von Alexander Dawydow
Die sogenannte "Erinnerungskultur" war ein wesentlicher Bestandteil der außenpolitischen Strategie im Nachkriegsdeutschland. Weitsichtigen Staatsführern gelang es, die Bedeutung des Landes auf der internationalen Bühne schrittweise wiederherzustellen und strategische Ziele zu erreichen.
Ein Paradebeispiel dafür war die "Ostpolitik" von Bundeskanzler Willy Brandt, die auf der Idee der Buße und der Überwindung der Nachkriegsfeindschaft basierte. Die historische Aussöhnung zwischen Deutschland und der UdSSR wurde zur Grundlage für eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands – das Hauptziel der politischen Eliten des Landes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Für weniger begabte Politiker ist das historische Gedächtnis jedoch ein Handicap und eine Belastung. Deutschlands Ambitionen, in Europa eine Führungsmacht sein zu wollen, wecken in den Nachbarländern schmerzhafte Erinnerungen. Allerdings begrenzen historische Vereinbarungen, wie der Vertrag über die deutsche Wiedervereinigung, die militärische Entwicklungsfähigkeit – was dem Traum von Bundeskanzler Olaf Scholz, von der Schaffung "der stärksten Armee Europas" direkt entgegensteht. Heute passt das Bild einer friedliebenden Nation, die sich nach den Tragödien zweier Weltkriege umerzogen hat, nicht gut zu aktiven Waffenlieferungen an die Ukraine. "Dieser Krieg muss enden", forderte Scholz kürzlich in Kiew. Unterdessen werden auf der Webseite seiner Regierung regelmäßig die Informationen über bereits gelieferte und geplante Waffenlieferungen an die Ukraine aktualisiert. Das könnte man ein Paradoxon nennen.
Aber sehen wir uns einige der Rhetoriken genauer an, die derzeit aus Berlin kommen. Am 21. Juni, also am Vorabend des russischen Gedenk- und Trauertages zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, nannte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die technisch bedingte Reduzierung russischer Gaslieferungen "einen Angriff auf Deutschland". Währenddessen behauptete Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, dass "Russland den Hunger bewusst als Waffe einsetzt". Die tragische Ironie ist, dass hinter der Lüge von Baerbock eine traurige historische Wahrheit liegt: Mehr als vier Millionen Sowjetbürger sind während der Nazi-Besatzung verhungert.
Auf dem G7-Gipfel im vergangenen Monat forderte Scholz die Teilnehmer auf, einen neuen "Marshall-Plan" für die Ukraine auszuarbeiten und hat damit die Bedeutung dieses Plans ins Gegenteil gedreht, der nötig war, damit sich Deutschland und Westeuropa von den Schrecken des Faschismus erholen konnten. Man möchte meinen, die Politik der Erinnerung ist durch eine Politik der bewussten Amnesie ersetzt worden.
Der von Scholz Ende Februar ausgerufene "Epochenwechsel" bedeutet vorerst eines: Berlin gibt alles auf, was vor diesem Wechsel Bestand hatte. In den Beziehungen zu Russland stehen jetzt selbst die bescheidenen Errungenschaften der Vergangenheit in der Kritik und Moskaus Forderungen, nach einem europäischen System der unteilbaren Sicherheit, werden als wunderliche Ideen abgetan. Die Kultur der Isolation und der Ausgrenzung setzt sich gegen die Kultur der Diplomatie durch. Berlins Zurückhaltung, Politik in einen historischen Kontext zu stellen, zeigt das Fehlen einer selbstbestimmten Zielsetzung und einer kohärenten Strategie.
Vor der Bundestagswahl versprach Kanzlerkandidat Scholz eine erneuerte Außenpolitik im Sinne seines Vorgängers und Parteikollegen Willy Brandt. Zuvor hatte Deutschlands Ostpolitik, so komplex und umstritten sie auch gewesen sein mag, bestätigt, dass eine Bundesregierung eine heikle Balance zwischen Werten und Interessen finden kann: Die Bündnissolidarität mit der EU und der NATO wahren, aber Raum lassen für den Dialog mit "Gegnern des kollektiven Westens", um über politische und moralische Fragen zu diskutieren, während man für beide Seiten vorteilhafte kommerzielle Projekte entwickelt.
Der Ansatz von Scholz ist das Gegenteil von dem, woran Willy Brandt und seine Nachfolger gearbeitet haben. Berlin hat die einst dynamische und facettenreiche Ostpolitik endgültig auf die Unterstützung Kiews eingeengt. Eine Vereinfachung in den internationalen Beziehungen reduziert jedoch selten Widersprüche. Diese Art der "Primitivierung" verleiht der deutschen Regierung keine Glaubwürdigkeit, weckt aber Zweifel an ihrer Kompetenz.
Auch die von Berlin tatkräftig unterstützte Verleihung des Status eines EU-Beitrittskandidaten an die Ukraine könnte sich als peinlich erweisen. Dabei geht es nicht nur um die fünf anderen offiziellen Beitrittskandidaten auf der Warteliste zur EU und mehrere potenzielle Anwärter, die seit Jahren auf eine solche Entscheidung warten und die versucht haben, die strengen Anforderungen der EU zu erfüllen. In der deutschen Außenpolitik treten Effekthascherei und Symbolik allmählich an die Stelle von Ordnung und Konsequenz. Auf einer eher praktischen Ebene erkennt schließlich jeder, dass eine echte Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union unmöglich ist und es unklar bleibt, ob sie überhaupt jemals greifbar werden wird.
Der einzigartige Weg, den die Völker Deutschlands und Russlands nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam gegangen sind, verlangte einerseits Buße und andererseits Vergebung. Nun opfert Deutschland der "alliierten Solidarität" die Früchte dieser mühsamen gemeinsamen Arbeit. Tatsächlich wäre Berlin wahrscheinlich sogar bereit, weiteren Ländern den Rücken zu kehren, wenn seine Verbündeten dies verlangen würden. China – seit sechs Jahren Deutschlands wichtigster Handelspartner – würde wohl umgehend zum unversöhnlichen Feind erklärt werden, wenn die Pattsituation zwischen den USA und China eskalieren sollte.
Teilweise ist der jetzige Kurs der Bundesregierung die genaue Kehrseite des bisherigen Kurses der deutschen Politik. Berlin hatte die Bedeutung der Bundeswehr nach der Wiedervereinigung aufgrund der Unumkehrbarkeit des sogenannten "Endes der Geschichte" systematisch reduziert und war somit völlig unvorbereitet auf die dramatisch veränderten politisch-militärischen Realitäten von heute. Darüber hinaus erwarteten nur sehr wenige, dass Russland nach jahrelangen Warnungen, die jeweils ignoriert wurden, nicht zu entschlossenen Maßnahmen übergehen würde. Die jahrzehntelange Ablehnung der Realpolitik zugunsten eines wertebasierten Ansatzes und die Bereitschaft, die verbleibenden Fragen der strategischen Sicherheit unter die Kontrolle der USA und der NATO zu stellen, prägte die Reaktion Berlins auf aktuellen Ereignisse in der Ukraine und im Moment ist diese Reaktion weniger als Aggression und mehr als Verwirrung zu interpretieren.
Die Solidarität mit den Verbündeten und die Verzerrung der Geschichte sind ein sicherer Hafen für eine Regierung, die ursprünglich geplant hatte, sich 2022 einer umweltbewussten und tugendhaften Außenpolitik zu widmen und jetzt stattdessen die Armee erneuert und Waffen in eine Konfliktregion liefert. Die deutsche Führung glaubt, man könne es sich einfach nicht leisten, nicht auf der "richtigen Seite der Geschichte" zu stehen, wie Scholz es im Februar umschrieb. Denn sonst würde die gesamte politische und ideologische Basis des Kabinetts zerbröckeln und Zweifel an seiner Angemessenheit aufwerfen.
"Die deutsche Außenpolitik steht seit 1949 auf einem Bein. Wir stehen vor einer weiteren Herausforderung: keine Politik im Zickzack-Kurs betreiben, sondern auch auf einem zweiten Bein stehen", skizzierte Brandt einmal seine Ostpolitik. Mit einem Schuss in das "zweite Bein" steht Berlin wieder fest auf dem ersten. Die Frage ist, ob man mit nur einem Bein weit kommen kann.
Übersetzung aus dem Englischen.
Alexander Davydov war Co-Vorsitzender des Clubs für deutsche Studien Club der Studentische Akademische Gesellschaft an der Universität für Diplomatie MGIMO.
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