"Extremisten" überall: Der Westen braucht Sündenböcke für seine selbstzerstörerische Politik

Das westliche Establishment versucht verzweifelt, die Verantwortung für die drohende Katastrophe einer Energiekrise, gekoppelt mit einer Sozialmisere, abzuwälzen, die ausschließlich von ihnen selbst verursacht wurde. Entweder sieht man die Schuld bei Putin oder bei den eigenen Bürgern.

von Rachel Marsden 

Zu Beginn des Ukraine-Konflikts proklamierte der offizielle Westen seine Geschlossenheit gegenüber Moskau und versprach, den Übergang weg von russischen fossilen Brennstoffen hin zu umweltfreundlicherer Energie zu beschleunigen. Die Idee dahinter war, dem Kreml dadurch Einnahmen zu entziehen, was der Meinung nach dazu führen sollte, der Militäroperation gegen die Ukraine den finanziellen Boden zu entziehen. In Folge hat man schnurstracks die Grundlagen der eigenen Energieversorgung – günstiges Gas aus Europas größtem Land – auf den Kopf gestellt und mit Sanktionen belegt.

Es dauerte nicht lange, bis jedem klar wurde, dass das viel leichter gesagt als getan ist, und es dauerte nicht weniger lang, bis Regierungen ihre Bürger öffentlich auffordern mussten, "ihren Teil beizutragen" und einen Teil ihres alltäglichen Komforts und ihrer Lebensqualität zu opfern, wie etwa nur noch kurz zu duschen – am besten kalt. Als ob dies die Alarmglocken der Vertreter der Industrie zum Schweigen bringen würde, die bereits wegen drohender Rationierungen bei der Energieversorgung geschlagen wurden.

Als Nächstes begannen westliche Regierungen, von ihrem Vorhaben zurückzutreten, jene Energieformen auszurotten, die als nicht grün genug verdammt worden waren. Nur wenige Monate vor der Ukraine-Krise hatte Deutschland seinen Nachbarn Frankreich für sein Beharren auf die Kernenergie scharf gerügt. Jetzt könnte sich Berlin möglicherweise ins selbe Boot wie Paris setzen und Kernkraft wieder als Energiequelle anerkennen, während es gleichzeitig stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hochfahren will.

Westeuropa dachte zunächst, man könne sich zumindest auf Wasserkraft aus Norwegen verlassen, aber die trockene und regenarme Sommerhitze bedroht nun auch diese Energiequelle und Oslo denkt bereits über Begrenzungen seiner Energieexporte nach. Selbst verflüssigtes Erdgas aus Großbritannien kann möglicherweise nicht in die EU importiert werden, nachdem kürzlich giftige und sogar radioaktive Verunreinigungen in den Lieferungen gefunden wurden, wobei das Gas ursprünglich aus Ländern wie den USA und Katar stammte.

Die ersten Anzeichen der kommenden Misere sind bereits sichtbar – lange noch bevor die winterliche Heizperiode einschlägt. Das britische Beratungsunternehmen Cornwall Insights warnte bereits vor möglichen Stromabschaltungen und leeren Supermarktregalen in Großbritannien. Die durchschnittlichen Energiekosten für Haushalte liegen in Großbritannien bereits bei rund 4.700 Euro pro Jahr und werden gemäß Prognosen noch höher steigen. Die Bank von England warnte vor einer Rezession inmitten einer Inflation, die in Deutschland gerade den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 erreicht hat, während Länder wie Spanien und Italien die Reduktion der Leistung von Heizungen und Klimaanlagen in öffentlichen und gewerblichen Gebäuden angeordnet haben.

Ein von der Europäischen Union verhängtes Einsparungsziel von 15 Prozent beim Energieverbrauch in allen Mitgliedsstaaten ist eben erst in Kraft getreten und liefert einen weiteren Vorwand, um Dienstleistungen für die Steuerzahler zu reduzieren. Der Bürgermeister der französischen Stadt Cabriès nutzte diese Maßnahme der EU als Vorwand, um das örtliche Schwimmbad inmitten der Rekordhitze des diesjährigen Sommers zu schließen und begründete seine Entscheidung mit der Wahl zwischen den Kosten für die Verpflegung von Schulkindern mit immer teureren Bio-Lebensmitteln in der Schulkantine oder dem Erhalt dieser Freizeiteinrichtung.

Und wer ist an all dem schuld? Das sollte doch offensichtlich sein, oder etwa nicht? Die westlichen Regierungen schneiden sich von ihrer bisherigen Energiequelle ab, um Geopolitik zu betreiben, indem sie die Ukraine in ihre Überlegungen einbeziehen – aber die Schuld sehen sie eindeutig bei Russland. Das haben sie so gesagt und das ist es, worauf sie sich eingeschossen haben. "Putins neue Gasverknappung zwingt Europa in eine Rezession und in einen Winter mit harten Rationierungen", lautete eine Schlagzeile des US-Nachrichtensenders CNBC. US-Präsident Joe Biden bezeichnete die Erhöhungen bei den Verbraucherpreisen kurzerhand als "Putins Steuern auf Lebensmittel und Gas". Doch die westlichen Regierungen haben sich diese Probleme selbst – und vor allem ihren Bürgern –  "für die Ukraine" an den Hals gebunden.

Das Problem für die westlichen Regierungen ist jedoch, dass immer weniger ihrer Bürger ihnen diese Begründungen abzukaufen scheinen. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Rasmussen schreiben in den USA nur elf Prozent der Befragten Wladimir Putin die Schuld für die Wirtschaftskrise zu, während 52 Prozent die Politik von Joe Biden dafür verantwortlich machen. Jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass ein neuer Sündenbock aufgebaut wird, der herhalten muss. Und dieser Sündenbock sind die "Populisten".

"Wir können davon ausgehen, dass die Populisten und Extremisten wieder versuchen werden, Proteste für ihre Zwecke zu missbrauchen", sagte die Sprecherin des Bundesinnenministeriums, Britta Beylage-Haarmann, der Deutschen Welle. "Extremistische Akteure und Gruppierungen in Deutschland können zu einer Zunahme der Gefahrenlage führen, wenn entsprechende gesellschaftliche Krisenbedingungen dies zulassen."

Es ist eine beunruhigende Tatsache, wenn westliche Offizielle versuchen, gewöhnliche Bürger als "Extremisten" abzustempeln, die sich einer radikalen Politik widersetzen – einschließlich des Beharrens ihrer Regierungen, die Frage der Energieversorgung mit der Frage der Ukraine zu verknüpfen –, während es in Wahrheit die Positionen der Regierungen sind, die immer radikaler werden.

Der offizielle Westen hat in der Vergangenheit konzertierte Anstrengungen unternommen, um jede Opposition gegen seine Pläne zu diskreditieren, indem er den Widerstand aus Teilen der Bevölkerung als etwas darstellte, das in den Katakomben des Kremls gebraut wurde. Und jetzt, während der offizielle Westen darauf beharrt, sozialen, wirtschaftlichen und industriellen Schaden als politische Angelegenheit zu behandeln und Chaos am Horizont aufziehen sieht, bereitet man sich darauf vor, den Unmut aus der Bevölkerung als illegitim zu verunglimpfen.

Nicht nur verunglimpfte die französische Regierung die Vorsitzende der französischen Oppositionspartei Rassemblement National, Marine Le Pen, sondern griff sie auch direkt an, nachdem sie sich zu bevorstehenden Stromausfällen im Land geäußert hatte und bezichtigte sie gefährlichen Populismus zu betreiben. "Europa wird vor einer Stromnotlage stehen, insbesondere wegen der Frage rund um die russischen Gasimporte. Diese Sanktionen sind einfach nutzlos. Alles, was sie bewirken, ist, die Europäer leiden zu lassen. Und dazu gehören auch die Franzosen", sagte Le Pen. "Man muss schon auf beiden Augen blind sein, um nicht zu erkennen, dass die russische Wirtschaft entgegen den übertriebenen Behauptungen unserer Regierung nicht am Boden liegt und nicht am Rande zum Bankrott steht." Die französische Ministerin für die Energiewende, Agnès Pannier-Runacher, antwortete darauf, dass die Äußerungen von Le Pen "außerordentlich gefährlich" und "unverantwortlich" seien und hat damit berechtigte Bedenken, die von den durchschnittlichen Franzosen geteilt werden, als etwas Unverantwortliches gebrandmarkt.

Populistische Staatslenker in Teilen der westlichen Welt, vom mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador bis zum ungarischen Premierminister Viktor Orbán und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, haben sich offen gegen antirussische Sanktionen ausgesprochen, die sich für den westlichen Durchschnittsbürger von Natur aus nachteilig auswirken. Aber nur weil es populistische Politiker sind, die den Mut haben, sich für ihre Bürger einzusetzen, heißt das nicht, dass ihre Bedenken abgetan oder an den Rand gedrängt werden können, denn sie reflektieren die Sorgen eines großen Teils der schweigenden Mehrheit. 

Das westliche Establishment versucht verzweifelt, die Verantwortung für eine drohende Katastrophe abzuwälzen, die ausschließlich von ihm selbst verursacht wurde – entweder auf Putin oder auf ihre eigenen Bürger.

Übersetzt aus dem Englischen.

Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite finden man unter rachelmarsden.com.

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