"Es ist die Sache nicht wert" – Ukrainer wollen nicht für Selenskijs Ziele sterben

Rund fünf Monate nach Beginn von Russlands militärischer Sonderoperation in der Ukraine nimmt der Widerstand in der Öffentlichkeit des Landes gegen Zwangsrekrutierungen für den Kriegsdienst zu. Kiews Siegespropaganda verliert mit jedem Tag an Kraft.

von Maxim Artemjew

Der populäre ukrainische Blogger und Aktivist Juri Kasyanow veröffentlichte kürzlich einen Beitrag auf Facebook, in dem er sich beschwerte: "Lasst uns die Mobilisierung stoppen, die Grenzen öffnen und alle militärischen Rekrutierungsbüros auflösen. Lasst die Profis kämpfen, sie werden schließlich dafür bezahlt – und lasst Freiwillige mitmachen, wenn sie kämpfen wollen. Aber ich bin ein nicht an der Waffe ausgebildeter Zivilist und somit untauglich für den Krieg. Ich würde in meinen Tod rennen."

Mit diesem provokativen Post wollte Kasyanow eine Diskussion über die Wehrpflicht in der Ukraine lostreten. Aber die Ergebnisse der daraus entstandenen Debatte waren für den Blogger ein Schock: "Den Kommentaren zu meinem Post nach zu urteilen haben neun von zehn Ukrainern nicht die Absicht zu kämpfen. Sie lehnen eine landesweite Mobilisierung ab, ebenso wie das Ausreiseverbot für wehrfähige Männer."

Beachtenswert ist, dass Kasyanows Follower, wie er selbst, entschiedene Befürworter der Idee sind, dass die Ukraine bis zum bitteren Ende gegen Russland kämpfen muss. Und doch hat die überwiegende Mehrheit selbst nicht den Wunsch, für den Ruhm der Ukraine zu sterben.

Die moderne Zivilisation baut auf einer sehr bewussten Haltung gegenüber der individuellen Gesundheit auf. Oft ist das Erste, was man sieht, wenn man online geht, ein Werbebanner mit der Schlagzeile "10 Warnzeichen, dass Sie Krebs haben könnten" oder "Wie Sie Gelenkschmerzen lindern" und so weiter. Andere Grundwerte der modernen Zivilisation sind körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Privatsphäre und – natürlich – Alltagskomfort und Bequemlichkeit. Keines davon passt gut zu den schmutzigen Realitäten an der Front. Man könnte sagen, dass das ganze Ethos des Krieges den Werten der heutigen Gesellschaft widerspricht.

Die Ukraine ist ein Land, das größtenteils von Ein- oder Zwei-Kind-Familien bevölkert ist. Aber wie viele dieser Bürger würden freiwillig in den Krieg ziehen, um entweder getötet oder verkrüppelt zu werden? Es überrascht nicht, dass die meisten Ukrainer nicht in den Krieg ziehen wollen. Zugegeben, wenn man ihnen zuhört, dann sind die meisten Ukrainer glühende Patrioten. Aber wenn es darum geht, von der Couch aufzustehen und tatsächlich an die Front zu gehen, sind nur sehr wenige bereit, auf ihren Patriotismus Taten folgen zu lassen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die schätzungsweise mittlerweile 30.000 gefallenen ukrainischen Soldaten, die auf dem Schlachtfeld ums Leben gekommen sind, in irgendeiner Weise motivierend sind. Tatsächlich wird dies ziemlich sicher den gegenteiligen Effekt hervorrufen: "Ich möchte nicht wie alle anderen sterben." Es ist viel sicherer, sich von zu Hause aus in den sozialen Medien an hitzigen Debatten zu beteiligen oder die Kämpfe an der Front auf Youtube zu verfolgen.

Hinzu kommt, dass die Ukraine eine demografische Krise durchmacht. Die Bevölkerung des Landes ist von 52 Millionen Menschen im Jahr 1991 auf aktuell kaum mehr als 30 Millionen Menschen geschrumpft. Und zwar noch bevor der Konflikt im Februar eskalierte. Die Situation ist dermaßen kritisch, dass der Staat seit über zwei Jahrzehnten eine Volkszählung vermeidet.

Täglich lese ich in den ukrainischen Massen- und Sozialmedien, die vom Regime in Kiew stark zensiert werden. Die Inhalte dieser Medien unterscheiden sich erheblich von der Realität vor Ort. Während das Internet mit Videos geflutet wird, von ukrainischen Soldaten, die sich weigern zu kämpfen und sich darüber beschweren, dass ihre geflohenen Kommandeure sie ohne Ausrüstung oder Ausbildung als Kanonenfutter gegen Panzer kämpfen lassen. Es gibt Hunderte dieser Videos und jeden Tag werden weitere hochgeladen. Und diese Videos werden von Ukrainern in Militäruniform veröffentlicht, nicht von russischen Staatsmedien. Auch die Zahl der Videos, die ukrainische Ehefrauen zeigen, die sich widersetzen, wenn ihre Männer von der Polizei oder Rekrutierern für den Kriegsdienst abgeholt werden, nimmt ebenfalls zu.

Trotzdem vermeiden es die ukrainischen Medien und Elite-Blogger, dies zu kommentieren. Sie wollen natürlich ein Phänomen zum Schweigen bringen, das der Schlüssel zum Verständnis dessen ist, was mit dem Land passiert. In zahlreichen Ansprachen an sein Volk hat Präsident Wladimir Selenskij nicht ein einziges Mal die unzähligen Fälle erwähnt, in denen Soldaten sich weigerten, Befehlen Folge zu leisten, was meistens bei mobilisierten Männern und Freiwilligen an der Front im Osten und Südosten vorkam, die davon ausgegangen waren, dass sie nahe ihrer Heimatgebiete dienen würden.

Der Grund dafür ist oft, dass viele nicht bereit sind, ihr Leben zu riskieren, nur damit Russisch keine zweite Amtssprache wird oder Kiew ein offizieller Verbündeter der USA sein darf. Der Preis ist zu hoch für das, was auf dem Spiel steht. Es wundert auch nicht, dass ukrainische Medien so tun, als existiere das Problem nicht. Die bloße Anerkennung der Tatsache, dass so viele Soldaten frustriert sind, würde das sorgfältig konstruierte Bild einer in selbstlosem Patriotismus vereinten Nation zerstören.

Auch der Maulkorb, den die ukrainische Regierung den Medien verpasst hat, der sie an der Veröffentlichung jeglicher Daten über Verluste hindert, ist kein Zufall. Über die Zahl der bereits Gefallenen lassen die Behörden ihre Bürger lieber im Dunkeln.

Bisher war diese Strategie erfolgreich. Eine vom Wall Street Journal in Auftrag gegebene Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und der Universität von Chicago vom vergangenen Mai und Juni zeigt, dass 90 Prozent der Bevölkerung in den von Kiew kontrollierten Gebieten der ukrainischen Armee vertrauen, während 85 Prozent Vertrauen in Selenskij haben, der erst kürzlich alle Oppositionsparteien verbieten ließ. Seltsamerweise waren zwar 89 Prozent der Befragten gegen die Abtretung von durch Russland eroberte Gebiete, aber nur 66 Prozent gaben an, dass sie zuversichtlich sind, dass die Ukraine die bereits verlorenen Gebiete zurückerobern kann.

All dies liefert eine klare Antwort darauf, warum Kiew aktiv ausländische Söldner anwirbt. Diese sind motivierter als die ukrainischen Soldaten und können in gefährlicheren Kampfzonen eingesetzt werden. Möglicherweise besteht das Hauptproblem des Regimes darin, dass es nicht weiß, wie es damit umgehen soll, dass die Bürger massenhaft versuchen, sich einer Einberufung zu entziehen, um nicht an die Front geschickt zu werden. Bereits das offizielle Ausreiseverbot für alle männlichen Bürger zwischen 18 und 60 Jahren ist bezeichnend für die Argumentation Selenskijs, dass diejenigen, die ausreisen, kaum zurückkommen und kämpfen werden. Aber das Ausreiseverbot bietet keine Lösung. Stattdessen demotiviert es die Menschen zusätzlich.

Die ukrainischen Rekrutierungsbüros sind äußerst desorganisiert. Rekrutierungen werden auf den Straßen, in Einkaufszentren und sogar an öffentlichen Stränden durchgeführt. Es gibt auch Berichte, dass Rekrutierer ihre Macht, wehrfähige Männer zu rekrutieren, als Druckmittel gegen sie oder als Mittel zur Rache oder Bestrafung nutzen. Dies zeigt erneut, dass viele die Aussicht, in die Armee einzutreten, um das Heimatland zu verteidigen, eher als eine unerwünschte Bürde denn als Ehre empfinden.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich viele in Ermangelung ziviler Arbeitsplätze mit anständigen Gehältern freiwillig den Streitkräften anschließen, nur um sich und ihre Familien ernähren zu können. Das Militärbudget reicht jedoch nicht aus, um die Lücken in den Streitkräften mit Freiwilligen zu füllen. Eine bestimmte Anzahl von Rekruten muss eingezogen werden. Es bleibt aber unklar, wie Kiew dieses dringende Problem angehen will, wenn so viele seiner Bürger das Gefühl haben, dass es die Sache nicht wert ist, um dafür das eigene Leben zu riskieren.

Übersetzt aus dem Englischen

Maxim Artemjew ist ein russischer Journalist und Historiker.

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