von Dr. Anton Friesen
Häufig kranken politische Diskussionen daran, dass ein manichäisches Weltbild vorherrscht. "Entweder für oder gegen uns" sowie "Gut und Böse" stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber. Besonders in Kriegszeiten neigt die veröffentlichte Meinung zu Propaganda und kriegslüsterner Herabsetzung des anderen.
Daher am Anfang dieses Artikels eine Trigger-Warnung, wie sie an US-amerikanischen Universitäten in letzter Zeit üblich wurde: Sie könnten in Ihrer politischen Meinung und Ihren Ansichten erschüttert werden. Die einen werden die Argumentation zu pro-amerikanisch und "NATO-hörig" finden und die anderen zu pro-russisch. Anders gesagt handelt es sich um eine differenzierte Herangehensweise. Die Welt besteht eben, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Theologe Reinhold Niebuhr wusste, nicht aus Gerechten und Sündern, sondern aus Sündern, die gegeneinander kämpfen.
Samuel Huntington hat in seinem einflussreichen Werk den Zusammenprall der Zivilisationen bereits Mitte der 1990er-Jahre vorausgesehen. Er verband Geopolitik mit Geo-Kultur, einer Aufteilung von geopolitischen Einflusszonen, die zivilisatorischen Grenzen entspricht:
Erich Vad, langjähriger Sicherheitsberater Merkels (2006-2013), kommt in seiner bereits 1996 publizierten Doktorarbeit zum selben Schluss wie Huntington mit seiner geo-kulturellen Karte:
"Eine allgemeine Sicherheitszone zwischen Vancouver und Wladiwostok erscheint (…) utopisch, weil es dem Großraumprinzip (…) widerspricht. Ein solcher Großraum erscheint aus Gründen seiner unkontrollierbaren räumlichen Ausdehnung und wegen der zahlreichen Konflikte und Konfliktmöglichkeiten der mehr als 50 Staaten unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft kaum herstellbar. Demgegenüber spricht vieles dafür, dass die ostwärtige Trennungslinie Europas im Zuge der Ostgrenzen Finnlands, Estlands, Lettlands, Litauens, Polens, der Slowakei und Ungarns und weiter im Zuge der Südgrenze Ungarns und Kroatiens verlaufen wird (…). Ostwärts dieser Trennungslinie liegt der russische Großraum mit den Republiken der ehemaligen Sowjetunion als eine politische, kulturelle, wirtschaftliche und historisch entwicklungsbedingt andere Einheit."
Damit gibt es eine Überlappung von geopolitischen und militärischen Einflusszonen mit kulturellen Einflusszonen, was die Stabilität erhöht. Auch die NATO-Norderweiterung um Finnland und Schweden könnte in diesem Lichte betrachtet zur Stabilisierung beitragen, wenn man der russischen Seite gleichzeitig bedeutet, sich der Interventionen in ihrem Einflussbereich zu enthalten und sich auf eine Spaltung der Ukraine entlang des Dnjepr (westlich geprägte Westukraine vs. russisch geprägte Ostukraine) einzulassen, die freilich auf Basis von international überwachten Referenden erfolgen sollte. Sowohl in Finnland und Schweden als auch in der Ostukraine sollten keine NATO beziehungsweise russischen Militärbasen errichtet, keine ständigen Truppen der NATO oder Russlands und keine Raketen stationiert werden, um die Stabilität nicht zu gefährden. Finnland hat all das bereits zugesagt.
Schließlich sind Finnland und Schweden ebenso eindeutig dem westlichen Kulturkreis zuzuordnen wie die Ostukraine dem russischen, in deren Gebieten nach der letzten in der Ukraine erfolgten Volkszählung von 2001 je nach Region mehr als 20 Prozent ethnische Russen leben und die russische Sprache dominiert. Die Westukraine hingegen war lange Zeit Bestandteil von Österreich-Ungarn beziehungsweise Polen, was jeder weiß, der in friedlicher Zeit in einem guten alten Lemberger K.u.K Kaffeehaus saß. Die griechisch-katholische Prägung seit der Union von Brest 1596 hat das ihre getan, um die Westukraine eng in das Abendland zu integrieren.
Ist das nun die Anerkennung des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs, den der Verfasser dieser Zeilen verurteilt? Nein, das ist schlicht und einfach die Anerkennung der geo-kulturellen und geopolitischen Realität.
Dr. Anton Friesen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und ehemaliger Bundestagsabgeordneter (Auswärtiger Ausschuss sowie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe).
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