von Julia Melnykowa
Der NATO-Gipfel, der im vergangenen Monat in Madrid stattfand, war reich an Informationen und er behauptete von sich selber, eines der wichtigsten politischen Ereignisse des Sommers 2022 zu sein. Das Treffen markierte einen weiteren Meilenstein in den derzeitigen "Beziehungen" zwischen Moskau und der NATO, wobei der anhaltende Konflikt zwischen Russland und dem Westen im Mittelpunkt stand.
Zunächst wurde ein neues Strategisches Konzept der Allianz veröffentlicht, in dem Russland öffentlich zur größten Sicherheitsbedrohung erklärt wurde. Zweitens wurde das Verfahren für die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands offiziell eingeleitet, wodurch die Einheit des euro-atlantischen Lagers symbolisch bestätigt wurde. Drittens wurden eine Reihe von Maßnahmen und Plänen angekündigt, die darauf abzielen, Russland militärisch abzuschrecken.
All das sind alarmierende Signale, die auf Außenstehende einen deprimierenden Eindruck hinterlassen mögen, und auch die Reaktion der Offiziellen trägt nicht gerade zum Optimismus bei. Beispielsweise sagte der stellvertretende Außenminister Russlands, Alexander Gruschko, in einem Kommentar zum Strategischen Konzept 2022 der NATO: "Die bloße Existenz eines Staates wie Russland gilt für das Bündnis als ernsthafte Bedrohung. Dies ist eine sehr ernste Wendung und ein echter Versuch, uns zu konfrontieren."
Es scheint, dass alles auf eine "neue Normalität" in den Beziehungen zwischen Russland und der NATO hindeutet. Natürlich stellen sich Fragen: Wie konnte das passieren? Was wird die NATO in der Praxis tun und wie wird Moskau reagieren? Können eine strategische Auseinandersetzung im Bereich der Information und der Aufbau von Mitteln zur Abschreckung auf beiden Seiten zu einem offenen Konflikt eskalieren? Wenn man jedoch genauer hinschaut, sind die grundlegenden Antworten nicht so beängstigend, wie sie zunächst scheinen. Um diese "neue Normalität" in den Beziehungen zwischen Russland und der NATO richtig zu interpretieren, müssen sie tatsächlich aus einer chronologischen Perspektive analysiert werden.
Wie konnte dies passieren?
Betrachtet man die Zeit seit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende des Kalten Krieges, so ist die russische Offensive in der Ukraine für die europäische Sicherheit in der Tat ein beispielloses Szenario. Natürlich unterscheidet sich das neue Strategische Konzept der NATO von den früheren Dokumenten in der Reihe dieser Publikationen. Aufgrund der Veränderungen in den Kräfteverhältnissen in Europa stellte das Strategische Konzept der NATO 1991 zum Beispiel eine Verringerung der Sicherheitsbedrohung fest, hielt aber auch die Notwendigkeit fest, das Erbe des militärischen Potenzials der Sowjetunion zu berücksichtigen.
Die Ausgabe von 1999 bezeichnete Russland, die Ukraine und die Republik Moldau sogar als Dialogpartner, während die Ausgabe aus dem Jahr 2010 den Beziehungen zu Russland schließlich strategische Bedeutung einräumte und angeblich darauf abzielte, in Fragen von beiderseitigem Interesse die Beziehungen zu vertiefen. Vergleicht man also das Dokument aus dem Jahr 2022 mit seinen unmittelbaren Vorgängern, ist die "neue Normalität" tatsächlich neu.
Seit der Annahme des Konzepts von 2010 sind jedoch 12 Jahre vergangen, in denen die NATO mit internen Krisen und Misserfolgen bei der Erreichung ihrer veröffentlichten wie tatsächlichen Ziele konfrontiert war, während Russland zu einer aktiveren Außenpolitik übergegangen ist. Der heutige Höhepunkt der Konfrontation zwischen Moskau und der NATO fasst die Ereignisse in dieser Zeitspanne zusammen. Russlands Beanstandungen an der NATO-Politik häuften sich bereits seit den Konflikten auf dem Balkan in den 1990er Jahren und sind nach dem NATO-Gipfel im Jahr 2008 in Bukarest, als sogar der Ukraine und Georgien die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO zugesagt wurde, merklich eskaliert. Die Kritik Russlands an der NATO hielt sich während des NATO-Einsatzes in Libyen, wenn auch nur indirekt, sowie während des Konflikts in Syrien bereits deutlicher.
Die beiden NATO-Gipfel, die– nach dem ersten Aufflammen der Krise in der Ukraine – 2014 und 2016 in Wales bzw. Warschau stattfanden, formalisierten wiederum den Beginn einer Art "Sicherheitsverwahrung" ("Securitization") für Russland. In diesem Zusammenhang haben beide Seiten den Dialog tatsächlich abgebrochen und die Arbeit des Russland-NATO-Rates auf Initiative der NATO kurzerhand ausgesetzt. Trotz verschiedener Versuche, dieses Format wiederzubeleben und es sogar Anfang 2022 zu nutzen, um russische Vorschläge für gegenseitige europäische Sicherheitsgarantien zu diskutieren, wurde deutlich, dass die Funktionalität und Effektivität des Rates "erfolgreich" auf null reduziert worden war. Im Herbst 2021 stellten schließlich auch die Ständige Mission Russlands bei der NATO und umgekehrt das Informationsbüro und die militärische Verbindungsmission der Allianz in Moskau ihre Arbeit ein. In Ermangelung dieser Kommunikationskanäle und eines wirklichen Zwecks, bezeichnete der russische Außenminister Sergei Lawrow Moskaus Beziehungen zu Brüssel kurz und bündig als "nicht existent". Wenn wir also die Realität nach dem Gipfel in Madrid mit der Entwicklung der Ereignisse davor vergleichen, ist die "neue Normalität" dieselbe geblieben – nur deutlicher formuliert.
Was wird Brüssel tun – und was wird Moskau tun?
Nachdem alle Punkte und Kommas gesetzt und die wichtigen Stichworte geliefert worden sind, wurden die Dinge klarer. Die heutige Realität erleichtert es – bis zu einem gewissen Grad – beiden Seiten, die Logik des Gegenübers sowie dessen Verhalten in der Zukunft nachzuvollziehen. In der gegenwärtigen Situation bestätigen die von der NATO angekündigten Entscheidungen die Rückkehr der Allianz zu einem klaren Regime des Kalten Krieges.
Die Führung der NATO signalisierte diesen Schritt, indem sie die Stationierung zusätzlicher Truppen an ihrer "Ostflanke" und ihre Bereitschaft ankündigte, der Ukraine weiterhin militärische Hilfe zu leisten, sowie die Häufigkeit und Intensität Militärübungen zu erhöhen und die Modernisierung ihres militärisch-industriellen Komplexes voranzutreiben. Es ist offensichtlich, dass sich die Allianz mittelfristig auf die Stärkung ihrer östlichen und südlichen Grenzen konzentrieren wird, um Russland einzudämmen.
Wenn Finnland und Schweden den Beitrittsprozess erfolgreich abschließen, wird das Format, das die NATO wählt, um ihre Grenzen gegenüber Russland zu sichern – das noch nicht bekannt ist –, für Moskaus Reaktion von entscheidender Bedeutung sein. Hier entstehen zwei Problemfelder, die im Zusammenhang mit konventionellen und strategischen Waffen stehen.
In Bezug auf konventionelle Waffen können entweder US-Streitkräfte oder multinationale Bataillone, wie sie in Polen und den baltischen Staaten zum Einsatz bereitstehen, eingesetzt werden, um die Truppen Schwedens und Finnlands zu verstärken. Die Wahrscheinlichkeit für die zweite, europäische Option ist höher, da sich die Staatschefs der nordischen Länder selbst gegen die erste Option ausgesprochen haben. In diesem Fall werden von russischer Seite erhebliche Anstrengungen erforderlich sein, um zusätzliche Streitkräfte und Ausrüstung entlang seiner Grenze zu Finnland zu positionieren und seine militärische Infrastruktur in den angrenzenden Regionen Karelien und Murmansk zu modernisieren. In der Ostsee wäre die Koexistenz der Flotten von Russland und der NATO problematisch, da alle übrigen Staaten mit Zugang zur Ostsee möglicherweise bald Mitglieder der NATO-Allianz sind, was Absprachen, Vertrauensbildung und Maßnahmen zur Vorbeugung von Zwischenfällen erfordert.
Die öffentliche Fachwelt diskutiert auch die Aussichten einer Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie von Atomwaffen und Raketenabwehrsystemen an der neuen Flanke der NATO. Dies würde bereits eine Neuordnung der strategischen Waffen Russlands erfordern. Auch der Frage der Militarisierung der Arktis würde dies eine neue Dimension hinzufügen, was eine erhebliche Herausforderung für die strategische Sicherheit Moskaus darstellen würde. Dennoch wäre es ein sehr riskanter Schritt seitens der NATO, eine weitere Eskalation in seinen Beziehungen zu Russland bewusst zu fördern, weshalb die Regierungen der nordischen Länder die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios bisher zurückgewiesen haben.
Nach Verlautbarungen des russischen Außenministeriums werden alle Schritte der NATO vom russischen Militär gründlich analysiert, was bedeutet, dass der Ball nun bei Russland liegt. Aber auf die eine oder andere Weise zeigen die derzeit stattfindenden Ereignisse aus praktischer Sicht, dass die "neue Normalität" in den Beziehungen zwischen Russland und der NATO eigentlich schon ziemlich alt ist, eine "Normalität", deren Behandlung durch Russland sich in einer vergangenen Ära "bewährt" hat.
Wird es einen Krieg geben?
Aber es gibt möglicherweise auch gute Nachrichten. Trotz der Ernsthaftigkeit der von der NATO unternommenen Schritte, wird angesichts der oben stehenden historischen Analyse die "neue Normalität", die nun auch in absehbarer Zukunft die Grundlage der Beziehungen zwischen Russland und der NATO bilden wird, Russlands militärische und politische Eliten nicht überraschen, es bedarf also keines grundlegenden Umdenkens in Moskau.
Wenn sich der Dialog von den politischen und diplomatischen Arenen in die militärischen verlagert, wird er oft konkreter und pragmatischer. Ein wichtiger Punkt in der Erklärung des Madrider Gipfels ist die Beibehaltung der Grundsatzakte von 1997 über die Beziehungen zwischen Russland und der NATO, obwohl Russland einen Tag zuvor beschuldigt wurde, diese angeblich verletzt zu haben. Dies deutet darauf hin, dass beide Seiten nicht bereit sind, gegenseitige Sicherheitsgarantien vollständig aufzugeben und sich auf offene Konflikte einzulassen. Diese Ansicht wurde immerhin vom NATO-Generalsekretär Stoltenberg geäußert.
Während sich die Kämpfe in der Ukraine in einer aktiven Phase befinden, werden beide Seiten vage bleiben hinsichtlich der Entscheidungen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die jeweils eigenen Grenzen angemessen zu sichern, ohne die Sicherheit des Gegners offen infrage zu stellen. Sobald die Feindseligkeiten in der Ukraine enden und ein Nach-Konflikt-Modell entsteht, wenn neue Truppen an den Grenzen Russlands aufmarschieren und die Einzelheiten des Beitritts zur NATO von Finnland und Schweden klar werden, wird der weitere Dialog unweigerlich darauf ausgerichtet sein, Wege zur Deeskalation zu finden, da auf einen Höhepunkt an Spannungen immer eine Entspannung folgt.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum es für die NATO nicht vorteilhaft ist, sich auf einen offenen Konflikt mit Moskau einzulassen oder alle ihre Ressourcen an ihren Grenzen zu Russland zu konzentrieren. Wie die Beschlüsse im Verlauf des Madrider Gipfels bestätigen, konzentriert sich die große Konfrontation der Zukunft überhaupt nicht auf Europa, sondern auf den asiatisch-pazifischen Raum. Und wenn die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sehr bald Ressourcen brauchen, um China entgegenzutreten, kann es sich die Allianz einfach nicht leisten, diese für einen offenen Konflikt mit Russland in Europa in Position zu bringen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Julia Melnykowa ist Programmkoordinatorin beim Russischen Rat für Internationale Angelegenheiten.
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