Ein Kommentar von Scott Ritter
Im Jahr 1997 flog ich im Auftrag einer Sonderkommission der Vereinten Nationen nach Kiew, um die ukrainische Regierung um Unterstützung bei der Untersuchung der Aktivitäten eines ukrainischen Staatsbürgers zu bitten. Dieser wurde verdächtigt, unter Verletzung von Bestimmungen des UN-Sicherheitsrates, illegal Komponenten und Herstellungskapazitäten für ballistische Raketen an den Irak verkauft und damit gegen verhängte Wirtschaftssanktionen verstoßen zu haben.
Während meines Besuchs kam es zu mehreren Treffen mit hochrangigen Beamten des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, darunter auch ihrem damaligen Direktor Wladimir Horbulin. Ich verließ Kiew in dem Einvernehmen, die ukrainische Seite hätte sich bereit erklärt, zu kooperieren – was sie letztlich nicht tat – und sie hoffte, dass ich ihre guten Absichten an die US-Behörden weitergeben würde – was ich tatsächlich auch tat – in der Erwartung, dass dies ihren Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der NATO unterstützen würde.
Fünfundzwanzig Jahre später hat derselbe Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat über sein "Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation" eine schwarze Liste von Personen veröffentlicht, von denen angenommen wird, dass sie "russische Propaganda" verbreiten.
Mein Name steht auf dieser Liste. Zu meinen "Verbrechen" gehören, die Ukraine als Stützpunkt der NATO beschrieben zu haben, das Narrativ um das Massaker von Butscha in Frage gestellt zu haben und den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als "Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland" bezeichnet zu haben.
Ich erkläre mich in allen drei Anklagepunkten für schuldig – und noch für viel mehr. Aber ich bin kein russischer Propagandist.
Das "Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation" wurde im Jahr 2021 auf Anordnung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij gegründet. Das Zentrum wird von Polina Lysenko geleitet, einer Rechtsanwältin, die sechs Jahre zuvor ihren Abschluss in Rechtswissenschaften gemacht hat und deren Lebenslauf eine Zeit beim Nationalen Büro für die Bekämpfung der Korruption aufweist, einer Amtsstelle, die dem Generalstaatsanwalt unterstellt ist. Dort wurde ihr eine Dienstauszeichnung des amerikanischen FBI verliehen.
Bis sie an ihren jetzigen Posten berufen wurde, arbeitete sie zwischenzeitlich als Leiterin der Abteilung für Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit bei einem staatlichen Eisenbahnunternehmen.
Kurz nach ihrer Ernennung, stellte Lysenko die Arbeit des "Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation" den Botschaftern der G7-Staaten, sowie jenen von Finnland, Israel und der NATO vor. Ihr Vorgesetzter, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Alexei Danilow, betonte dabei "die Bedeutung der Koordinierung von Maßnahmen mit strategischen Partnern bei der Bekämpfung feindlicher Informationsoperationen und der Bekämpfung von Desinformation", während der Leiter des Büros des Präsidenten, Andrei Jermak, angab, er hoffe, "dass das Zentrum nicht nur ein ukrainisches Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation wird, sondern auch ein internationales". Laut Yermak sei das Zentrum "operativ funktionsfähig". Polina Lysenko betonte bei der Darlegung der Ziele und der Mission ihrer Organisation, dass "die Wahrheit unsere Hauptwaffe sein wird".
Sie hätte damit beginnen sollen, die Aussage von Yermak auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Zwei Monate, nachdem er ihr Zentrum für "operativ funktionsfähig" erklärt hatte, berichteten ukrainische Medien, dass es dem Zentrum an "Räumlichkeiten, Finanzierung und Personal" fehle. Lysenko war die einzige Angestellte, und "ihr wurde ihr Gehalt über mehrere Monate nicht ausbezahlt". Das Zentrum sollte eigentlich 52 Mitarbeiter haben, die mit etwa 2.000 Euro pro Monat entlohnt werden sollten. Eigentlich wäre das ukrainische Finanzministerium dafür verantwortlich gewesen, die Mittel für das Zentrum bereitzustellen, was es aber bis Mitte Juni 2021 nicht getan hat. Lysenko arbeitete allein in einem "winzigen Büro im Erdgeschoss des Gebäudes des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates". Es scheint schwierig zu sein, "die Wahrheit als Hauptwaffe" zu führen, wenn man nicht mal dafür bezahlt wird.
Ein Jahr später, während die Finanzierung und das Personal kein Problem mehr zu sein schienen – zum großen Teil dank der Übernahme der Gehaltsabrechnungen durch die US-Steuerzahler –, blieb die Qualität weiterhin ein Problem. Nehmen wir zum Beispiel den Fall, den Lysenko und ihr neues Zentrum gegen Desinformation in Bezug auf mich dargestellt hat.
Wenn die "Beschreibung der Ukraine als Stützpunkt der NATO" jemanden zu einem russischen Propagandisten macht, dann hätte man mir Ben Watson zur Seite stellen sollen, ein Redakteur der notorisch "pro-russischen" – Achtung: Sarkasmus! – Online-Zeitschrift Defense One, der im Oktober 2017 einen Artikel veröffentlichte, mit der selbsterklärenden Überschrift "In der Ukraine bilden die USA eine Armee im Westen aus, um mit ihr im Osten zu kämpfen".
Der Artikel beschrieb die Arbeit von Militärpersonal der NATO und aus den USA im Rahmen der Vereinigten Multinationalen Trainingsgruppe im ukrainischen Zentrum für Gefechtstraining in Yaworiw. Dieses befindet sich in der Westukraine befindet und stellt buchstäblich einen NATO-Stützpunkt in dem Land dar. Alle 55 Tage wurde in dem Zentrum ein komplettes ukrainisches Armeebataillon nach NATO-Standards dafür ausgebildet, in die Ostukraine geschickt zu werden, um dort gegen von Russland unterstützte Separatisten im Donbass zu kämpfen.
Ein professioneller Tipp am Rande für Frau Lysenko: Wenn ein Land ein ständiges Kontingent von NATO-Truppen auf seinem Boden beherbergt, dann macht sich dieses Land zu einer Basis der NATO.
Lysenkos Stab erstklassiger Analysten zur Bekämpfung von Desinformation – wiederum Sarkasmus! – monierte ebenfalls meine Einschätzung des Massakers an Zivilisten in Butscha von Ende März/Anfang April als ein von ukrainischen Streitkräften begangenes Verbrechen. Lysenko war hierbei in guter Gesellschaft, ich wurde für dieselbe Analyse von Twitter gesperrt.
Auch vier Monate nach den in Butscha begangenen Gräueltaten bleibe ich bei meiner Analyse – die Faktenlage hat sich seither nicht geändert. Und ich wäre jederzeit bereit, dieses Thema mit Polina Lysenko und ihrem gesamten Personal live im ukrainischen Fernsehen zu debattieren. Ich würde mit jedem und überall darüber diskutieren – so zuversichtlich bleibe ich bei meiner ursprünglichen Analyse. Die Wahrheit ist schließlich meine Hauptwaffe.
Der letzte Vorwurf der unerschrockenen Wahrheitsdetektive rund um Lysenko gegen mich, dass ich den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als "Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland" bezeichnet habe, stellt erneut die Professionalität ihrer Mitarbeiter infrage. Schließlich nannte der in Moskau geborene, sich selbst hassende Russe Max Boot in einem am 22. Juni in der Washington Post veröffentlichten Meinungsartikel den Ukraine-Konflikt "auch unseren Krieg". Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, in denen ich Max Boot in etwas zustimme. Boot wiederholte jedoch lediglich die Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass die US-Politik in Bezug auf den Ukraine-Konflikt darauf ausgerichtet sei, Russland durch die Unterstützung der Ukraine zu schwächen – was einer Definition aus dem Lehrbuch für einen "Stellvertreterkonflikt" nahekommt.
Geben Sie sich mehr Mühe, Polina Lysenko. Versuchen Sie zumindest, ein paar einfache Punkte zu sammeln, indem Sie die Tatsache hervorheben, dass ein Großteil meiner Analysen zur Ukraine von Russia Today veröffentlicht werden – wie auch dieser Artikel. Dann könnten Sie zumindest sagen, dass ich von Russland bezahlt werde. Natürlich müssen Sie damit klarkommen, dass meine Analysen auch in zahlreichen nicht-russischen Medien veröffentlicht werden – ich meine, was für ein russischer Propagandist wird von amerikanischen und britischen Verlegern veröffentlicht?
Und dann ist da natürlich noch das heikle Thema der überwachten russischen Redaktion. Als Orientierung dient folgender Austausch:
Ich: "Irgendwelches Interesse daran, dass ich Stoltenbergs Präsentation zum Thema 'den Preis zahlen' genauer unter die Lupe nehme?"
Der überwachte russische Redakteur: "Was ist Ihre Meinung?"
Ich: "Ich glaube nicht, dass Stoltenberg die Summe auf dem Preisschild versteht."
Der überwachte russische Redakteur: "Ist es dieselbe Rede, in der er sagte: 'Hört auf, euch zu beschweren', ja?"
Ich: "Ja."
Der überwachte russische Redakteur: "Cool, lass es uns machen."
Die strategische Hinterlist der russischen Propagandamaschine ist durch dieses kurze Gespräch gut dokumentiert. Ich kann nicht glauben, dass ich darauf hereingefallen bin.
Aber den Sarkasmus mal beiseitegeschoben, sollte die Veröffentlichung einer schwarzen Liste sogenannter "russischer Propagandisten" durch das von Lysenko geleitete Zentrum, eine Beleidigung für jeden sein, der an die Konzepte der freien Meinungsäußerung glaubt. Ich bin stolz darauf, mit vielen von denen verbunden zu sein, die sich mit mir auf dieser Liste wiederfinden – Ray McGovern, Tulsi Gabbard, Douglas Macgregor, John Mearsheimer und viele andere.
Ich bin zuversichtlich, dass alle hier Genannten sagen werden, dass ihre Motivation für ihre Haltung zum Ukraine-Konflikt darin bestehe, der Wahrheit nachzugehen – der wahren Wahrheit, nicht der verwirrten Version, die von Lysenko und ihren von den USA bezahlten Analysten verbreitet wird. Niemand betrachtet sich selbst als russischen Propagandisten, sondern eher als amerikanischen Praktizierenden der Redefreiheit jener Art, die durch dieselbe US-Verfassung geschützt ist, auf deren Einhaltung und Verteidigung viele der genannten Personen – wie auch ich – einen Eid geschworen haben.
Ich schließe meinen Text damit, für mich selbst zu sprechen. Wenn das Festhalten an einer faktenbasierten Analyse, die den Test der Zeit überstanden hat, die neue Definition von "russischer Propaganda" ist, dann bin ich dabei. Sie ist sicherlich besser, als die Orwellsche Version der Meinungsfreiheit, die von der US-Regierung und ihren Stellvertretern in der Ukraine verbreitet wird.
Ups! Jetzt habe ich es wieder getan!
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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