von Dagmar Henn
Im Verlauf der letzten Tage sind mehrere Kommentare erschienen, die unheimlich sind. Sie gehen nicht nur in die gleiche Richtung; sie verteilen sich auf drei Länder und erschienen jeweils in Medien, die eine gewisse Bedeutung haben.
Die Medien, die gemeint sind, sind das US-Magazin Foreign Affairs, das vom Council on Foreign Relations, der zentralen Denkfabrik der US-Außenpolitik, herausgegeben wird; der britische Guardian, der die Sicht britischer Liberaler stets am deutlichsten wiedergibt, und die deutsche TAZ, das rotgrüne Zentralorgan.
Der TAZ-Artikel erschien als letzter in der Reihe, im Ableger Futur zwei. Autor ist Udo Knapp, den die TAZ schlicht einen Politologen nennt. Knapp ist Jahrgang 1945, war der letzte Vorsitzende des historischen SDS, Mitarbeiter von Ströbele und später von Schily, mit dem er in die SPD wechselte. Das Neue Deutschland beschrieb ihn 1996 als einen, "für den Pragmatismus zum Glaubensbekenntnis wurde, der - wichtiger noch - das Westsystem aus dem Effeff kennt, der tricksen kann, sich durchsetzen, oft hemdsärmelig und brutal." Eine bedeutende, öffentlich sichtbare politische Position hatte er nie, das ist aber bei Strippenziehern der Normalfall, sie agieren im Hintergrund. Knapp dürfte selbst in seinem fortgeschrittenen Alter immer noch über beste Verbindungen in die grüne und sozialdemokratische Spitze verfügen.
Noch weit interessanter als die Frage, wer den Text verfasst hat, ist die Tatsache, dass er erschienen ist. Unter der Überschrift "Gibt der Westen auf" erklärt er, "trotz der Bereitschaft der Ukrainer, ihren Abwehrkampf bis zu seiner vollständigen militärischen Niederschlagung fortzuführen, hat der Westen die Ukraine in ihrer heutigen Gestalt faktisch schon aufgegeben." Hintergrund ist natürlich die Tatsache, dass das Ergebnis des Konflikts in der Ukraine militärisch im Grund bereits feststeht. Hier seine Konsequenz daraus:
"So ist nicht auszuschließen, dass der Westen von Russland irgendwann und irgendwie in einen dann nur noch durch Selbstaufgabe vermeidbaren Krieg zur Verteidigung der westlichen Freiheiten hineingezwungen werden kann. In einen Krieg, der viel größere Opfer fordern würde, als in dem noch regional begrenzten Krieg in der Ukraine heute täglich zu beklagen sind. Vermeiden kann der Westen diese Entwicklung nur, wenn er sich dazu durchringen würde, mit eigenen Bodentruppen an der Seite der ukrainischen Armee die völkerrechtswidrig eingedrungenen Armeen Putins hinter die Grenzen Russlands zurückzutreiben.
Zu einem solchen Vorgehen ist es immer noch nicht zu spät."
Man liest richtig. Hier wird eine direkte Beteiligung der NATO am Krieg in der Ukraine gefordert. Im Hausblatt des rot-grünen Geflechts. Unverhüllt. Dass die TAZ diesen Text veröffentlicht, ist Beleg dafür, dass solche Überlegungen in den zugehörigen politischen Kreisen bereits stattfinden.
Aber da ist ja noch mehr. Einen Tag davor erschien im Guardian ein Kommentar seines außenpolitischen Chefkommentators Simon Tisdall. Er fasst die Entwicklungen in Europa und den USA zusammen, die ökonomische Misere, die politischen Folgen. "Während die Instabilität wächst, wird das Auseinanderlaufen der USA und Europas den Druck erhöhen, den Kurs zu ändern."
Einen Kompromiss, einen Tausch Land gegen Frieden, lehnt er ab. "So ein Handel wäre eine Katastrophe, die quer durch den Kontinent und selbst global einen Präzedenzfall schaffen würde. Man denke nur Taiwan." Nicht, dass diese Position sonderlich überrascht; sie wurde ja wie ein Mantra von diversen westlichen Staatsoberhäuptern, Olaf Scholz eingeschlossen, wiederholt. Kein Diktatfrieden. Was die Realitäten komplett verleugnet, denn in einem Krieg ist es der Sieger, der die Bedingungen festlegt, nicht der Verlierer; aber das ist eben der Kern der ganzen Argumentation, die Weigerung, eine Niederlage auch nur zuzugeben.
Tisdall hat eine andere Lösung: "Glücklicherweise gibt es eine Alternative: die überwältigende Macht der NATO zu nutzen, um die militärischen Gezeiten zu wenden." Er beteuert, das sei keine Entscheidung für einen dritten Weltkrieg. "Es ist der einzig gangbare Weg, um diesen eskalierenden Schrecken schnell zu beenden und gleichzeitig sicherzustellen, dass Putin und jene, die ihm folgen mögen, nicht von gesetzlosem Gemetzel profitieren."
Unübersehbar, Tisdall trieft vor Überheblichkeit. Der ganze militärisch-industrielle Komplex der Vereinigten Staaten lebt, samt all seiner Lakaien in sämtlichen Parlamenten, von nichts anderem als gesetzlosem Gemetzel. Die ganze NATO ist eine kriminelle Vereinigung zur Verübung gesetzlosen Gemetzels. Aber das ist der Guardian, da ist klar, für wen geschrieben wird.
"Genug mit halben Maßnahmen und Gezauder! Die NATO sollte jetzt handeln, um Putins marodierende Horden hinter Russlands anerkannte Grenzen zurückzutreiben."
Man achte auf die Formulierung. "Russlands anerkannte Grenzen" bedeutet in NATO-Sprech die gewaltsame Eroberung der Krim. Tisdall fordert also nicht nur einen Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine, sondern zusätzlich einen Angriff auf die Krim.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, selbst zwei nicht, bleibt also noch der dritte Artikel. Hier reden wir von der bedeutendsten Publikation in der Umgebung der US-Außenpolitik. Auch dieser Artikel geht, wie die beiden anderen, zumindest von der realistischen Wahrnehmung aus, dass die Ukraine nicht gewinnen kann. Und sucht dann nach Wegen, wie die NATO sich doch massiver einmischen könnte, ohne einen direkten Konflikt mit Russland auszulösen: "Die Geschichte zeigt, dass die NATO nur dann waghalsig einen Krieg riskieren würde, wenn sie zwei russische rote Linien überschreitet: offenes Feuer auf russische Truppen oder der Einsatz organisierter Kampfeinheiten unter der Flagge von NATO-Mitgliedern in der Ukraine." Solange diese Linien nicht offenkundig überquert würden, könnte die NATO ihre Unterstützung der Ukraine weiter ausweiten.
Es gibt sogar durchaus kluge Gedanken in diesem Text. "Interessen allein entscheiden nicht darüber, wer den Vorteil hat, wenn beide Seiten einen Krieg vermeiden wollen. Statt dessen liegt der Vorteil bei der Seite, die die andere in die schwierige Lage bringen kann, zwischen einer Eskalation und der Annahme einer begrenzten Niederlage zu wählen." Das Problem ist nur, dass er die Rollen falsch verteilt.
Nach einer Aufforderung, sowohl die Waffenlieferungen als auch die Sanktionen weiter zu verstärken, kommt er auf eine vermeintlich schlaue Lösung: "die Lieferung ausländischer Freiwilliger – eine Strategie, die die NATO weitgehend vernachlässigt hat. (…) NATO-Mitglieder sollten ihre Soldaten und Veteranen, die bereit sind, für die Ukraine zu kämpfen, ermutigen, ausrüsten und finanzieren. Um das Risiko eines Krieges mit Russland zu begrenzen, würden diese Soldaten in ukrainischen Uniformen in der ukrainischen Befehlskette kämpfen."
Die Bereitschaft dazu dürfte beim entsprechenden Personal angesichts der Prozesse gegen Söldner in Donezk nicht allzu groß sein. Schließlich stellt man sich schon jetzt angesichts der Biografien einiger Angeklagter die Frage, ob sie nicht in offiziellem Auftrag dort waren; insbesondere die britische Regierung könnte einigen das Leben retten, wenn sie Entsprechendes eingestehen würde; aber sie lässt sie lieber in Donezk auf ihre Hinrichtung warten. Damit ist schon vorgespielt, was solche "ausländischen Freiwilligen" von ihren eigenen Regierungen zu erwarten hätten.
Altman fantasiert weiter: "Ein wachsender Strom ausländischer Freiwilliger würde Russlands Berechnung über den Haufen werfen, dass es einen langen Krieg gewinnen könnte.(...) Um Risiken zu verringern, sollte die NATO klein anfangen und mehr auf Erfahrung als auf Menge setzen. Russland wird zögern, einen nicht zu gewinnenden Krieg gegen die NATO wegen ein paar hundert mehr Freiwilligen anzufangen, die in der Ukraine kämpfen – selbst wenn sie gezielt von NATO-Regierungen organisiert wurden. Wenn Russland deren Einsatz schweigend akzeptiert, wird es ihm schwer fallen, die nächsten Hunderte abzuschrecken, die schrittweise zu den nächsten Tausenden werden."
Altman irrt an einigen entscheidenden Punkten. Erstens ist die NATO aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt bereits aktiv involviert; so gibt es seit Jahren schon die Vermutung, dass die ukrainische Artillerie von den USA mit Zielkoordinaten beliefert wird, und es stellt sich die Frage, ob die HIMARS-Systeme nicht mitsamt Bedienmannschaft geliefert werden. Und man erinnere sich nur an die Mitteilungen über die Insassen von Asow-Stahl. Über all die Jahre hinweg gab es immer wieder unbestätigte Meldungen über die Ergreifung des einen oder anderen NATO-Offiziers. Diese Fälle wurden stillschweigend irgendwie gelöst. Aber dafür gibt es keine Zwangsläufigkeit. Ganz zu schweigen davon, dass sich Russland an rote Linien halten müsste, die ein US-Amerikaner festlegt.
Im Gegenteil ist es jetzt schon so, dass es völlig im Belieben der russischen Seite steht, wann sie welche Handlung als direkte Beteiligung wertet. Eine derart massive Entsendung von Söldnern, wie sie Altman vorschwebt (das könnte eine Andeutung sein, wie man die Polen ins Spiel bringen will), könnte durchaus als NATO-Angriff gewertet werden. Das entscheidet dann der russische Generalstab, nach Nützlichkeit.
Unabhängig vom Sinn oder Unsinn des Inhalts, dass in dichter Folge und geografisch verteilt Artikel erscheinen, die alle ein Eingreifen der NATO fordern, offen oder notdürftig verdeckt, belegt, dass solche Überlegungen tatsächlich stattfinden. Nicht innerhalb des Militärs – die dürften ihre verbliebenen Raketen gezählt haben und hoffen, dass der Kelch an ihnen vorübergeht. Aber in den politischen Eliten der NATO-Länder. Auch in Deutschland.
Wie schrieb Altman an der einen klugen Stelle seines Artikels? Der Vorteil liegt bei dem, der den anderen zwingen kann, zwischen Eskalation und der Annahme einer begrenzten Niederlage zu wählen? Der Westen sollte die begrenzte Niederlage annehmen. Wenn statt dessen die Vorstellungen der drei Autoren umgesetzt werden, wird sie nicht mehr begrenzt sein.
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