von Nikolai Starikow
Es gibt im Russischen einen bekannten Streit zum Sprachgebrauch: Wie heißt es korrekt - "на Украине" oder "в Украине", also "auf" oder "in" der Ukraine? Die Bedeutung dieses Streits ist natürlich längst schon eine rein politische. Zur "w"-Fraktion, die "in der Ukraine" sagt, gehören viele (vielleicht die meisten?) Einwohner dieses Landes sowie die russischen westlich orientierten Liberalen, die jetzt von den kompetenten Organen im großen Stil als ausländische Agenten eingestuft werden und sich daher bei Veröffentlichungen als solche ausweisen müssen.
Diejenigen aber, die schlicht die Regeln der russischen Sprache kennen und befolgen, können sich einer solchen Position nicht anschließen: "Na", entgegnen sie, "im Russischen heißt es doch 'na Ukraine' – und nur so, weil der Landesname eben einfach 'der Rand', oder genaugenommen sogar 'ein Rand', bedeutet. Gut, schon der Rand eines wie auch immer gearteten topographischen Gebiets, aber dennoch eben ein Rand. Also heißt es im Russischen korrekt 'auf der Ukraine' – wie, sagen wir, 'auf dem Tellerrand'." (Damit steht das Russische im Gegensatz zum Deutschen, wo die Ortsangabe nicht nur "in der Ukraine" lautet, sondern, um einen heimischen Ausdruck mit ähnlicher Bedeutung zu nehmen, auch "in der (Steier-, Ucker- usw.)mark" statt "auf der Mark" oder auch etwa "an der Mark".)
Bezüglich des Beschusses des Kernkraftwerks Saporoschje könnte es einen solchen Streit gar nicht geben. Ganz einfach, weil diejenigen, die den ukrainischen Artilleristen mithilfe der Kiewer Eliten und des Oberkommandos die Schussbefehle erteilen, damit zweierlei Dinge bezwecken: mit wohlplatzierten Treffern die radioaktiven Stoffe in den Reaktoren oder in den Betonzylindern auf dem Atommüll-Trockenlager freizusetzen, aber auch selber auf dem AKW-Gelände einzutreffen.
Um die Vorgänge rund um das Kernkraftwerk zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Lage um die Ausfuhr von ukrainischem Getreide zu werfen. Hier sei daran erinnert, dass vor einigen Wochen die gesamte sogenannte "zivilisierte Welt" plötzlich von einer weltweiten Massenverhungerung sprach, die vor allem Afrika unvermeidlich treffen würde, wenn Getreide aus der Ukraine dort nicht einträfe. Der Sinn des vom Westen und vom westlich kontrollierten Kiewer Regime gewählten Vorgehens in dieser Getreide-Geschichte war folgender: Unter dem Vorwand der Hungerbekämpfung und daher einer angeblich dringenden Notwendigkeit, Getreide abzutransportieren, sollte eine Gelegenheit geschaffen werden, mit Schiffen in das Schwarze Meer einzufahren und so Waffen unmittelbar nach Odessa und in andere Häfen zu liefern, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Ein weiterer Erinnerungshinweis: Nach dem westlichen Plan sollten NATO-Kriegsschiffe die Frachter in die Ukraine eskortieren.
Das ultimative und ideale Ziel dieser gesamten Operation der informationspsychologischen Kriegsführung war es also, Russland die Fortführung seines Eingriffs in den Ukraine-Krieg unmöglich zu machen. Das ukrainische Getreide und die reichlich dahingeflossenen Krokodilstränen über eine mögliche Hungersnot spielten in dieser Geschichte eine zentrale Rolle: Damit wollte sich der Westen den Zugang zum Schwarzen Meer öffnen. Doch dank den Bemühungen Russlands und der realpolitisch motivierten Verhandlungs- und Kooperationswilligkeit der Türkei wurde daraus: nichts. Die russische und türkische Kontrolle des Inhalts der Schiffe bei der Ein- und Ausfahrt, die Entminung der ukrainischen Gewässer durch die Ukraine selber, die sie auch vermint hatte, und die Weigerung, im Rahmen des Getreide-Deals Kampfschiffe aus Drittländern ins Schwarze Meer zu lassen, raubten dem Getreide-Deal in den Augen der Regime in Washington und Kiew jeden Sinn. Und so fuhr von den ersten 14 Frachtschiffen, die ukrainisches Getreide abtransportierten, dann auch nur ein einziges nach Afrika, und der ganze hysterische Rummel in der Medienlandschaft um die Hungersnot war schnell vorbei.
Also: Der Drohnen-, Rohr- und Raketenartilleriebeschuss des Kernkraftwerks Saporoschje und die vorgetäuschte "Unklarheit" darüber, wer denn da schieße, sind für den Westen Schlüssel von der Art des obigen Beispiels. Damit will man in diese Anlage und auf dieses Gelände gelangen, denn es schafft ja einen Vorwand, dort aufzuschlagen! Übrigens arbeitet in der Anlage weiterhin eine ukrainische Mannschaft von Atomingenieuren - niemand machte irgendwelche Anstalten, sie auszuwechseln. Die Wachen stellt Rosgwardija, die russische Nationalgarde. Frage: Wer schießt auf die Anlage, die von Russland kontrolliert und bewacht wird? Die Antwort liegt auf der Hand, aber irgendwie scheint sich dennoch weder bei der IAEO noch bei der UNO Verständnis darüber einstellen zu können, wer das ist.
Derweil haben es Kiew und der Westen anscheinend unbedingt nötig, entweder selber auf dem Gelände der Anlage einzutreffen oder radioaktive Stoffe in den Meilern und Atommüllbehältern durch Artillerietreffer freizusetzen, oder bestenfalls vielleicht auch beides.
Warum? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten, und sie erinnern sehr an die Situation beim Getreideexport. Wie auch da schon, wollen sie auch hier entweder etwas mitbringen oder im Gegenteil, sie wollen etwas abführen. Oder sie wollen erneut ein Gleiwitz zu Butscha inszenieren: "Leichen von zu Tode gequälten Atomingenieuren" werden dann vorgefunden und Märchen von einem "von den Russen mit Sprengstoff präparierten Atomreaktor" erzählt.
Es ist erwähnenswert, dass der Beschuss des Kernkraftwerks Saporoschje täglich stattfindet. Als poche da jemand sehr hartnäckig an der Tür. Gleichzeitig äußerte ein Vertreter des Kiewer Regimes bei der UNO Forderungen der ukrainischen Seite: Russland müsse all sein Wachpersonal von dessen Posten und vom Gelände des Atomkraftwerks abziehen, die Kommission der IAEO dürfe ausschließlich über Kiew zum AKW anreisen, zusammen mit Vertretern Kiews. Und natürlich äußerten auch die US-Amerikaner und Europäer bereits die Idee, das AKW Saporoschje zu entmilitarisieren und drumherum eine Zone ohne Militär und jegliche Konfrontation zu schaffen (wie gut sich Kiew an das Truppenabzugsregime gemäß der Minsker Vereinbarungen hielt, ist indes wohlbekannt; Anm. d. Red.).
Was sehen wir also? Wir stehen vor einem neuen Versuch, in Russlands Operation zu pfuschen und sie mit allen Mitteln aufzuhalten. Der Erpressung und dem Druck zu weichen, ist keine Option. Eine Räumung des Kraftwerks ist kategorisch unzulässig.
Es ist auch sehr aufschlussreich, was im Westen gesagt wird. Gesagt aber wird dort Folgendes: Russland wird die Verantwortung für mögliche Folgen einer Lageverschärfung um das Kernkraftwerk Saporoschje tragen. Wieso das denn jetzt? Ihr habt doch nichts geklärt, noch nicht einmal die Inspektion habt ihr entsandt. Aber der Schuldige, der steht bei euch dafür schon per Dekret fest – im Widerspruch übrigens zur elementaren Logik. Denn warum soll dann Russland schuld sein, wenn doch unklar sein soll, wer da schießt?
Und hier sollten wir uns erinnern: Es geht ihnen um Druck und Erpressung. "Wir werden einfach weiter mit Selenskijs Händen auf das Atomkraftwerk schießen", sagt der Westen, "und wenn es zu einer Katastrophe kommt, werden wir euch, die Russen, dafür und für ihre weiteren Folgen verantwortlich machen. Wir haben euch ja schon beschuldigt. Lasst uns also ja zum Kernkraftwerk, solange wir es noch gut mit euch meinen."
Nun, so etwas ist Russland gewohnt. Vor ein paar Wochen hatten wir uns ja schon einmal des einhundertprozentigen Welthungers zu einhundert Prozent schuldig gemacht. Und so, wie die Erpressung damals nicht gelang, werden wir uns ihr auch jetzt nicht beugen.
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Übersetzt aus dem Russischen.
Nikolai Starikow ist ein russischer Schriftsteller, Publizist und Historiker. Mitglied des Zentralrates der Partei "Gerechtes Russland – Patrioten – für die Wahrheit". Mitglied der konservativen Denkfabrik Isborsk-Klub.