von Thomas Frank
Martinique: Eine Kolonie bis heute
Martinique, eine Trauminsel in der Karibik. Aber leider nur für Touristen und nicht für den Großteil der rund 360.000 Insulaner. Die Insel ist als Übersee-Département ein vollintegrierter Teil des französischen Staates und damit Teil der Europäischen Union. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung ist afrikanischer Abstammung, 15 Prozent indischer oder afro-indischer Herkunft und nur etwa fünf Prozent sind europäischer (hauptsächlich französischer) Abstammung.
Die moderne "Sklaverei" besteht fort
Die Insel wurde im Jahr 1635 von den Franzosen kolonialisiert und blieb seitdem bis auf drei kurze Perioden fremder Besatzung in französischem Besitz. 1685 wurde der sogenannte "Code Noir" verabschiedet. Dieses Gesetz bestätigte die Sklaverei in den französischen Kolonien. Im Jahr 1794 stimmte der französische Nationalkonvent für die Abschaffung der Sklaverei, aber Napoleon führte sie 1802 wieder ein. Erst am 22. Mai 1848 wurde die Sklaverei dann endgültig abgeschafft.
Doch die "moderne" Sklaverei scheint bis heute weiterzubestehen, berichtet das Lateinamerikaportal Amerika21. Denn die Präsenz Frankreichs in seiner "Kolonie" Martinique ist auch im Jahr 2022 gegeben. Die ökonomischen und sozialen Konsequenzen der französischen Herrschaft sind für die Mehrheit der Inselbevölkerung verheerend. Das ist aufgrund der weltweiten politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen völlig aus dem Blick der Weltöffentlichkeit geraten.
Geostrategisch und militärisch wichtig
Die Insel ist eine wichtige westliche Basis, auf die sich die Politik der europäischen "Imperialisten" in der Region stützt. Denn das Französische Übersee-Département dient auch als Plattform für Frankreich und der EU zur Verteidigung ihrer geostrategischen Interessen im karibischen Raum.
Aber nicht nur das. Martinique ist zudem von großer Bedeutung für Militärinterventionen in der Region. Das ist kein Hirngespinst, denn Guadeloupe und Martinique dienten während des Falkland-Krieges 1982 und während der Invasion auf Grenada als Brückenkopf. Zudem halten Frankreich und die USA von dort aus regelmäßig gemeinsame Militärmanöver ab.
Frankreichs Trojanisches Pferd
Aber nicht nur militärisch, auch wirtschaftlich ist die Insel für Frankreich nach wie vor interessant. Denn über den internationalen Flughafen und den Hafen Martiniques als Drehkreuz werden europäische Waren im karibischen Raum "vertrieben". Unter dem Vorwand der regionalen Zusammenarbeit dehnen Frankreich und die EU ihre Kontrolle über den karibischen Markt dadurch immer weiter aus. Die Wirtschaft wird quasi gezwungen, sowohl Produkte für den Konsum zu importieren als auch exportfähige landwirtschaftliche Produkte entsprechend dem Bedarf Frankreichs zu produzieren. So dient Martinique auch als "Trojanisches Pferd" für Frankreich und europäische Investoren.
Ein weiteres Problem ist die mehr und mehr fremdenfeindliche Politik unter der Ägide der französischen Verwaltungsbehörden. Auch das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Ein Beispiel: Insulaner berichten immer wieder darüber, wer nach Frankreich auswandern will, erleide Diskriminierung und Demütigungen, obwohl die Insel zu Frankreich gehört. Die Bewohner Martiniques haben – obwohl sie de facto EU-Bürger sind – größte Schwierigkeiten, ein Einreisevisum zu bekommen.
Die Franzosen verschleiern ihre "Kolonialisierung"
Bis heute schafft es die Regierung in Paris, die "Kolonisierung" Martiniques zu verschleiern. Bereits 1946 wurde den Insulanern der Status eines Départements aufgezwungen, der bis heute gilt. Außerdem kontrollieren französisch-europäische Unternehmen die Wirtschaft, und die Kontrolle über die Verwaltung liegt beim französischen Staat. Die Nachkommen der kolonialen Sklavenhalter und Plantagenbesitzer – die Kaste der Béké – kontrollieren nach wie vor die lokale Wirtschaft.
Dadurch versagt Frankreich dem Volk von Martinique das Recht auf Selbstbestimmung. Von wegen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Nicht umsonst steht Frankreich weltweit auf dem zweiten Platz hinsichtlich der Fläche kontrollierter Seegebiete. Paris will seine Kolonien auf Teufel komm raus aufrechterhalten. Dazu gehören außer Martinique auch Guadeloupe, Französisch-Guyana, Réunion und Mayotte.
Arbeiter wurden vergiftet – Aktivisten werden verfolgt
Die Verfolgung von Aktivisten hat eine lange Tradition. Als im September 1870 die Arbeiter streikten, um eine Erhöhung ihrer mageren Löhne zu fordern, starben Hunderte Insulaner unter den Kugeln der französischen Streitkräfte. Ihre Hütten wurden niedergebrannt, ihre Gärten zerstört und ihr Vieh abgeschlachtet. Politische und soziale Proteste wurden und werden auf der Insel von den Franzosen rigoros unterbunden. Allerdings ist es heute nicht mehr das Militär, das gegen Aktivisten vorgeht, sondern die Polizei und die Justiz. Aktivisten werden systematisch verfolgt. Ihre "Verbrechen" bestehen darin, etwa in Einkaufszentren zu demonstrieren und zu fordern, dass die Verantwortlichen für die "Vergiftung ihres Volkes" vor Gericht gestellt werden.
Die Besitzer der großen Farmen und Plantagen zwangen die Arbeiter von 1970 bis 1990 dazu, oft ohne jeden Schutz, per Hand zu säen. Dabei wurden in Europa verbotene Giftstoffe (Pestizide) eingesetzt. Bis 1993 bekämpften Plantagenbesitzer Insekten auf ihren Bananenstauden mit Chlordecon. Das gefährliche Insektizid kontaminiert Böden, Wasser sowie landwirtschaftliche Produkte und schadet der Gesundheit. Erst 2019 kam eine Untersuchungskommission des französischen Parlaments zu dem Schluss, die Regierung habe eine "Gesundheits- und Umweltkatastrophe" zu verantworten.
Tausende von Arbeitern und deren Kinder sind bis heute von schweren Krankheiten gezeichnet. Doch die Rechtswege der Opfer werden blockiert und ihr Recht auf Entschädigung verweigert. Stattdessen werden Aktivisten, die darauf aufmerksam machen, wie Kriminelle behandelt.
Frankreich hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass sein Justizapparat ein rigoroses Instrument ist, um jede antikoloniale Stimme zum Schweigen zu bringen. Das gilt auch auf Martinique.
Die hässliche Fratze des französischen Kolonialismus
Die Konsequenzen der französischen Herrschaft sind für die Mehrheit der Inselbevölkerung verheerend. Armut und Arbeitslosigkeit zeichnen das triste Bild. Hier einige Zahlen:
- Rund 20 Prozent der Einwohner leben unter der Armutsgrenze.
- 32 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos.
- Bei den unter 25-Jährigen liegt die Quote sogar bei 62 Prozent.
Um die Aufrechterhaltung der französischen Herrschaft zu rechtfertigen, schließt das Bildungssystem beispielsweise auch das Wissen über die Geschichte des eingeborenen Volkes aus. In den Kommunikationsmedien gibt es zudem massive pro-französische Desinformationen.
Neue Drangsalierungen im Zuge der Corona-Pandemie
Dennoch gab und gibt es Aufruhr auf der "Trauminsel": 2009 legte ein Generalstreik, der gegen die hohen Lebenshaltungskosten gerichtet war, das Land für 38 Tage lahm. Im November 2021 wurden in fast allen Bezirken der Insel Barrikaden errichtet, um gegen die von der französischen Regierung verhängten restriktiven Maßnahmen zu protestieren.
Doch im Zuge der Corona-Pandemie gingen die französischen Kolonialisten einmal mehr gegen jegliche Anti-Paris-Stimmung vor. Als Rechtfertigung dienten die Schutzmaßnahmen gegen das Virus. Hier einige Beispiele:
- Die Bevölkerung durfte während der Pandemie große Supermärkte und französische Autohäuser frequentieren. Doch der französische Präfekt verhängte drastische Beschränkungen für alle kleinen lokalen Unternehmen.
- Gegen die ortsansässige Bevölkerung wurden strikte Ausgangsbeschränkungen erlassen, aber der französische Präfekt tolerierte gleichzeitig die Einreise von Tausenden von Touristen.
- Die französische Regierung ordnete eine rigorose Impflicht an. Doch 70 Prozent der Insulaner lehnten diese ab, weil sie nicht als Versuchskaninchen für Impfstoffe dienen wollten, die sich noch im Versuchsstadium befinden und deren schädliche Auswirkungen bereits viele Menschen getroffen hatten.
Aber trotz aller Manöver der Kolonialmacht kommt der Wille nach Unabhängigkeit immer mehr zum Ausdruck. Die Erlangung der vollen Souveränität des Volkes von Martinique ist deshalb mehr als notwendig, denn wir leben nicht mehr im Mittelalter. Die imperialistische Vorherrschaft der Franzosen und der Nachkommen der Sklavenhalter muss beendet werden – jetzt!
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Quellen:
- Die koloniale Präsenz Frankreichs auf Martinique, Amerika21
- La presencia colonial de Francia en Martinica, Agencia Latinoamericana de Información (ALAI)