsdienstes kopiertes Foto einer Kämpferin als Beispiel.
Der russische Schriftsteller, Politiker und ehemalige Volkswehrangehörige im Donbass Sachar Prilepin erinnerte am Dienstag im russischen Fernsehen daran, dass ukrainische Geheimdienste bei Terroraktionen auf dem Territorium der beiden Donbass-Republiken traditionell auf Frauen setzten. So wurde nach bisher bekannten Informationen der Feldkommandeur Michail Tolstych (Giwi) im Februar 2017 in seinem Kabinett durch Sprengstoff getötet, den die Kiewer Studentin Anastasija Petriga in eine Tisch-Schublade gelegt haben soll.
Insgesamt sind ukrainische Frauen im nationalistisch gefärbten Aktivismus sehr aktiv. In der Regel sind es junge Frauen, die radikal-russophobe Aktionen und Performances auf europäischen Straßen durchführen und Menschen wegen ihres loyalen Verhältnisses zu Russland anpöbeln und denunzieren. Die von ihnen provozierten Skandale stellen sie dann stolz ins Netz. Im April sorgte ein Video für Aufsehen, in dem eine ukrainische Schauspielerin, als Hexe in Nationaltracht verkleidet, einem Klischee-Russen mit einer Sichel die Kehle durchschneidet. Die Macher des Videos griffen dabei bewusst auf heidnisch-mystische Elemente der ukrainischen Volkskultur zurück, die Leser aus den Werken von Nikolai Gogol sehr gut kennen.
Dieses entsetzlich brutale Stück stellt offenbar keine Entgleisung eines einzelnen Werbeteams dar. Eine Ausstellung, die derzeit im Nationalen Museum der ukrainischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg stattfindet, demonstriert, dass ausgerechnet das Weibliche im neuen ukrainischen gesellschaftlichen Bewusstsein für Racheakte zuständig ist. Gewidmet ist das Kulturevent der berühmten Statue "Mutter Heimat", die seit ihrer Fertigstellung im Jahr 1981 eindrucksvoll auf einem Hügel in den Kiewer Himmel ragt.
"Im Mittelpunkt der Ausstellung steht der Wandel des Bildes des Denkmals im Bewusstsein und der Wahrnehmung der Gesellschaft", teilt ein lokaler Telegram-Kanal mit.
Auf einem der Bilder hält die "Mutter Heimat" den abgehackten Kopf des russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Höhe.
Dugin als "Putins Hirn"
Natürlich sind solche geistigen Verrenkungen kein juristischer Beweis. Sie stellen aber einen kulturellen Nährboden für politische Handlungen dar und können damit etwas über Motive für solche Handlungen verraten. Schließlich ist die Suche nach einem Motiv das entscheidende Element jeder Ermittlung. In dieser Hinsicht ist ein Umstand erwähnenswert: Ausgerechnet einen Tag vor der Sprengung des Autos von Darja Dugina hat der reichweitenstärkste Fernsehsender der Ukraine 1+1 ein Video über Alexander Dugin mit dem Titel "Er steuert Putin" veröffentlicht.
Eindringlich wird im Video behauptet, dass Dugin "Putins Hirn" sei. Am Tag nach dem Anschlag legte der Sender mit dem Video "Ein persönlicher Schlag gegen Putin?" nach. Dieses wurde bereits knapp zwei Millionen Mal angeklickt. Der Medienexperte und im Exil lebende kritische Kenner ukrainischer Politik Anatolij Scharij weist darauf hin, dass ukrainische Medien sich zuvor über viele Monate hinweg nicht für Dugin interessiert und "termingerecht" eine Kampagne ohne einen dafür erkennbaren Anlass gestartet hätten.
Im Video "Er steuert Putin" kommt der russische Putin-Gegner Ilja Ponomarjow zu Wort. Ausgerechnet er bringt am Tag nach dem Verbrechen die Version ins Spiel, dass eine russische Guerilla-Gruppe das Attentat hätte verübt haben können.
Am Dienstag äußerte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Alexei Danilow, eine Warnung, die viel eher nach einem vorsorglich vorgebrachten Alibi aussieht. Er teilte mit, dass die russischen Sicherheitsdienste im eigenen Land eine Reihe von Terroranschlägen mit vielen zivilen Opfern vorbereiteten. Er wies darauf hin, dass der Autobombenanschlag auf die Tochter des "Putin-Ideologen" Alexander Dugin der erste in einer Reihe von Terroranschlägen war.
Und er betonte, dass die Ukraine nicht am Anschlag auf die Tochter "des russischen Propagandisten" beteiligt gewesen sei, weil "unser Staat keine Zivilisten tötet, sondern Russland". Doch wie oft schon hat Kiew Russland der Militärschläge gegen Zivilisten beschuldigt, die, wie sich später herausstellte, von Kiew selbst durchgeführt worden waren – etwa auf den Bahnhof in Kramatorsk oder das Schauspielhaus in Mariupol, um nur die brisantesten Fälle zu nennen.
Mehr zum Thema - Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk: Der Schlüssel zur Suche nach den Tätern