Den ersten Teil findet man hier
von Anton Gentzen
Es ist Sonnabend, halb zehn Mitteleuropäischer oder halb elf Osteuropäischer Zeit. 1.085 Kilometer sind es noch bis zum gebuchten Hotel in Moskau, knapp 920 Kilometer habe ich bereits hinter mir. Von den 20 Stunden, die seit der Abfahrt in Leipzig vergangen sind, entfallen fast 2 Stunden auf freitäglichen Stau in Deutschland. Für den letzten Kilometer vom polnischen Terespol bis zur Grenzbrücke über den Bug sind inzwischen fast sechs Stunden draufgegangen. Wir stehen in knallender Sonne im Niemandsland und warten auf Einlass in Weißrussland, womit der erste Teil endete.
Sonnabendmorgen: Weißrussische Grenzkontrollen
Endlich werden wir von bewaffneten weißrussischen Grenzern hineingewinkt. Bei der Abfahrt von der Brücke blicke ich in eine Fernsehkamera: Kollegen eines weißrussischen Senders drehen eine Reportage. Über die Auswirkungen der Sanktionen und der Transportblockade, über das Chaos an der Grenze? Das wäre stark!
Unmittelbar dahinter die erste Station der weißrussischen Kontrollen: Reisepass vorzeigen, aussteigen, Türen und Kofferraum öffnen. Während das Auto von den Grenzern kontrolliert wird, geht es mit Fahrzeugschein und grüner Versicherungskarte zum Postenhäuschen, wo eine Dame beides überprüft und im Computer irgendetwas tippt. Der Familienvater aus Berlin hat keine grüne Karte mit, muss seinen silbernen Audi am Straßenrand abstellen und zum praktischerweise in der Nähe liegenden Büro des nationalen Kfz-Versicherers, um eine Haftpflicht abzuschließen. Seine Söhne machen derweil den Grenzübergang unsicher. Kennen Kinder gar keine Müdigkeit?
Beim Weg zurück zum PKW entwische ich nur knapp der weißrussischen TV-Journalistin und ihrem Mikro. Kein Interview, bitte! Sie schnappt sich den nächsten, ebenfalls deutsches Kennzeichen, fragt nach seinem Reiseziel und Reisegrund. Im Weggehen höre ich nichts Überraschendes: Gibt keine andere Möglichkeit mehr, außer mit dem Auto nach Russland zu fahren. Der Kameramann filmt geduldig, ich präge mir das Symbol des Senders ein: "C" - möchte ja später sehen, wie die Reportage geworden ist.
Der junge Grenzer entlässt mich aus der Sichtkontrolle. Nächste Station ist der Zoll, und hier heißt es "wieder warten". Der Grenzübergang ist dem Ansturm schlichtweg nicht gewachsen, ist nicht für die Urlauberlawine aus Deutschland ausgelegt. Es laufen Bauarbeiten, die Anlage wird erweitert, rechts entstehen zusätzliche Kontrollspuren. Vorerst heißt es aber wieder: Warten in brütender Sonne. Überdacht ist nur der Kontrollbereich des Zolls selbst - dort sind aber alle Spuren bereits besetzt. Es dauert eine gute Stunde, bis ich unter das schützende Dach herangewinkt werde.
Mich prüft der Zoll besonders gründlich. Vielleicht liegt es daran, dass ich unrasiert in das Raster eines Terroristen passe, vielleicht wollte der Beamte auch nur eine Raucherpause - jedenfalls muss mein Auto zum Röntgen. Eine Runde um das Gelände, steile Auffahrt zur schmalen Bühne nehmen, aussteigen, in Deckung gehen. Tatsächlich raucht der Beamte dort, während das Auto durchleuchtet wird, erklärt mir dabei Regeln der Ein- und Ausfuhr.
Wieder zurück an der Röntgenbühne, kommen aus dem Funkgerät Fragen, die ich beantworte: Das hier ist Motoröl, das da Wasser für die Scheibenwischer. Die Antworten stellen die Beamten zufrieden, ich darf zurück zur Kontrollanlage. Lehre für das nächste Mal: Zollerklärung für das Fahrzeug lieber online vor Abfahrt ausfüllen, spart eine gute halbe Stunde vor Ort.
Sonnabend, 12 Uhr MESZ / 13 Uhr OEZ: Brest
Nach über acht Stunden an der Grenze verbrachter Lebenszeit endlich grünes Licht: Ich darf zur letzten Station der Grenzkontrolle. Eine einzige junge Grenzbeamtin macht die Endkontrolle. In der letzten Schlange für heute stelle ich die Uhr eine Stunde vor, aus 12:00 Uhr wird 13:00 Uhr. Kurze Zeit später geht der Schlagbaum auf, vor mir liegen Brest und die scheinbar endlose Freiheit. Ein gutes Gefühl, zu wissen, dass es von hier aus ostwärts die nächste Grenzkontrolle erst in 10.000 Kilometern gibt.
Nach 22 Stunden am Steuer werde ich jedoch nicht nur diese zehntausend Kilometer ohne sofortigen Schlaf nicht mehr schaffen, sondern ebenso wenig die etwa 350 Kilometer bis Minsk. Der Plan muss also nochmals geändert und ein Zwischenstopp in Brest eingeschoben werden. Also geht es auf die Suche nach einem Hotel, was kein leichtes Unterfangen ist. Die beiden als Erstes angesteuerten Hotels sind ausgebucht. Auch das ist eine Folge europäischer Sanktionen: Weißrussland wird überströmt von Touristen aus Russland, die kein Visum für die EU mehr erhalten.
Im dritten Hotel ist noch die Suite frei. Grundsätzlich sind Suites nicht meine Preisklasse, diesmal aber bin ich entschlossen, jeden Preis zu zahlen, um endlich ins Bett zu fallen. Ich frage, was mich der Luxus kosten wird - "150 Rubel". Ich versuche umzurechnen, teile den Betrag der Einfachheit halber durch 2,5. "60 Euro?!" Ich merke nicht einmal, dass ich das laut ausrufe. "Ja, 60 Euro, etwas weniger sogar", bestätigt die Rezeptionistin. Jetzt gibt es nur noch ein kleines Problem: Die Suite muss erst noch vorbereitet werden. Ich nutze die Zeit, um zur nächsten Sparkasse zu gehen, die auch noch am zentralen Lenin-Platz liegt, um Euro in weißrussische Rubel zu wechseln.
Brest, wie auch ganz Weißrussland, glänzt durch Sauerbarkeit und Pflege, selbst der Rasen ist so kurz wie auf gut geführten englischen Anwesen. Das Land, und ich meine dies durchaus als Kompliment, erinnert mich an eine Idealvorstellung von der Sowjetunion: So hätte sie sein können, wenn die zahlreichen kleinen Unzulänglichkeiten des sowjetischen Alltags überwunden worden wären: Sozialismus mit 50 Wurstsorten. Das mit den Öffnungszeiten wird aber auch ein Westdeutscher noch kennen: Sonnabends ab 14 Uhr und sonntags haben Geschäfte und Banken zu. Ich schaffe es buchstäblich in letzter Minute in die Wechselstube.
Der Lenin-Platz ist auch das Einzige, was ich an diesem Tag von Brest zu sehen bekomme: Ein für den Abend geplanter Spaziergang durch die Stadt wurde banal verschlafen.
Sonntag, 5:30 Uhr OEZ: Büro der weißrussischen Autobahngesellschaft
Am nächsten Morgen heißt es früh aufbrechen. Ziel ist es, vor 10 Uhr örtlicher Zeit in Minsk zu sein. Bevor man losfahren kann, gilt es, die Mautfrage zu klären: Die Fernstraßen in Weißrussland sind für Ausländer kostenpflichtig. In Reiseberichten wird gewarnt vor schlecht an der Windschutzscheibe anliegenden elektronischen Mautgeräten und Strafen, die dadurch entstehen und leicht in die Tausende (Euro) gehen können.
Das Büro der Autobahngesellschaft liegt direkt am Grenzübergang, und es hat sich jetzt schon eine kleine Schlange Wartender gebildet, die soeben eingereist sind. Es sind wieder ausschließlich deutsche Kennzeichen zu sehen. Ich komme über ein und dieselbe Frage mit den Landsleuten ins Gespräch: Wie viel Zeit sie wohl an der Grenze verbracht haben? Schnell stellt sich heraus, dass ich mit knapp 8 Stunden für den Grenzübertritt auch noch Glück hatte: Meine Gesprächspartner haben über 14 Stunden in den Grenzkontrollen und den davor und dazwischen sich aufstauenden Warteschlangen verbracht. So falsch war der Rat, kurz vor 4 Uhr morgens in Terespol einzutreffen, also doch nicht.
Die Sache mit der Maut stellt sich zu meiner Überraschung als viel einfacher heraus als in den Reiseberichten angedroht: Statt eines Funkgerätes kann man auch schlicht eine "elektronische Vignette" erwerben. Die für 15 Tage kostet 38,61 weißrussische Rubel (ca. 14 Euro) und ist sicherlich teurer als das, was man bei kilometergenauer Abrechnung mit Funkmodul zu zahlen hätte. Man erspart sich aber auch das bereits erwähnte Risiko.
Es ist kurz nach sechs Uhr Ortszeit, als ich Brest über die Hauptausfallstraße verlasse. Auf dem Weg werfe ich noch einen kurzen Blick über den Zaun in das Eisenbahnmuseum. Es scheint wirklich eines der besten in Europa zu sein.
Sonntagvormittag: M1 Brest – Minsk
Die Fernstraßen in Weißrussland sind schlechter als ihr (besonders in Russland hochtrabender) Ruf. Für die ersten 30 Kilometer der M1 kann von einer Autobahn gar keine Rede sein: Eine vierspurig ausgebaute Fernstraße mit Ampeln, ungeregelten Kreuzungen und zahlreichen Fußgängerüberwegen. Später sieht es mehr nach Autobahn aus, aber auch da tauchen immer wieder niveaugleiche Fußgängerübergänge auf. Die dort geltende Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h muss unbedingt beachtet werden: Fast überall stehen Blitzer.
Exotisch: Die örtliche Bevölkerung nutzt die Standstreifen als Fuß- und Radweg. An einer Verengung durch Bauarbeiten kam mir gar ein Radfahrer auf meiner Fahrspur entgegen. Also aufpassen!
Ein besonderes Thema ist der Straßenbelag. Er kann gerade so mit "zufriedenstellend" benotet werden. Die erlaubten 120 km/h können zwar in der linken Fahrspur in der Regel gefahren werden, in der rechten hat man aber mit Spurrinnen zu kämpfen. Immer wieder tauchen (kleinere) Schlaglöcher auf, besonders aufpassen muss man an Brückenauffahrten, will man sich nicht die Reifen oder die Aufhängung an den Metallkanten kaputtfahren. Warum Russen, die in ihrem Land inzwischen auf weiten Strecken einen idealen Straßenbelag vorfinden, der selbst Europäer vor Neid erblassen lässt, dennoch die weißrussischen Straßenverhältnisse so überschwänglich in den Himmel loben, blieb mir bei dieser Reise verschlossen.
Eine besondere Freude für den sanktionsgeschädigten Europäer ist natürlich das Tanken in Weißrussland und Russland. Für Benzin mit der Oktanzahl 95, was unserem Super entspricht, zahlt man in beiden Ländern umgerechnet etwa 90 Cent pro Liter.
Sonntag, 9:40 Uhr OEZ: Minsk
Minsk wird rechtzeitig erreicht, und hätte ich mich nicht später in der Stadt verfahren, wäre ich auch an meinem persönlichen Zwischenziel pünktlich angekommen. Die weißrussische Hauptstadt empfängt den Reisenden mit breiten, drei- und vierspurigen Magistralen, die um diese Zeit leer sind. Modern und sauber ist Minsk.
Mein Zwischenziel ist das "Haus der Barmherzigkeit", das Lebenswerk des orthodoxen Priesters Theodor Pownyj, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren Geistlicher der russisch-orthodoxen Gedächtniskirche in Leipzig war. Als Student habe ich das Projekt dieses kombinierten Krankenhauses und Altersheims mit Hauskirche in Entwürfen und Modellen gesehen, habe bei einer Reise nach Süddeutschland für den geistlichen Visionär vor Sponsoren und Mäzenen gedolmetscht. Es ist das erste Mal, dass ich die Vision von damals in der realen Welt erblicke.
Die Hauskirche ist – für orthodoxe Kirchen untypisch – großzügig verglast, transparent und luftig. Doch es ist nicht Pownyj, der hier die Sonntagsliturgie zelebriert. Jetzt erinnere ich mich: Es gab ja noch eine zweite Vision dieses Geistlichen.
Und in der Tat, einen Kilometer weiter am nördlichen Stadtrand von Minsk steht nun auch eine Gedächtniskirche, etwa eineinhalb Mal so groß wie die Leipziger. Der Sockel ist zwischen Projekt und Realisierung nochmals gewachsen, was die Proportionen etwas verzerrt. Dafür ist die Minsker Allerheiligen-Gedächtniskirche im Inneren ein Schmuckstück von Weltrang: Fayence in Pastelltönen, Marmor und unzählige Mosaiken. Zum Komplex gehört ein interessantes Museum, das dem Andenken aller weißrussischen Soldaten, die jemals gefallen sind, gewidmet ist, sowie eine Krypta, in welcher Erde – gesammelt von allen Grabstätten russischer, weißrussischer und sowjetischer Soldaten – aufbewahrt wird.
Besonders einprägsam und erschütternd ist ein gläserner Kübel, in dem Asche und Knochen der 1941-1944 im Krematorium des KZ Maly Trostinez bei Minsk verbrannten Opfer des Faschismus aufbewahrt werden. Man steht fassungslos davor, sobald man erfahren hat, was es mit diesem Glaswürfel und dessen Inhalt auf sich hat.
Montagmorgen bis -mittag: Minsk – Moskau
Wer keinen verpflichtenden Zwischenstopp in Minsk einzulegen hat, kann die Strecke von Brest nach Moskau sicherlich an einem Tag zurücklegen. Ich musste die Gastfreundschaft annehmen, die mir angeboten wurde, und brach am Montag um 4:30 Uhr von Minsk auf. Noch waren es 720 Kilometer, die ich bis zum gebuchten Hotel zurückzulegen hatte.
Ich erwartete für die letzte Etappe bis zu den Stadttoren Moskaus nichts Spektakuläres – und es kam auch nichts Spektakuläres. Die weißrussische Autobahn hört bei Orscha auf, von dort bis etwa 50 Kilometer vor Moskau ist die Trasse eine gut ausgebaute Fernstraße und nimmt auch nichts anderes für sich in Anspruch. Die Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h kann überall gut gefahren werden. Bußgelder werden in Russland nur fällig, wenn man 20 km/h oder mehr zu schnell war. Der Straßenbelag wird ab der weißrussisch-russischen Grenze einwandfrei, für eine Rast bietet sich das Café "Smolensk" etwa 60 Kilometer hinter der Grenze an.
Und so – mit russischen und sowjetischen Oldies aus dem Radio im Ohr – war dann an diesem Montag um 13:33 Uhr Moskauer Zeit (die momentan mit der Osteuropäischen Zeit identisch ist) ohne Zwischenfälle der erste Moskauer Stau erreicht. Dass die letzten 30 Kilometer bis zum Hotel dann nochmal 90 Minuten in Anspruch genommen haben, ist Gegenstand einer ganz anderen Erzählung.
Fazit
Für den, der am Steuer nicht verkrampft und auch mehrstündige Autofahrten nicht als schwere Arbeit empfindet, bietet sich eine Autoreise nach Moskau in Zeiten von Sanktionen und Transportblockaden durchaus als Alternative zum teuren und langen Flug an. Die reine Fahrzeit ohne Staus, Grenzkontrollen und Pausen beträgt etwas mehr als 20 Stunden, was einen guten Schnitt von 100 km/h ergeben würde. Natürlich müssen Pausen und mindestens eine Übernachtung eingeplant werden. Das größte Ärgernis sind die Grenzkontrollen. Es lohnt daher, sich auf der Webseite der polnischen Grenzbehörden tagesaktuell über die Wartezeiten zu informieren.
Verbraucht habe ich 3 Tankfüllungen von 50 Litern. Kurz vor Moskau musste zum vierten Mal getankt werden. Eine Tankfüllung reicht von Berlin bis Warschau, aber nicht bis zur polnisch-weißrussischen Grenze. Inklusive der Maut, aber ohne die Übernachtung, kostet eine solche Fahrt etwas mehr als 200 Euro.
Ich habe den Roadtrip meines Lebens ganz allein am Steuer bewältigt. Natürlich ist es besser, wenn man mit Freunden oder Verwandten unterwegs ist und sich am Steuer abwechseln kann. Wie auch immer: Ich wünsche potentiellen Nachahmern allzeit gute Fahrt!
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