von Dagmar Henn
Der Krieg, den die NATO vor acht Jahren im Donbass begann, war lange Zeit eine Art Discount-Krieg, weil weder Gerät noch Munition aus dem Haushalt irgendeines NATO-Staates finanziert worden waren. Auf beiden Seiten war es altes sowjetisches Gerät, alte sowjetische Munition, die zum Einsatz kamen. Man könnte sogar mutmaßen, dass es die vorhandenen Depots waren, warum die Ukraine und nicht Polen zur wichtigsten Front gegen Russland aufgebaut wurde.
Denn in der Ukraine verlief die erste Hauptverteidigungslinie der Sowjetunion gegen eine Invasion. Man erinnere sich an die langen Kämpfe um den Donezker Flughafen. Der Grund dafür waren die ausgedehnten unterirdischen Bunkeranlagen unter dem alten Flughafen, die einst als vorgeschobener Kommandoposten für diese Verteidigungslinie errichtet worden waren. Die Sowjetunion war seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer auf eine Invasion vorbereitet, und zwar auf eine Invasion in der Größenordnung des Unternehmens Barbarossa, also auf Tausende feindlicher Panzer und Truppen in Millionenstärke. Nach der historischen Erfahrung durchaus nachvollziehbar. Entsprechend waren auch die Vorräte an Munition dimensioniert; bemessen mindestens für die ersten Wochen einer militärischen Auseinandersetzung dieser Größenordnung.
Auf diese Vorräte und das hinterbliebene Gerät der Sowjetunion konnte die Ukraine zurückgreifen, und ich kann mir vorstellen, dass einige der Planer in den USA oder der NATO ein stilles Vergnügen bei der Vorstellung empfanden, diese Kämpfe ausgerechnet mit Waffen zu beginnen, die von den Menschen, gegen die sie gerichtet wurden, produziert und finanziert wurden. Denn das war natürlich der Hauptvorteil dieser alten Vorräte. Bezahlt hatte sie die sowjetische Bevölkerung.
Die ersten Raketenwerfereinsätze gab es gegen Slawjansk im Mai 2014. Im Sommer dieses Jahres stand die Stadt Donezk unter Dauerbeschuss. Dabei kamen vor allem die Mehrfachraketenwerfer Grad und Uragan zum Einsatz, oft auch unter Verwendung von Clustermunition (die sehr leicht zu erkennen ist, denn die Mittelrippe, um die die Bomblets gruppiert sind, bleibt übrig). Selbst die größte in der Ukraine vorhandene Boden-Boden-Waffe, die Totschka-U-Rakete, wurde damals bereits verwendet.
Die Menge an Munition, die im Verlauf der Jahre verbraucht wurde, mit Spitzen im Sommer 2014, im Frühjahr 2015 und wieder ab Anfang dieses Jahres, dürfte gigantisch sein. Dafür muss man nur an die Beschwerden denken, die aus den USA kamen, weil die ukrainischen Truppen in einem Monat so viele Javelins verschossen, wie die USA in einem Jahr produzieren könnten. Aber schon diese Beschwerde wies auf eine andere Tatsache hin. In Videos ist zu hören (übrigens von der ukrainischen wie der russischen Seite), dass die Javelins nicht so zuverlässig seien wie die alten sowjetischen RPGs. Das bedeutet aber auch, dass sie nur und erst dann eingesetzt werden, wenn die andere Variante Panzerabwehrwaffe nicht mehr zur Verfügung steht. Sprich, wenn die Ukraine in einem Monat 2.000 Javelins verbraucht, dann, weil die alten Vorräte in diesem Bereich zur Neige gehen.
Nachdem schon die Kessel des Jahres 2014 zu enormen Verlusten an Material führten und dafür sorgten, dass nun auch die beiden Donbassrepubliken mit Panzern und Raketenwerfern ausgestattet waren, gab es bereits damals die ersten Lieferungen entsprechender alter Waffen aus NATO-Staaten, die noch solche Vorräte hatten. Dass überhaupt die Rede davon aufkam, die ukrainische Armee mit westlichen Waffen auszurüsten, war von vorneherein ein Zeichen, dass die Kapazitäten an alter Ausrüstung an ihre Grenze gelangt sind. Schließlich ist es logistisch weitaus einfacher, Truppen zu versorgen, die Waffen in einem einheitlichen Kaliber verwenden; mit gutem Grund hat nicht jedes Geschütz einen anderen Durchmesser, und der Mischmasch, der momentan bei den ukrainischen Truppen herrscht, dürfte nicht nur zur Verwirrung bei den Bedienmannschaften führen, sondern auch zu Kopfschmerzen bei den Logistikern.
Wobei noch dazu kommt, dass bei den NATO-Waffen zwar die Kaliber einheitlich sind, aber die Munition dennoch spezifisch auf einzelne Geräte zugeschnitten. Das war schon an den Debatten zu erkennen, welche Waffen Munition verwenden, die etwa aus der Schweiz kommt. Das Bestreben, spezifische Munition zu verkaufen, ist für die Hersteller ökonomisch sinnvoll; militärisch aber Unfug. Da ist jeder Schritt der Normierung ein Vorteil. Die ganze Struktur der NATO ist aber zum einen vor allem auf unterlegene Gegner ausgerichtet – schließlich führte man 30 Jahre lang nur Kolonialkriege – und geht zum anderen eigentlich davon aus, dass die jeweilige Waffe von Mannschaften aus dem jeweiligen Land bedient wird. Die natürlich nach den Interessen ihrer jeweiligen Waffenindustrie ausgestattet werden. Während es also selbst im alten sowjetischen Bestand eben einen Raketenwerfer mit Kaliber 152 gibt, der überall gleich aussieht und überall die gleiche Munition einsetzt, gibt es auf NATO-Seite zwar ein einheitliches Kaliber, aber mehrere unterschiedliche Raketenwerfer, die von diesem einheitlichen Kaliber nur begrenzten Nutzen haben.
Aber zurück zu den sowjetischen Raketenwerfern. Die über Donezk abgeworfenen Schmetterlingsminen stammen aus Uragan-Raketenwerfern, das ist die mittlere Größe der sowjetischen Raketenwerfer. Sie über einer Stadt abzuwerfen, ist für die Ukraine nicht ganz unproblematisch, schließlich hat sie (im Gegensatz zu den USA, Russland und China) den Vertrag von Ottawa unterzeichnet, der den Einsatz von Antipersonenminen grundsätzlich verbietet und eigentlich verlangt, die vorhandenen Vorräte zu vernichten.
Sicher, im Westen werden beide Augen zugedrückt, wenn die Ukraine wieder mal gegen das Recht verstößt, sei es das zivile oder das des Krieges, und selbst die dümmsten Geschichten werden kolportiert. Man denke nur an die Totschka-U-Raketen auf Donezk und Kramatorsk. Dennoch – der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Selbst die geschlossenste Propagandafront bricht irgendwann, und jedes einzelne Ereignis, das mühsam zurechtgebogen werden muss, ist ein Schritt in diese Richtung. Und Antipersonenminen, insbesondere in der Streuvariante, noch dazu bunt, haben nicht viele Fans in der westeuropäischen Öffentlichkeit; schließlich gab es einmal eine größere Bewegung für ihr Verbot, und viele europäische NATO-Länder haben den Vertrag von Ottawa ebenfalls unterzeichnet.
Die Minen sind deshalb besonders bösartig, weil sie so klein sind; sie sind bunt, weil sie eigentlich für den Einsatz auf freiem Feld geschaffen wurden. Inzwischen gibt es Bilder von braunen, grünen und gelben Varianten, die ursprünglich auf Felder und Wälder im Frühjahr, Sommer und Herbst zugeschnitten waren. Weil sie bunt sind, ist die Gefahr groß, dass Kinder in ihnen Spielzeug sehen. Selbst Kinder, die schon an den Anblick von Raketenresten und Granaten gewöhnt sind.
Während es bei einem Beschuss mit den "normalen" Raketen immer noch möglich ist, sich da irgendwie herauszureden, man habe ein anderes Ziel treffen wollen, wird das bei einem Regen von Schmetterlingsminen auf eine Großstadt schwierig. Nicht, dass die ukrainische Armee Hemmungen hätte, der Zivilbevölkerung im Donbass Schaden zuzufügen; es ist gründlich genug dokumentiert, dass sie sie nicht hat. Aber das Risiko für die PR ist bei dieser Art der Munition größer. Weil es ein doppelter Verstoß gegen einen von der Ukraine unterzeichneten internationalen Vertrag ist. Der erste Verstoß besteht nämlich schon darin, dass diese Munition nicht vernichtet wurde.
Und der Zweite? Es könnte sein, dass diese Geschosse eingesetzt werden, weil es andere schlicht nicht mehr gibt. Das ist aus meiner Sicht der einzige Grund, dieses höhere Risiko einzugehen. Die Tatsache, dass der Beschuss mit diesen Minen fortgesetzt wird, verstärkt diese Vermutung.
Das wäre dann das gleiche Ergebnis, das bereits bei der Verwendung der Javelins vorlag. Ein Anzeichen dafür, dass die sowjetischen Munitionsvorräte Schritt für Schritt, Waffe für Waffe zu Ende gehen und die ukrainischen Truppen in absehbarer Zeit nur noch die NATO-Ausrüstung einsetzen können. Das allerdings wäre der Moment, an dem der Krieg vorüber sein würde, ganz unabhängig davon, wie sich die entscheidenden Gefechte, die gerade im Donbass stattfinden, weiterentwickeln. Sogar unbeeinflusst davon, wie kampfwillig die verbliebenen ukrainischen Truppen sind. Und völlig unabhängig von den Vorstellungen und Wünschen der NATO und der Vereinigten Staaten.
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