Wenn sich eine Niederlage an der Front abzeichnet, haben die USA schon einen Sündenbock: Selenskij

Mit dem allmählichen Zusammenbruch entlang der Verteidigungslinien der Ukraine an der Front ändert sich in den westlichen Medien zunehmend die Linie der Narrative um den Präsidenten der Ukraine.

Ein Kommentar von Glenn Diesen

Als Akt der Unterstützung haben die USA und die westlichen Medien den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij bisher vor jeglicher Kritik abgeschirmt, seit Russland im vergangenen Februar in der Ukraine interveniert hat. Da sich jetzt aber abzeichnet, dass Kiew den Kampf aller Voraussicht nach verlieren wird, muss jemand den Kopf hinhalten für diese Demütigung des Westens – und es scheint, dass Washington sich darauf vorbereitet, den ukrainischen Präsidenten den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.

Der Anfang vom Ende

Der Stellvertreterkrieg, den die USA gegen Russland in der Ukraine führen, ist für Washington nur so lange von Vorteil, wie eine Pattsituation herrscht, in der sich Moskau militärisch, wirtschaftlich und in seinen humanen Ressourcen langsam erschöpft oder es sogar droht, dass Russland vom Rang einer Großmacht zu einer Regionalmacht degradiert wird. Zum Beispiel begründete der amerikanische Kongressabgeordnete Dan Crenshaw seine Unterstützung für diese Herangehensweise damit, dass "es mir eine gute Idee zu sein scheint, in die Vernichtung des Militärs unseres Gegners zu investieren, ohne einen einzigen amerikanischen Soldaten zu verlieren".

Nach mehr als fünf Monaten, in denen das ukrainische Militär pausenlos zermürbt wurde, bricht die gesamte Front allmählich zusammen. Mit dem Durchbrechen der stark befestigten Verteidigungsanlagen in Marinka, Peski und Awdejewka scheint Moskau das Schicksal des Donbass besiegelt zu haben. Wenn sich die Kämpfe aus dicht besiedelten Industriegebieten in eine offene Landschaft verlagern, werden sich die territorialen Vorstöße Russlands wahrscheinlich intensivieren. Darüber hinaus sind die westlichen Sanktionen gegen Russland in fürchterlicher Weise gegen den Westen selbst, also nach hinten losgegangen und haben einige politische Krisen verursacht. Inzwischen ist um Taiwan auch in Ostasien eine neue Krise ausgebrochen, worauf sich der geopolitische Fokus und die Ressourcen der USA weit mehr konzentrieren müssen, als auf den Fall der Ukraine.

Die USA und Großbritannien haben medial sorgfältig das Narrativ eines baldigen Sieges durch die Kiewer Truppen aufgebaut, nachdem sie Selenskij davon überzeugen konnten, die fortgeschrittenen Friedensgespräche mit Russland im vergangenen März abzubrechen. Jetzt aber muss Washington das Narrativ an eine bevorstehende Niederlage der Ukraine anpassen.

Wird die Bühne für das Ende von Selenskij vorbereitet?

Noch bis vor Kurzem konnten die USA erfolgreich das öffentliche Image von Selenskij als eine Art Reinkarnation von Winston Churchill aufrechterhalten. Washington dominierte den Informationskrieg, in dem es die Komplexität dieses Stellvertreterkriegs durch Vergleiche zwischen dem jetzigen ukrainischen Präsidenten und dem damaligen Sieger des Zweiten Weltkriegs vereinfachte. Selenskij wurde gegenüber Putin erfolgreich als tugendhafter Demokrat gegen einen bösartigen Diktator, als siegreicher David gegen einen scheiternden Goliath hochstilisiert. Konflikte als einen Kampf zwischen Gut und Böse darzustellen, ist eine ideale Strategie, um eine öffentliche Unterstützung zu mobilisieren und Kompromisslosigkeit in eine moralisch gerechtfertigte Position umzudeuten.

Wenn jedoch ein Krieg verloren geht und Kompromisse notwendig werden, muss auch das Narrativ entsprechend angepasst werden. Präsident Joe Biden muss seine schwache politische Position im eigenen Land verteidigen, während die Verbündeten der USA gleichzeitig von der unerschütterlichen US-amerikanischen Entschlossenheit überzeugt werden müssen. Daher braucht man einen Sündenbock, auf den man die ganze Last der Schuld für die bevorstehende Katastrophe abladen kann. Während Washington weiterhin noch mehr Waffen in die Ukraine schicken wird, mit dem Ziel Russland auszubluten, scheint man sich im Weißen Haus gleichzeitig auf eine Niederlage vorzubereiten, mit einem Szenario,  in dem Selenskij nun nicht mehr länger von Kritik verschont wird.

Der August war bisher ein bemerkenswert schwieriger Monat für Selenskij in Bezug auf die Berichterstattung in den westlichen Medien, die sich zuvor mit jeglicher Kritik zurückgehalten hatten. Der Kolumnist für The New York Times Thomas Friedman, der enge Kontakte zum Weißen Haus pflegt, berichtete, dass "ein tiefes Misstrauen zwischen dem Weißen Haus und dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij entstanden ist – erheblich tiefer als bisher berichtet". Friedman erläuterte auch Washingtons wachsende Besorgnis über die ukrainische Korruption und die allgemeine Misswirtschaft – ein Thema also, das seit Februar ausschließlich als "russische Propaganda" denunziert wurde. Der Bericht von Friedman erschien in demselben Medium, das bis vor Kurzem jede Äußerung von Selenskij unkritisch weiterverbreitet hat, einschließlich der Bezeichnung einer Massenkapitulation in Mariupol als angebliche "Evakuierung". Aber das scheint vorbei zu sein.

Es ist offenbar auch kein Tabu mehr, über die inneren Spaltungen in der ukrainischen Gesellschaft als Quelle des militärischen Scheiterns zu berichten. The New York Times berichtete über die rücksichtslosen Säuberungen im Militärapparat und in den Sicherheitsdiensten, während die Washington Post Selenskij beschuldigt hat, lokale Bürgermeister ins Abseits zu stellen und die Kontrolle über die gesamte Wiederaufbauhilfe zu zentralisieren, "um so künftige politische Rivalen zu schwächen".

Sky News, ein sehr antirussischer Nachrichtensender, strahlte ebenfalls einen Meinungsbeitrag mit dem Titel aus: "Selenskij – alles andere, als das, wie ihn die westlichen Medien darstellen." Ein Moderator beschuldigte Selenskij, die ukrainische Demokratie demontiert zu haben, indem er die Kontrolle über die nationalen Medien übernommen hat, politische Oppositionsparteien verbieten und die Oppositionsführer festnehmen ließ. Das entspricht alles der Wahrheit, war aber bisher tabu.

Und um noch zusätzlich etwas draufzulegen, berichtete Amnesty International kurz darauf, die Ukraine habe gegen Regeln der Kriegsführung und des humanitären Völkerrechts verstoßen, indem sie militärische Stellungen in dicht besiedelten Wohngebieten, in Schulen und Krankenhäusern errichtete. Später gab sie nach einem Angriff auf Twitter und von Medienvertretern aus dem Pro-Kiew-Lager teilweise nach, relativierte den Bericht, blieb jedoch bei der Gesamtbewertung ihrer Ergebnisse der Untersuchung.

Die Publikation National Review spekulierte, dass sich das Weiße Haus unauffällig von Selenskij distanziert, um gleichzeitig ein Narrativ aufzubauen, mit dem die Wende von einer kompromisslosen Position hin zur Akzeptanz von Zugeständnissen erklärt werden soll. Die Publikation sagt daher voraus, dass das neue Narrativ von Joe Biden aus dem Weißen Haus lauten werde: "Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, um der Ukraine zu helfen sich zu verteidigen, aber am Ende waren sie zu inkompetent, zu korrupt und waren zu sehr von internen Machtkämpfen heimgesucht." Ein solches Sündenbock-Szenario würde Präzedenzfällen folgen, wie etwa im Irak oder bei Afghanistan, wo die Unzulänglichkeiten und Unfähigkeit des Protektorats für das Scheitern verantwortlich gemacht wurden.

Über das Wesen von Stellvertreterkriegen am Beispiel von Selenskij und der Ukraine

Es sollte daran erinnert werden, dass Ende 2013 eine der Vorgängerregierungen der aktuellen Machthaber in Kiew in Brüssel darum bat, ein Abkommen zwischen der EU und der Ukraine durch ein trilaterales Abkommen zwischen der EU, der Ukraine und Russland zu ersetzen, nachdem der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch erkannt hatte, dass das von der EU vorgesehene Abkommen Kiew dazu zwingen würde, sich zwischen dem Westen und Russland zu entscheiden, was unweigerlich zu einer Spaltung des Landes führen würde.

Nachdem Janukowitsch das Assoziierungsabkommen der EU zurückgewiesen hatte, unterstützten die USA einen gewaltsamen Regierungsumsturz in Kiew, um anschließend eine gefügigere Regierung zu installieren. Washington unterstützte später auch die sogenannte "Anti-Terror-Operation", die sich gegen alle diejenigen Menschen in der Ostukraine richtete, die sich dem neuen Regime in Kiew widersetzten. Und nachdem die neuen ukrainischen Behörden diesen Kampf verloren, konzentrierten sich die USA für die kommenden sieben Jahre darauf, das Friedensabkommen von Minsk zu sabotieren.

Die Geschichte von Selenskij ist auch ein Fallbeispiel für die Tragödie von Stellvertreterkonflikten. Als Bürger und Schauspieler trat Selenskij oft im Fernsehen auf und argumentierte leidenschaftlich gegen die drakonischen Gesetze, die auf die russische Sprache und Kultur abzielten, welche ansonsten seiner Meinung nach die Ukraine spalten würden. Seine Kampagne zur Präsidentschaftswahl war in ähnlicher Weise als eine Friedensplattform gestaltet, die versprach, mit den Führern im Donbass in einen Dialog zu treten und den Frieden mit Russland zu suchen. Das ukrainische Volk erteilte ihm dafür ein überwältigendes Mandat, indem es ihn mit 73 Prozent der Wählerstimmen in einem Erdrutschsieg zum Präsidenten wählte. Doch nach entsprechendem Druck aus Washington und angesichts der Drohungen von Nationalisten in den eigenen Reihen, die von den USA bewaffnet und ermutigt worden waren, änderte Selenskij seine frühere Position.

Der Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland in der Ukraine war ein tragischer Fehler, der immenses Leid über das Land und die Menschen dort gebracht hat. Und nachdem die USA die Ukraine in diesen verheerenden Konflikt mit Russland getrieben haben, werden sie nun wahrscheinlich fordern, dass Selenskij die gesamte Schuld für das Scheitern dieser Politik Washingtons auf sich nimmt.

Übersetzt aus dem Englischen

Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südost Norwegen und Redakteur des Journals Russia in Global Affairs. Man kann ihm auf Twitter unter @glenndiesen folgen.

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