von Dagmar Henn
Inzwischen wurde bekannt, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij den Befehl erteilt hat, die Städte Slawjansk und Kramatorsk im Donbass um jeden Preis zu halten. Selbst in den Ort Sewersk, der inzwischen in russischer Hand ist, wurden in den letzten Tagen noch zusätzliche Truppen geschickt. Es zeichnet sich in jeder Hinsicht eine Wiederholung des Dramas von Mariupol ab.
Schon dieses hätte bei Deutschen, die rudimentäre Geschichtskenntnisse besitzen, heftigste Erinnerungen wecken müssen. Erst wurden die Truppen in Mariupol nicht abgezogen, solange noch Zeit dafür war, dann wurde nicht einmal versucht, sie zu entsetzen, dann wurde der Kessel aufgeteilt und schrittweise ausgeräumt, aber immer noch erhielten sie den Befehl, ihre Stellung, die längst auf ein kleines Industriegebiet, Asow-Stahl, begrenzt war, bis zur letzten Patrone zu halten. Zu einem Zeitpunkt, als die Niederlage dort längst feststand.
Mariupol dürfte mindestens 10.000 ukrainische Soldaten das Leben gekostet haben, ohne jeden militärischen Nutzen. Sie wurden geopfert, um heroische Geschichten durch die Medien jagen zu können, nichts weiter. Das war ein erschütterndes Zeichen absoluter Menschenverachtung, selbst den eigenen Leuten gegenüber. Das Gleiche wiederholte sich in etwas kleinerem Maßstab in Sewerodonezk und Lissitschansk, wo sich Selenskij weigerte, dem Verlangen des Generalstabs nachzukommen, Truppen zurückzuziehen.
Natürlich gibt es Situationen, in denen Rückzug oder Aufgabe unmöglich sind. Im Kampf um Madrid im Jahr 1936 beispielsweise war klar, dass der Krieg verloren wäre, wenn es Francisco Franco gelänge, die Hauptstadt zu erobern. In Leningrad war die Alternative zum Standhalten der Untergang; der Generalplan Ost sah die Zerstörung der Stadt vor. Aber das sind ganz klar identifizierbare Situationen.
Die Situation im gesamten Donbass war und ist eine völlig andere. Die Bewohner dieser Region hatten 2014 sehr deutlich dafür gestimmt, sich von einer der Bandera-Ideologie verfallenen Ukraine zu lösen. Eine Rückeroberung (bzw. Wiederbesetzung) des gesamten Donbass durch ukrainische Truppen ist absolut utopisch; solche Pläne waren schon gescheitert, ehe die russische Armee überhaupt im Spiel war.
Krieg, sagte schon Carl von Clausewitz, ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das Militär ist ein Werkzeug, um politische Ziele zu erreichen. Da es keine militärische Handlung gibt, die nicht Menschenleben in Gefahr bringt, auch auf der eigenen Seite, sind Militärs normalerweise darauf bedacht, ihre Truppen sparsam zu verwenden. Selbst, wenn dem nicht der Respekt vor menschlichen Leben zugrunde liegen sollte – das zur Verfügung stehende Personal ist nicht unerschöpflich, schon gar nicht, wenn es um die besser ausgebildeten Teile geht. Daher besteht das erwartbare Verhalten darin, Stellungen, die keinen militärischen Nutzen bringen (was letztlich heißt, die die Verwirklichung des politischen Ziels nicht voranbringen), aufzugeben und die Truppen abzuziehen.
Wenn Truppen eingeschlossen sind und die Niederlage bereits feststeht, heißt das normale Verhalten Kapitulation. Auch das ist eine rationale Entscheidung. Selbst Soldaten in Gefangenschaft könnten ausgetauscht werden und wieder zur Verfügung stehen. Tote nicht.
Nun sollten eigentlich gerade die Deutschen viel Empathie für die ukrainischen Truppen aufbringen; schließlich haben sie ausgiebige Erfahrung damit, tapfer für eine schlechte Sache zu kämpfen und von der eigenen Führung verheizt zu werden. Das müsste im historischen Gedächtnis auf der obersten Ebene liegen, schließlich geht es um die größte Schlacht der Menschheitsgeschichte, deren Beginn sich übrigens vor einigen Tagen erst jährte. Die Rede ist von Stalingrad.
Als die Niederlage der Hitlerarmee in Stalingrad längst besiegelt war und die dortigen Truppen ohne jede Hoffnung auf eine Ausbruch oder eine Entsetzung eingeschlossen waren, befahl das Wehrmachtkommando dem kommandierenden General Friedrich Paulus, bis zum letzten Mann weiterzukämpfen. Die Stadt war längst ein Ruinenfeld, die Reste der Truppe waren halb erfroren und ohne Nahrung, aber das Berliner Hauptquartier bestand auf einer Fortsetzung der Schlacht. Für Paulus war das der Wendepunkt. Er verweigerte diesen Befehl, die Einheiten kapitulierten und begaben sich in Gefangenschaft, und Paulus arbeitete danach im Nationalkomitee Freies Deutschland an einem Deutschland ohne Nazis.
Von den 110.000 deutschen Soldaten, die sich in Gefangenschaft begaben, überlebten nur wenige Tausend. Das lag allerdings nicht an der Behandlung durch die Sowjetunion, sondern daran, dass sie zum Zeitpunkt der Gefangennahme schon halb verhungert waren, an Erfrierungen und Seuchen litten und zu Fuß marschieren mussten, weil die deutsche Luftwaffe alle Bahnverbindungen zerstört hatte. Etwa eine halbe Million Deutscher hätte insgesamt überleben können, wenn die Wehrmachtsführung rechtzeitig erkannt hätte, dass die Schlacht um Stalingrad verloren ist (ganz zu schweigen davon, dass alle sechs Millionen deutsche Soldaten überlebt hätten, wenn der Krieg niemals begonnen worden wäre).
Sie haben gut für eine schlechte Sache gekämpft, aber sie waren Söhne, Väter, Brüder. Das Ereignis hätte sich ins Gedächtnis eingraben müssen. Da müsste Trauer sein um die verlorenen Leben, aber ebenso Zorn über die politische und die militärische Führung, die so nutzlos Menschen verheizt, und Zorn gegen alle, die davon profitiert haben. Und Trauer über diese entsetzliche Bereitschaft, sich in die Irre führen zu lassen.
All das müsste an die Oberfläche sprudeln, sobald irgendeine Situation daran erinnert. Aber das passiert nicht. Wochenlang wurde über Mariupol berichtet, aber niemand unter den Berichterstattern oder gar unter den Politikern stutze ob der Parallelen. Weil nicht Hunderttausende an Soldaten involviert waren, sondern nur Zehntausende? Das ändert nichts an der Bewertung einer Situation; auch ein Mini-Stalingrad müsste erkannt werden können.
Aber das heutige Deutschland ist die Fortsetzung der Westrepublik, und alles, was das andere Deutschland an Aufarbeitung, an Wahrnehmung geleistet hatte, wurde mit ihm begraben. Es gab nur ein kurzes Zeitfenster vor der Gründung der Bundesrepublik, in den Jahren, die auch so etwas wie das Ahlener Programm der CDU hervorbrachten, das eine Vergesellschaftung von Konzernen forderte, in denen Raum für eine wirkliche Wahrnehmung der Ereignisse gelassen wurde. Spätestens 1951 war Schluss damit.
Schließlich sollten Generäle der Wehrmacht bald schon wieder Positionen in Bundeswehr und NATO besetzen. Raum für Zorn über den Verrat, den das Wehrmachtskommando an den Soldaten im Kessel von Stalingrad verübt hatte, konnte da nicht bleiben. Selbst die Wahrnehmung, dass für eine schlechte Sache gekämpft worden war, war unmöglich in einem Staat, dessen Verwaltung sich aus den Nazibeamten rekrutierte. Echte, wirkliche Trauer über die verlorenen Söhne, Väter und Brüder ist ohne all diese anderen Aspekte aber ebenfalls nicht möglich. Die Toten von Stalingrad bleiben unbeweint.
Wenn man an die Auseinandersetzungen um die Ausstellung zu Verbrechen der Wehrmacht zurückdenkt, kann man sehen, wie tief diese Tabus sitzen. Als die Ausstellung 1997 nach München kam, hieß es im Bayernkurier, dem Zentralorgan der CSU: "Es geht also den Veranstaltern darum, Millionen von Deutschen die Ehre abzusprechen" (Florian Stumfall: "Wie Deutsche diffamiert werden", Bayernkurier, 22. Februar 1997). Schon um die Möglichkeit, auszusprechen, dass es ein Kampf für die falsche Sache war, musste noch da gerungen werden.
Man kann auch um Menschen trauern, die Verbrechen begangen haben. Warum? Weil jeder Mensch bis zum letzten Atemzug die Möglichkeit in sich trägt, sich zu ändern und zu lernen. Wir besitzen diese Fähigkeit in einem Ausmaß, wie kein Tier sie besitzt; sie macht uns menschlich. Mit dem Ende jedes Lebens endet auch diese Möglichkeit, und es ist Grund zur Trauer, wenn sie sich nie entfalten konnte.
Wäre der größere Teil Deutschlands nicht nach 1945 wieder unter die Knute der alten Herren geraten und wäre der kleinere nicht von ihm verschlungen worden, jeder Deutsche würde diese Art der Trauer kennen. Er würde sie wieder empfinden, wenn sich Ähnliches ereignet. Er würde verstehen, was in Mariupol geschehen ist, und was in Slawjansk und Kramatorsk aller Voraussicht nach wieder geschehen wird. Er würde Trauer um die Ukrainer empfinden, die nutzlos gestorben sind, und Zorn über eine politische Führung, die derart mit ihren eigenen Landsleuten umgeht.
So spielt sich die ukrainische Tragödie ab, ohne dass das deutsche Publikum die Tragik erkennt. Es darf nicht einmal den Kampf für die falsche Sache erkennen; Tag für Tag wird ihm etwas von der territorialen Integrität der Ukraine vorgebetet, ohne dass er erfahren darf, dass die Minsker Vereinbarungen einen friedlichen Weg genau dafür ermöglicht hätten, sieben Jahre lang, ohne dass die Kiewer Regierungen nur einen Fuß auf diesen Pfad gesetzt hätten. Wer diese Vereinbarungen kennt, weiß, dass in der Ukraine zwar ukrainische Truppen kämpfen, aber nicht für die Ukraine. Der Befehl, Slawjansk und Kramatorsk um jeden Preis zu halten, belegt es ein weiteres Mal, und es wurde im Westen auch schon offen ausgesprochen: Das Ziel des Krieges ist es, Russland zu schwächen. Und wie viele ukrainische Soldaten noch für dieses Ziel sinnlos geopfert werden, ist dem ganzen kollektiven Westen gleich.
Das ist unmenschlich, widerlich und traurig. Mit jedem Tag mehr, an dem längst verlorene Schlachten ausgetragen, ein längst verlorener Krieg fortgesetzt werden. Vielleicht findet sich noch ein ukrainischer Stauffenberg, der eine Aktentasche für Selenskij übrig hat; womöglich muss das Drama bis zur polnischen Grenze ertragen werden. Aber eines ist klar – eine Ukraine, die aus ihrem Bandera-Koma erwacht ist, wird dem Westen dieses Verbrechen nicht vergeben. Ganz gleich, ob sie als eigener Staat oder als Teil der Russischen Föderation weiterexistiert.
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