von Igor Karaulow
Lech Wałęsa, der erste Präsident des postsozialistischen Polens, hat zur Zerstückelung Russlands aufgerufen. Seiner Meinung nach sollte die Bevölkerung Russlands auf 50 Millionen Menschen reduziert werden; man müsse dies so verstehen, dass im heutigen Russland kein einziges Staatsgebilde mit mehr als 50 Millionen Einwohnern verbleiben solle. In diesem Zusammenhang hat er ganze 60 Völker in unserem Land aufgezählt, die der "Befreiung" bedürfen.
Da man Polen selbst fünfmal geteilt hat, kann jeder Pole sachkundig und mit großem Vergnügen über die Teilung anderer Länder sprechen. Natürlich ist Wałęsa kein Pole von der Straße, eine Art Vater der Nation, aber auf der anderen Seite ist er ein Rentner und einfach ein alter Mann, sodass das Ausmaß seiner Verantwortung für seine Worte recht gering ist. Er ist genau der richtige Mann, um Versuchskaninchen zu züchten – wie der amerikanische Kissinger. Zumal er nicht der Einzige ist, der jetzt über ähnliche Dinge spricht.
Die Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa veranstaltete in den Vereinigten Staaten eine Diskussion mit dem Titel "Decolonisation of Russia: A Moral and Strategic Imperative". Jeden Augenblick könnte dieses Thema zur globalen Agenda werden und alle westlichen Glocken werden läuten: "Dekolonialisierung, Dekolonialisierung!
Weil es sehr kompliziert ist, Russland militärisch zu besiegen, ist die "Dekolonialisierung Russlands" in erster Linie eine geistige und kulturelle Aufgabe. Im Grunde genommen wurde diese Methode bei der Bekämpfung der Sowjetunion perfektioniert. Erforderlich ist die Ausbildung von nationalistisch gesinnten Intellektuellen. Diese sollte der Bevölkerung einreden: Unser Volk ist besser als die anderen Völker und vor allem besser als die Russen; wir hatten ruhmreiche Vorfahren und eine heldenhafte Geschichte; die Russen haben uns jahrhundertelang unterdrückt, sie brachten uns um unseren Platz in der Welt; wären es nicht die Russen gewesen, wären wir jetzt eine zweite Schweiz oder ein zweites Singapur.
Dann kommen die Leute, die eigennützige Interessen der Betroffenen ansprechen. Schaut, sagen sie, das Zentrum beraubt euch. Euer Weizen, Erdöl, eure Kohle und Mandarinen bereichern irgendwelche weit entfernten Fremden, während all dies euch und nur euch gehören könnte. Daraufhin zerbrechen die menschlichen Beziehungen verschiedener Nationalitäten und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Regionen des gemeinsamen Landes lösen sich auf. Und schließlich erfreuen sich der Westen und die transnationalen Unternehmen der politischen Desintegration.
Doch die "Dekolonialisierung" Russlands würde viel mehr Kreativität erfordern. Wałęsa spricht von 60 Völkern, aber es gibt in Russland lediglich 27 nationale Gebietseinheiten, in denen man theoretisch versuchen könnte, das Beispiel des Zusammenbruchs der UdSSR nachzuahmen. Folglich existieren Pläne, Grenzen innerhalb des russischen Ethnos als solches zu ziehen – damit die Russen gegen die Russen vorgehen.
Wie kann diese Aufgabe angegangen werden? Man rufe sich das alte deutsche Projekt des Staates "Kosakia" in Erinnerung. Die Aufgabe: die Bewohner der historischen Gebiete der Kosaken davon zu überzeugen, dass sie keine Russen sind, dass sie besser, sauberer und verständlicherweise auch innerlich freier sind als die Russen. Dabei ist es egal, ob die Bevölkerung an diesen Orten längst durchmischt ist und es gar nicht mehr so viele echte Kosaken gibt (67.000 laut der Volkszählung von 2010). Es genügt, eine abgesonderte Selbstidentifikation in Mode zu bringen, und es bilden sich Warteschlangen für Hosen mit Streifen.
Oder nehmen wir Sibirien als Beispiel. Dort gibt es auch einige Tausend Menschen, die sich als sibirische Staatsangehörige betrachten. Das heißt, dort liegt ein Vermögenswert, den sich "Dekolonialisierer" theoretisch zunutze machen können. Und dann ist der Prozess am Laufen. Freiheit der Ingermanlandia (das ist das Gebiet Leningrad), Freiheit dem russischen Norden, es lebe die Ural-Republik. Dabei ist es nicht weiter schlimm, dass die hypothetischen neuen Staaten keine eigenen Sprachen haben. Man kann eine neue Sprache immer ausdenken, wie der "sibirische Dialekt", der zunächst zum Spaß erfunden wurde, sich dann aber zum Seriösen entwickeln kann. Wie die Erfahrung aus der Ukraine zeigt, die als Vorbild aller antirussischen Dekolonialisierer dient, ist es mit politischer Macht und Beharrlichkeit möglich, eine Sprache aufzuzwingen, an der die Mehrheit kein Interesse hat.
All dieses Gelaber sind feuchte euroatlantische Träume von Dekolonialisierung, die den Pelzmantel eines nicht geschlachteten Russlands teilen. Allerdings ist die Dekolonisierung eine zweischneidige Waffe. Es wäre interessant, mit dem scharfen Auge eines Metzgers die Aussichten einer dekolonialen Zerlegung der europäischen Schlachtkörper zu betrachten. Über Großbritannien braucht man gar nicht viel zu sagen, denn dort sind die Trennlinien klar erkennbar. Schottland sehnt sich bereits nach einem neuen Referendum, welches das Land unabhängig machen würde. Das Schicksal Nordirlands ist auch prinzipiell klar: Die Insel soll politisch geeint sein, denn es macht keinen Sinn, sie geteilt zu sehen.
Jeder kennt die Probleme Spaniens mit den Separatisten aus Katalonien und dem Land der Basken. Belgien ist ein künstliches Gebilde mit einem fiktiven Namen, und die Flamen mit den Wallonen ächzen unter dem Joch des Brüsseler Regimes. Das kleine Dänemark sollte damit aufhören, das große Grönland zu unterdrücken. Und schließlich, wenn man Italien aus der dekolonialen Perspektive betrachtet, ist es kein Land, sondern ein Frankenstein-Monster aus Fetzen, in dem Nord- und Süditaliener praktisch unterschiedliche Sprachen haben.
Man glaubt daran, das ideale mono-ethnische Land – Deutschland. Betrachtet man jedoch genau, so findet man unter der Schafsmaske des Nationalstaates einen echten imperialen Wolf. So hat Bayern das Recht, weil es als letztes aller Länder in das Deutsche Reich eingegliedert wurde, eine eigene Staatlichkeit zu haben: Die Menschen dort grüßen und kleiden sich anders. Sobald aber Bayern seine Unabhängigkeit erlangt, könnte sofort der Gedanke an eine weitere Dekolonialisierung aufkommen, denn einige Teile Bayerns gehören historisch gesehen zu Franken, andere zu Schwaben. Dieser faszinierende Prozess ließe sich beliebig fortsetzen.
Kurz gesagt, den Westmächten ist zu raten, nicht mit der Dekolonialisierung zu spielen, da sie sonst selbst ohne Hosen dastehen könnten. Aber am Ende des Tages interessiert uns ihr Schicksal nicht wirklich. Wir müssen begreifen, dass die Pläne zur Zerstückelung Russlands nicht einfach nur Träume verehrter alter Russophoben sind. Es ist etwas, was der Westen tatsächlich sehr wünscht. Deshalb müssen wir uns ernsthaft mit all jenen befassen, die innerhalb des Landes eine "dekoloniale" Rhetorik pflegen.
Keinesfalls sollten wir den Fehler der Sowjetunion begehen, wo republikanische Akademien und Schriftstellerverbände Nationalisten und Separatisten auf Kosten des Staates förderten. Russland hat nur als geeinter und unteilbarer Staat eine Zukunft.
Übersetzt aus dem Russischen
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