von Gert Ewen Ungar
Im Rahmen ihrer Nordamerikareise vom 01. bis zum 03. August hielt Außenministerin Annalena Baerbock an der New School in New York eine Rede, in der sie die Leitlinien deutscher Außenpolitik skizzierte.
Die New School ist eine für die deutsch-amerikanischen Beziehungen historisch wichtige Universität. An der Universität fanden in der Zeit des Faschismus eine große Zahl an deutschen Exilanten einen Wirkungsort. Auch nach dem Ende des Faschismus blieb die New School eine für deutsche Exilanten wichtige Einrichtung. Unter anderem hat die Publizistin und Philosophin Hannah Arendt dort ab den späten Sechzigerjahren bis zu ihrem Tod gelehrt.
Hannah Arendt hat insbesondere mit ihren Untersuchungen zur Entstehung von Totalitarismus Bekanntheit erlangt und damit die Entstehung eines ganzen Forschungszweiges angestoßen.
Annalena Baerbock nimmt nun ausgerechnet einen zentralen, emanzipatorischen Gedanken Arendts auf, entwickelt daraus ihre Rede und lässt ihre Zuhörer an einem vollumfänglichen geistigen Bankrott teilhaben. Sie übernimmt von Arendt den Ausdruck "Denken ohne Geländer" und setzt ihn ins Zentrum ihrer Ausführungen. Der Ausdruck, Baerbock erkennt das richtig, beschreibt eine völlig Entgrenzung und Offenheit des Denkens bei gleichzeitiger Infragestellung bisher vertrauter Paradigmen. Zunächst gelang es der Außenministerin, den Gehalt des Gedankens zu erfassen, denn sie sagte:
"Damit beschrieb sie (Arendt) einen Ansatz, bei dem wir mutig genug sind, Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen und uns neuen Vorstellungen zu öffnen."
Baerbock versteht den Gedanken, erweiterte ihn sogar noch, indem sie bekannte, frische Ideen entwickeln zu wollen. Dann aber füllte sie ihre ins Weite und gedanklich Unverbaute führende Einleitung mit grüner Engstirnigkeit.
"Denken ohne Geländer" bedeutet für sie beispielsweise, den Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, über Bord zu werfen. "Denken ohne Geländer" ist für die Grünen-Politikerin, sich einer rein militärischen Logik zu überlassen und die Ukraine umfassend zu bewaffnen.
Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen, bedeutet für Baerbock offenkundig, sämtliche Klischees, Stereotype und Unwahrheiten über Russland und russische Politik immer und immer wieder zu wiederholen. Es bedeutet, sie keinerlei Überprüfung auf Evidenz und Konsistenz zu unterziehen. Vorgefasste Meinungen abzulegen, heißt für die Außenministerin, alle Fakten, die zur Irritation bisher für wahr gehaltener Annahmen führen könnten, einfach zu ignorieren. Die Rede Baerbocks ist eine Schändung des Denkens von Hannah Arendt.
Ganz konkret versteht Baerbock unter "Denken ohne Geländer" einen revolutionären Schritt zu wagen und den deutschen Beitrag zur NATO zu erhöhen sowie eine Gefechts-Brigade von 800 Mann in ständiger Bereitschaft zu halten, um diese im Bedarfsfall schnell nach Litauen entsenden zu können. "Denken ohne Geländer" heißt für sie, dass deutsche Soldaten wieder an der Grenze zu Russland stehen – weniger als 200 Kilometer von Petersburg entfernt, wo die deutsche Wehrmacht mit der Belagerung der Stadt eines ihrer grausamsten Verbrechen begann.
Es war ein in seiner Geschichtsvergessenheit beklemmender Vortrag, den die Grünen-Politikerin in New York gehalten hat. Baerbock ist in tiefer Weise reaktionär.
Neben dem Bekenntnis zum offenen Denken, akzentuierte sie auch die Wichtigkeit des Bemühens um Verstehen: "Wir müssen bereit sein, die Welt auch aus dem Blickwinkel von Menschen zu sehen, die unsere Meinung nicht teilen", ließ sie ihr Publikum wissen.
Mit der Entsendung deutscher Soldaten an die litauische Grenze zu Russland zeigt das politische Establishment in Deutschland, dass es zu genau jener Einfühlung, die Baerbock hier ansprach, überhaupt nicht in der Lage ist.
Mit ihrer absolut ahistorischen Sicht auf die Ursachen des Konflikts in der Ukraine, zeigte sie zudem, dass die gesamte Bezugnahme auf Hannah Arendt nur hohle Phrasendrescherei war. Baerbock ist offensichtlich nicht in der Lage, Arendt angemessen einzuordnen. Es sei ihr daher hier ein Tipp gegeben: Man sollte nicht über Philosophen reden, deren Werk man nicht zur Kenntnis genommen hat. Das fliegt auf und ist peinlich.
Hannah Arendt hat unter anderem als Journalistin gearbeitet und den Eichmann-Prozess für die Zeitschrift The New Yorker in Jerusalem verfolgt. Über Baerbocks mangelnde Medienkompetenz wäre Arendt vermutlich mehr als nur erstaunt.
"Aber wir haben die brutale Realität gesehen, als wir Mitte März beim Treffen der NATO-Außenministerinnen und -minister versammelt waren: Wir alle saßen in einem Saal, während unser ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba auf dem Bildschirm zugeschaltet war und erklärte, wie furchtbar die Lage in der Ukraine ist.
Zwischendurch zeigte er Bilder. Bilder von zerstörten Städten, Häusern und Existenzen. Auf einem Bild war ein Vater zu sehen, der über den Leichnam seines toten Kindes gebeugt weinte. Und ich glaube, in diesem Moment, dort in dem Saal im NATO-Gebäude, dachte niemand theoretisch über Außenpolitik oder die Verteidigungsfähigkeit der NATO nach. Alle dachten nur: Was, wenn ich das wäre, ein Vater oder eine Mutter, die das eigene tote Kind beweint? Das hat uns deutlich gemacht: Das könnten wir sein."
Baerbock betrachtete Fotografien, die ihr eine Konfliktpartei präsentierte und glaubte, Realität erkennen zu können. Das ist schon erschreckend naiv. Der Gedanke, dass Kuleba hier emotionalisierendes Bildmaterial in manipulativer Absicht präsentieren könnte, um seine Ziele zu erreichen, kam ihr nicht in den Sinn. Baerbock als Außenministerin durchschaute einfache und wohlbekannte Mechanismen der strategischen Kommunikation nicht. Sollte das wirklich der Fall sein, hat sie auf dem Posten der Chefdiplomatin Deutschlands absolut nichts verloren. Das ist fahrlässig unprofessionell. Es bedeutet zudem, dass die deutsche Außenministerin für Manipulationen überaus anfällig ist.
Statt Offenheit des Denkens zu praktizieren, blieb Baerbocks Rede im einfachen Schwarz-Weiß stecken. Wir hier, die Guten, der freie Westen, das transatlantische Bündnis – dort die Bösen, Putins Russland, das autoritäre China. Von Bemühen um Verstehen, um Einordnung in Kontexte und historische Abläufe keine Spur. Im Gegenteil verstieg sich Baerbock zu der Aussage, dass das westliche Militärbündnis, dass die NATO immer größeres Ansehen in der Bevölkerung genieße.
"Nun werden Eltern beim Frühstück von ihren Kindern gefragt: Mama, was sind eigentlich Atomwaffen? Andere wiederum sagen: Ich mag die NATO wirklich."
Es ist schon zum Fremdschämen peinlich, was die Außenministerin in New York von sich gab.
Nicht nur peinlich, sondern richtig gefährlich wurde es dann, als Baerbock einen gemeinsamen Führungsanspruch formulierte. Eine gemeinsame Führungsrolle der USA und einer von Deutschland geführten EU erträumt sich Baerbock, welche die Geschicke der Welt lenken soll. "Bitte nicht!", möchte man bei diesen Ausführungen ausrufen.
Eine deutsche Führungsrolle lässt Schreckliches erwarten. Insbesondere dem deutschen politischen Personal fehlt dazu jede Qualifikation. Die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand auch nur einen halben Zentimeter hinauszuschauen, ist in Deutschland völlig unterentwickelt. Die intellektuelle Offenheit, andere Regionen dieser Welt in ihren Wertebezügen und in ihren Traditionen als gleichwertig und vollwertig anzuerkennen, existiert in Deutschland nicht. Es ist daher zu jeglicher Form der Führung ungeeignet.
Bei Baerbock nicht fehlen durfte das Bekenntnis zur regelbasierten Ordnung. Dabei sei die regelbasierte Ordnung nicht die Ordnung des Westens, behauptete die deutsche Außenministerin. Da hat es mit dem Zuhören bei all den internationalen Auftritten wohl nicht ganz so gut geklappt, denn zahlreiche Länder außerhalb des Westens führen an, dass die regelbasierte Ordnung in ihren Augen nichts anderes als der westliche Hegemonialanspruch am Völkerrecht vorbei sei. Die regelbasierte Ordnung trägt neokoloniale und imperialistische Züge, das steht völlig außer Frage. Die Weigerung der überwiegenden Mehrheit der Staaten, die westlichen Sanktionen gegen Russland mitzutragen, lässt sich auch als den starken Willensausdruck deuten, die westliche Ordnung ablösen zu wollen.
In New York legte die deutsche Abgesandte nicht nur Zeugnis ihrer intellektuellen Überforderung ab, sie machte auch deutlich, dass es dem Außenministerium aktuell an analytischer Fähigkeit fehle, geopolitische Prozesse angemessen bewerten und einordnen zu können. Baerbock als Personalie ist angesichts der Belastungen, die auf Deutschland infolge der geopolitischen Spannungen zukommen, eine absolute Zumutung.
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