von Dagmar Henn
Über viele Jahre hinweg habe ich am Christopher Street Day (CSD) teilgenommen. Schon in den Anfangsjahren, als das noch kleine Demonstrationen ohne Kommerz und Lautsprecherwagen waren. Aber dieses Jahr würde ich nicht mehr gehen, selbst wenn ich nicht Tausende Kilometer entfernt wäre.
Und nein, das hat nichts mit den Affenpocken zu tun, die als großes Thema im Zusammenhang mit der Veranstaltung durch die Presse geistern.
Es hat zum Teil damit zu tun, dass diese Feste inzwischen inhaltlich absurd geworden sind, wenn das ganze Jahr unter dem Zeichen des L-Alphabets steht. Die Veranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe, waren widerständig und keine Affirmationsfeier der Regierungspolitik. CSD in Kindergärten ist nur noch absurd. Für Kinder genügt eine ganz simple Botschaft: Behandle jeden Menschen mit Respekt und ohne Vorurteile. Wer ihnen eine Liste präsentiert, schließt nur all jene aus, die nicht auf der Liste stehen, und wer in sexuelle Details geht, ignoriert die Phasen menschlicher Entwicklung.
Was mich regelrecht wütend macht, ist, was alles durch den L-Alphabetszirkus zum Verschwinden gebracht wird. Damals, in den Achtzigern, als es mit der Reproduktionsmedizin losging, war das ein Thema unter Feministinnen: dass es ein Gegenstück zum von Sigmund Freud postulierten Penisneid gibt, den Gebärneid, den Männern Frauen gegenüber hegen können. Der sich darin ausdrückt, dieses Wunder herabzuwürdigen und unter Kontrolle bringen zu wollen. Die Reproduktionsmedizin, künstliche Befruchtung außerhalb des menschlichen Körpers, war für uns ein Schritt in diese Richtung. Und auch ein Schritt in Richtung einer Kommerzialisierung der menschlichen Fruchtbarkeit.
Wenn ich heute von "stillenden Menschen" lesen muss und erklärt wird, diese Formulierung sei nötig, um eine winzige Minderheit von, was weiß ich, vielleicht 0,2 Prozent oder weniger womöglich stillender Transsexueller nicht auszuschließen und zu beleidigen, dann glüht die Altfeministin in mir vor Zorn. Weil der mühsam errungene Stolz auf die eigene Weiblichkeit schon wieder entsorgt wird. Weil im Gefolge dessen alle (in unserem Kulturkreis) weiblich konnotierten Eigenschaften wie Fürsorglichkeit wieder abgewertet und unsichtbar gemacht werden.
Und während Respekt auch vor Menschen mit Macken, gleich welchen, eine humanistische Selbstverständlichkeit ist und es im Bereich der Sexualität zwischen Erwachsenen nur dort Eingriffe geben sollte, wo der Wille einer Seite ignoriert wird, ist ständiger Exhibitionismus ein anderes Thema. Mein Nachbar darf im Bett machen, was er will und mit wem er will (zumindest, wenn es Erwachsene sind), er darf sich auch für eine Kaffeetasse oder einen Hund halten, aber ich will dabei nicht zusehen müssen. Ich will es nicht einmal zum Frühstück erzählt bekommen.
Eine Sexualität, die immer und überall präsent ist, egal, ob hetero oder homo oder irgend etwas dazwischen, ist keine mehr. Das war mir auch lange nicht klar. Erst ein Erlebnis mit einem afrikanischen Partner brachte mich da zum Nachdenken.
In München gab es schon in den 80ern einige Stellen im Englischen Garten, an denen man nackt in der Sonne liegen konnte. Das war allerdings kein Teil einer allgemeinen FKK-Kultur wie in der DDR, sondern eher so eine tolerierte Grenzüberschreitung, die interessanterweise auch die staatliche Parkverwaltung hinnahm. Ich war da gerne und ging mit meinem neuen Freund dorthin. Er aber schüttelte nur den Kopf und sagte, ihm würde die Lust vergehen, wenn er ständig nackte Menschen sehen müsste.
Negativ kennt man das auch, aus der Reaktion mancher arabischer Männer, die nur verhüllte Frauen kennen und auf die normale westliche Kleidung reagieren, als wäre sie ein sexuelles Signal. Ich hatte in einem Text vor einigen Tagen geschrieben, dass jede Kultur irgendeine Schamgrenze hat, diese aber durchaus in einer Schnur um die Hüfte bestehen kann.
Die Funktion dieser Schamgrenze ist die Trennung des Sexuellen von der Öffentlichkeit. Das, was in den vergangenen Jahren passiert ist, überschreitet nicht nur die vorhandenen Schamgrenzen, ohne neue zu setzen (das L-Alphabet verlängert sich von Jahr zu Jahr), es wird schon das Bestehen auf einer Schamgrenze zum Kennzeichen einer reaktionären Gesinnung erklärt.
Wenn inzwischen immer mehr Jugendliche der Überzeugung sind, sie seien transsexuell, dann ist das nicht das Ergebnis einer Befreiung, sondern im Gegenteil einer immer weiter fortschreitenden Verengung des sozialen Begriffs des Geschlechts, die sich genau an der Verlängerung der Buchstabenkette festmachen lässt. Weil zu der biologischen Information Männchen oder Weibchen immer mehr Details hinzugefügt werden müssen, so getan wird, als sei die sexuelle Orientierung notwendigerweise festgelegt (was sie gerade in der Adoleszenz selten ist) und müsse als Kennzeichnung nach außen getragen werden. Eine Abweichung von der starren Vorstellung, die über die biologischen Geschlechter gestülpt wird, löst dann sofort den Zwang aus, sich unter einen passenden Buchstaben einzusortieren.
Gleichzeitig entsteht so etwas wie eine ins Endlose verlängerte Pubertät. Denn eigentlich ist nur in dieser Lebensphase die Sexualität etwas so Beherrschendes, wenn sie noch etwas Neues, Unerkundetes im Leben ist und man selbst noch nicht so richtig weiß, wie diese Gefühle mit dem sonstigen Ich zusammenpassen. Später im Leben treten eigentlich andere Dinge in den Vordergrund. Kinder beispielsweise. Oder Politik. Oder beides.
Natürlich ist es praktisch, wenn sich die ganze Gesellschaft laut und ausführlich mit Sexualität beschäftigt. Das hält sie davon ab, andere Dinge zu betrachten oder zu begreifen. Je mehr Menschen sich mit der Buchstabenliste befassen, desto weniger beschäftigen sich mit den konkreten sozialen Missständen im Land oder gar mit den Hintergründen des militärischen Konflikts, dessentwegen sie im Winter frieren sollen. Und nachdem selbst die Äußerung, das sei alles nicht so wichtig, schon mit dem Etikett "Transphobie" versehen wird und dieses Etikett allen signalisiert, wer brav ist, findet das ganz wichtig, funktioniert das auch.
Aber im Hinterkopf regt sich bei mir die Vermutung, dass die Absichten hinter diesem Regenbogenschwall noch ganz andere sein könnten als die schlichte Ablenkung und das Festhalten im Zustand des Heranwachsenden. Und da trifft die Wut über die abermalige Auslöschung des Weiblichen mit der Reproduktionsmedizin zusammen.
Die ist inzwischen ein gigantisches Geschäft, länderübergreifend. Sei es die künstliche Befruchtung selbst oder sei es das Leihmutterschaftsgewerbe. Bei beiden liegen die Kosten in den Zehntausenden. Die konventionelle Form der Zeugung kostet – nichts.
Der Grund für künstliche Befruchtung ist meist das Alter der Eltern. Bei beiden Geschlechtern lässt die Fruchtbarkeit mit dem Alter nach, das biologisch beste Alter für Frauen, Kinder zu bekommen, liegt zwischen 20 und 25. Männer haben oft nicht mehr genug lebensfähige Spermien. Das Alter, in dem Frauen durchschnittlich das erste Kind bekommen, liegt in Deutschland aber inzwischen über 30. Das ist einer der Gründe für die niedrige Geburtenrate. Der andere ist die politische Entscheidung, Menschen bei der Entscheidung, Kinder zu haben, möglichst wenig zu unterstützen, weil es billiger ist, fertige Arbeitskräfte von andernorts zu importieren.
Wenn jetzt eine ganze Generation in der Phase des Heranwachsens durch das L-Alphabet zu einer vorzeitigen Fixierung geschlechtlicher Identität gezwungen wird (was letztlich heißt, die Experimentierphase wird in einem Zwischenzustand versteinert) und dem Ganzen brav folgt, bis sie irgendwann doch zu großen Teilen feststellen, Kinder zu wollen (sofern sie nicht gleich der grünen Ideologie anheimfallen, dass Kinder CO₂-Schädlinge sind), wenn sich also der menschliche Wunsch auf, wenn nicht Unsterblichkeit, dann doch Nachkommenschaft mit großer Verzögerung bemerkbar macht – dann hat sich der Markt für die Reproduktionsmedizin noch einmal ausgeweitet.
Und es gibt so viele Fantasien bei den Betreibern dieses Gewerbes. Eigentlich würden sie gerne die Produkte vorselektieren können. Oder entscheiden dürfen, wer sich vermehren darf oder wer nicht. Das gibt es alles. In Indien führte die Möglichkeit, das Geschlecht des Kindes vor der Geburt zu erkennen, über Jahre hinweg zu einem enormen Überschuss an männlichen Geburten. Die weiblichen Embryonen wurden schlicht abgetrieben.
Mein einziges Erlebnis mit dieser Sparte der Medizin hatte ich in der Schwangerschaft mit meinen Zwillingen. Ich war fast 40, daher wurde mir geraten, die Nackenfalten der Babys untersuchen zu lassen, um ausschließen zu können, dass eines der beiden Trisomie 23 hat. Also ging ich hin, wartete einige Stunden und machte die Untersuchung. Danach gab es ein Gespräch mit dem zuständigen Arzt. Der machte nicht nur eine mathematisch falsche Berechnung für das Risiko einer Fruchtwasseruntersuchung (kann eine Fehlgeburt auslösen), die er mir trotz eines negativen Ergebnisses andrehen wollte; als ich dann sagte, die daraus zu erhaltende Information sei nutzlos, weil ich doch schlecht einen Zwilling abtreiben und den anderen behalten könne, erklärte er nur, inzwischen ginge das.
Seine Wahrnehmung für den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Entscheidung, Kinder zu haben, eine Schwangerschaft auszutragen oder nicht, und einer Selektion zwischen unterschiedlichen Kindern war gleich null. Während die erste Entscheidung erst einmal mein eigenes Leben betrifft, heißt die zweite letztlich, dass ich die Bereitschaft preisgebe, ein Kind als die Person anzunehmen, die es ist. Aber diese Bereitschaft ist die Grundlage für die Liebe und Hingabe, die jedes Kind braucht.
Das Gewerbe der Reproduktionsmedizin ist ein einziges ethisches Minenfeld, mit sehr geringer Humanität. Und je mehr ein Kind zum Produkt wird, desto weniger Raum bleibt für seine Entwicklung. Die entsprechende Haltung findet sich schon in der Gesellschaft. Aber am ausgeprägtesten in der Reproduktionsmedizin.
In diesem Zusammenhang kommt mir auch die eigenartige Entwicklung der Geburtenrate im letzten Jahr in den Sinn. Weil sie wirklich ungewöhnlich ist. Die bisher verzeichnete Reaktion auf Phasen des Eingeschlossenseins ist ein Steigen. In New York gab es einmal einen Stromausfall, den man in der Geburtenrate wiederfinden konnte. Wenn viele Menschen über Wochen zu Hause sind, sollte die Zahl der Geburten neun Monate später steigen. Tatsächlich ist sie gesunken.
Wenn es sich dabei nicht um eine Folge des deutschen Impfstoffs handelt, dann belegt diese Zahl, wie tief dieses Land schon in der normalen Sexualität verunsichert ist (normal meine ich jetzt im statistischen Sinne). Ist es wirklich unvorstellbar, dass das ganze ideologische Theater des L-Alphabets einem Verwertungsinteresse folgt? Als die endgültige Befreiung einer männlichen Medizin vom Gebärneid durch völlige Kontrolle über die menschliche Reproduktion? Mit dem günstigen Nebeneffekt, dadurch aus einem kostenlosen, natürlichen Akt eine Quelle weiterer Gewinne zu schaffen?
Damals, als die ersten Retortenbabys geboren wurden, noch vor der Einführung von Ultraschallgeräten, die gut genug waren, das Geschlecht vor der Geburt zu bestimmen, gab es eine Enquetekommission des Bundestags zu den ethischen Risiken der Gentechnik. Ich habe damals alle fünf Bände gelesen und daraus die Konsequenz gezogen, dass auf dem ganzen Gebiet äußerste Vorsicht geboten sei. Die Schwelle zum Inhumanen ist auf diesem Gebiet schnell überschritten. Die Versuchung, Menschen nach Maß zu produzieren, ist zu groß.
Seitdem ging die Entwicklung weitgehend ungebremst weiter, auch wenn es in Deutschland noch Beschränkungen für die Selektion von Embryonen gibt. So etwas wie die L-Alphabetbewegung ist ein möglicher Hebel, diese Beschränkungen zum Verschwinden zu bringen. Schließlich könne man einer Person irgendeines Buchstabens aus diesem Alphabet doch nicht abschlagen, im Falle eines Kinderwunsches ein Kind desselben Buchstabens zu erhalten ... Wenn es schon Frauen mit Penis gibt und stillende Personen, wo ist dann dieser Wunsch kritisch?
Meine Töchter wissen zwar, dass ich mir Enkelkinder wünsche, aber sie wissen auch, dass ich sie nie ablehnen werde, gleich, welchen Partner oder welche Partnerin sie sich wählen (gut, politisch gibt es da einige Grenzen ...). Aber es graust mir, wenn ich zusehe, wie sie versuchen, sich in die L-Alphabet-Schubladen einzusortieren, und so tun, als wäre eine von der Mehrheit abweichende sexuelle Orientierung eine Errungenschaft und nicht einfach eine Tatsache, mit der man umgeht wie mit anderen Tatsachen. Ich merke, wie das ganze Affentheater die Entwicklung von Beziehungen (und auch das Erleben von Lust) erschwert. Und meine Nase, die mich in solchen Dingen selten getrogen hat, wittert dahinter ein Geschäft.
Darum gehe ich nicht mehr zum CSD.
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