Das Atomkraftwerk von Saporoschje und der westliche Irrsinn

Die Ukraine verliert, aber das führt beim Westen nicht zu Einsicht und Vernunft, sondern eher zum Gegenteil. Ohne den Segen mindestens der US-Regierung gäbe es keine ukrainischen Schüsse auf das größte europäische Kernkraftwerk. So wichtig ist die Ukraine selbst nicht. Warum also?

von Dagmar Henn

So langsam spaltet sich die westliche Medienlandschaft in zwei Teile. Es sind nicht mehr alle imstande, zu verdrängen, dass die Ukraine diesen Krieg im Grunde bereits verloren hat. Oder zumindest, dass es keine Offensive bei Cherson geben wird, nicht im August und auch nicht später. Eigentlich müsste man jetzt erwarten, dass jener Teil, der etwas realistischer ist, nun nach Strategien sucht, den Konflikt durch Verhandlungen zu beenden, ehe es zu spät und das ukrainische Kind ganz in den Brunnen gefallen ist.

Mit diesen Überlegungen bleibt der greise Henry Kissinger allerdings weitgehend allein. Die Reaktion, die auf diese Erkenntnis folgt, besteht vielmehr in einer gesteigerten Irrationalität. Und das betrifft nicht nur die Medien, sondern ebenso die politischen Führungen des kollektiven Westens, die alle miteinander zusehen, wie die ukrainische Armee auf ein Atomkraftwerk feuert, und dieses Verhalten sogar billigen. Denn gleich, welche Märchenstunden für die Fernsehzuschauer abgehalten werden, denen man einredet, bei zwei Kriegsparteien sei es nicht möglich, zu wissen, wer auf einen bestimmten Ort feuert, wenn klar ist, welche Partei ihn besetzt hält – selbstverständlich sehen die Berichte für Minister und Kanzler anders aus und enthalten die reale Information.

Und auch wenn diese Bundesregierung grundlegende Überlebensinteressen Deutschlands ihren transatlantischen Freunden zum Fraß vorgeworfen hat: Man täusche sich nicht, das bedeutet noch lange nicht Mikromanagement bis ins letzte Telefonat oder bis in den letzten Finanzbeschluss, und die Möglichkeit, vor den Fernsehkameras sein Entsetzen über diesen ukrainischen Beschuss zu äußern, bestünde durchaus. Wäre der politische Wille da, ließe sich beispielsweise über einen relativ unbeachteten Kanal Belegmaterial veröffentlichen, auf das erst mit viel empörtem Geschrei aufmerksam gemacht wird, um dann, nach einer gewissen Zeit, einzugestehen, dass die Information stimmt. Sprich, die klassischen Manöver der "glaubwürdigen Abstreitbarkeit" wären nach wie vor möglich. Weshalb die Tatsache, dass es keinerlei entsprechende Versuche gibt, belegt, dass dieser Beschuss einer Nuklearanlage auch der deutschen Regierung zusagt.

Alex Christoforou hatte vor einigen Tagen die Vermutung geäußert, die inzwischen als Forderung lancierte demilitarisierte Zone sei das eigentliche Ziel bei diesem Beschuss, weil sie durch den Einsatz von (vorwiegend westlichen) Friedenstruppen den gegenwärtigen Zustand einfrieren könne, obwohl die Ukraine dabei sei, zu verlieren. Sollte dem so sein, dann hätte der kollektive Westen wieder einmal falsch gerechnet. Denn zum einen ist es Russland inzwischen gleich, was dieser Westen von ihm hält, und zum anderen hat Letzterer auch auf internationaler Bühne nicht mehr die Macht, so etwas gegen Russland durchzusetzen.

Aber allein die Tatsache, dass man für ein solches Ziel, das die tatsächliche Niederlage nur äußerst notdürftig kaschiert, also im günstigsten Falle den eigenen Bevölkerungen gegenüber, ein solches materielles Risiko eingeht, spricht von äußerster Bedrängnis.

Andere verrückte Pläne werden in der Presse ausgedacht. Im britischen Observer beispielsweise, dessen Autor Simon Tisdall ein langjähriger, treuer Ukraine-Fan ist. In einem Kommentar vom vergangenen Sonntag, der ausgerechnet unter der Überschrift "Während Putins Krieg Panik in Europa verbreitete, müssen die Ukrainer einen Dolchstoß in den Rücken fürchten" erschien.

Der ganze Kommentar ist voller Vorwürfe, der Westen habe zu zaghaft und zu zögerlich reagiert; so hätte der Beginn der russischen Militäroperation mit einer "Shock-and-awe"-Bombardierung beantwortet werden oder die westlichen Marinen hätten im Schwarzen Meer eingreifen müssen. Auch das weitgehend Illusion, was die vermutete Wirkung betrifft, aber vor allem eine sofortige Ausweitung des Kampffeldes. Was Tisdall nicht zu stören scheint.

Bei Betrachtung der Gegenwart kommt er zu dem richtigen Schluss: "Weil es wahrscheinlich keinen Weg zu einem direkten militärischen Sieg gibt, sind die Möglichkeiten, die für Kiew zur Wahl stehen, alle mehr oder weniger abstoßend." Wie der Beschuss des größten europäischen Kernkraftwerks beispielsweise. Aber dann beklagt er: "Parallel wird entsprechend der Druck für einen Waffenstillstand oder irgendeine Art von zweifelsfrei vorübergehendem Friedensabkommen zunehmen, um Europas wirtschaftlichen Schmerz zu lindern." Das kann Tisdall nicht hinnehmen.

Seine Schlussfolgerung zeigt, wie weit jenseits von Gut und Böse westliche Propagandisten wie Tisdall bereits zu finden sind, und ist ein weiteres Indiz eines immensen Drucks. Er zitiert Biden, der jüngst in einer Rede in Warschau bezogen auf Putin sagte: "Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben."

Tisdall nimmt keine Gefangenen.

"Biden hat Recht. Putin ist ein fauler Oger, ein Kriegsverbrecher, ein monströser Rückschritt in längst vergangene Zeiten .(…) Ohne ihn würde die Krise, die er eigenhändig geschaffen hat, nicht verschwinden – sie wäre aber einfacher zu lösen. (…) Holt Putin. Macht ihn nieder. Sperrt ihn ein. Das ist ein strategisches Ziel, das alle energisch verfolgen könnten und sollten."

Was ich hier mit "macht ihn nieder" übersetzt habe, lautet im Englischen "take him down". Das hat tatsächlich den gleichen mörderischen Unterton. Was Tisdall hier also vorschlägt, mehr noch, was eine der respektableren britischen Zeitungen druckt, ist ein Aufruf zu Entführung oder Mord.

Völlig undenkbar ist, die Niederlage zu akzeptieren. Stattdessen scheint die Zeit für verrückte Pläne gekommen, die alle nur einen Zweck verfolgen – diese Niederlage zu kaschieren und irgendwie weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Pläne, die letztlich nur bei einem enden können, bei staatlich organisiertem Terror.

Der Druck, auf den der Westen mit dieser Irrationalität reagiert, stammt nicht aus der Ukraine. Bei allem Drama, das um dieses Land inszeniert wurde, so wichtig ist es nicht wirklich; gedacht war die Ukraine wohl als eine von vielen Fronten, an denen die Auseinandersetzung um den Fortbestand der US-Hegemonie geführt werden sollte.

Es sind die Rückwirkungen auf die globale Entwicklung, die offenkundig überrascht haben. Die Sanktionen gegen Russland sollten den Dollar weltweit stärken, der Ausschluss aus SWIFT sollte den Rubel zu einer nicht handelbaren Währung machen und dadurch beweisen, dass kein Land, sei es noch so groß, sich erfolgreich gegen die USA stellen kann. Das reale Ergebnis war eine massive Beschleunigung einer Abkehr vom Dollar. Genau das, was hatte verhindert werden sollen, wurde bewirkt.

So, wie zwar die Kernstaaten des Westens auf sich selbst den Eindruck maximaler Geschlossenheit vermitteln und gar noch innerhalb Europas einige Länder dazugewinnen konnten, wirken sie aber außerhalb mitnichten. Auch hier gab es spätestens bei der Verhängung der ersten Sanktionen gegen Russland deutliche Zeichen. Die Tatsache, dass Brasilien nicht mitging, beispielsweise.

Der jetzige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro wurde nur Präsident des lateinamerikanischen 200-Millionen-Landes, weil betrieben von sehr US-freundlichen und ebenso korrupten Parlamentariern erst der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva fälschlich angeklagt und inhaftiert und dann seine Nachfolgerin Dilma Rousseff durch einen Parlamentsputsch gestürzt worden war, während gleichzeitig nach dem Modell einer Farbrevolution die Mittelschicht mobilisiert worden war.

Bolsonaro ließ sich noch während des Wahlkampfes vor einer US-Flagge abbilden und äußerte ganz zu Beginn seiner Amtszeit, er hätte gerne einen US-Stützpunkt in Brasilien. Diese Idee hat ihm damals das eigene Militär recht schnell und deutlich ausgeredet; es dauerte nicht mal einen Tag, da erschien im Folha do São Paulo , so etwas wie der brasilianischen FAZ, die Aussage eines nicht namentlich genannten "hochrangigen Militärs", Brasilien brauche so etwas nicht, es könne seine Probleme selbst lösen. Bolsonaro, der von der Militärdiktatur schwärmte, bekam also sogleich signalisiert, dass die Unterwürfigkeit unter die USA enge Grenzen hat.

Auch sein zweiter Versuch, das zu liefern, was die USA sich mit Sicherheit von dem Putsch gegen Rousseff erhofft hatten, nämlich den Verkauf der staatlichen Petrobras, scheiterte auf die gleiche Weise. Und nun? Die Weigerung, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, war ein weiteres deutliches Signal, dass in Brasilien nichts mehr zu holen ist. Es ist gleich, ob Bolsonaro das aus eigenem Antrieb tut oder ob ihm seit der Geschichte mit dem Stützpunkt gelegentlich erklärt wird, was im nationalen Interesse ist und was nicht – klar ist jedenfalls, auch Bolsonaro ist nicht aus BRICS ausgetreten, und die kommenden Wahlen werden an einem Punkt gar nichts ändern, an der brasilianischen Außenpolitik und dem Verhältnis zu den USA. Die Zeiten, in denen die US-Botschaft das Land kontrollierte, sind ein für alle Mal vorbei.

Es wird immer noch versucht. Die EU müht sich, afrikanische Länder zu erpressen. Sie erwartet noch immer, einschüchtern zu können. Alle politischen Planungen, die ganzen "Klimaschutz"-Konstrukte mit dem Pariser Abkommen eingeschlossen, folgen dem altbekannten Schema von Zuckerbrot und Peitsche. Die Peitsche, das ist das Peinliche an der Ukraine, hat sich als brüchig erwiesen. Und das Zuckerbrot? Das kann die EU auch nicht mehr liefern, wenn sie kein Gas mehr hat.

Doch selbst wenn man die ganze Zeit über im Blick behielt, was sich auf Weltebene abspielt – diese galoppierende Unvernunft deutet an, dass irgendetwas noch schneller, noch heftiger umbricht, als an der Oberfläche sichtbar ist. Das mag mit ökonomischen Daten zu tun haben, die noch schlechter sind, oder mit dem beschleunigten Abstieg des Dollar; was immer es ist, es sieht so aus, als würde die westliche Macht, der ganze Haufen, so wie er ist, die NATO mit allem Drum und Dran, bereits jetzt, bereits in der Ukraine nicht nur um die verblichene Hegemonie, sondern schon um den Erhalt einer Restmacht kämpfen. Nicht erst in einem weiteren Konflikt mit China. Es scheint sogar möglich, dass Letzterer gar nicht mehr stattfinden wird.

Sollte das der Fall sein, kann man auch den Beschuss von Saporoschje mit einem weinenden und einem lachenden Auge betrachten. Mit einem weinenden, weil das Risiko, das eingegangen wird, keine Grenzen mehr zu haben scheint und zumindest eine Verseuchung Europas in Kauf genommen wird, was in Bezug auf die Frage, ob die US-Seite noch zu Atomwaffen greifen könnte, ein sehr schlechtes Vorzeichen ist. Aber mit einem lachenden, weil womöglich die Zeit großer Gefahr schneller vorüber ist als gedacht, weil der Westen gar nicht so schnell stürzen kann, wie seine ehemaligen Knechte ihm von der Fahne gehen.

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