von Dagmar Henn
Ob man nun Sigmund Freud folgen will oder nicht, unbestritten ist die Sexualität eine der großen Triebkräfte der menschlichen Kultur, und wäre sie leicht zu beherrschen, die Hälfte der Weltliteratur wäre nie geschrieben worden. Nun hat sich in den Gesellschaften des Westens der Umgang damit in den letzten fünfzig Jahren gewaltig geändert. Aber was als Befreiung verkauft wird, muss nicht unbedingt eine sein; die Richtung, die sich in den letzten Jahren abzeichnet, ist vielmehr das genaue Gegenteil davon.
Im Grunde genügt als Beleg dafür schon das schwedische Beispiel, wo inzwischen detaillierte Verträge zur Durchführung intimer Kontakte gefordert werden, in denen beide Parteien abzeichnen, was sie wollen und was sie ablehnen. Übrig bleibt ein technisch geregelter Austausch von Körperflüssigkeiten, dessen ideales Gegenüber eigentlich ein Sex-Bot wäre, nicht ein anderes menschliches Wesen.
Aber auch die ins Endlose erweiterte LGBTQXYZ-Liste (ups, den letzten Buchstaben darf man ja gar nicht …) wirkt in dieselbe Richtung. Und das ist nicht nur für die Sexualität selbst, sondern auch für die umgebende Gesellschaft eine Entwicklung von höchst zerstörerischer Potenz.
Als vor fünfzig Jahren in der BRD, im Gefolge der "Pille" und der "68er", die Verbote der Pornografie fielen und die Sexshops wie Pilze aus dem Boden sprießten, war das erst einmal eine Öffnung. Für eine Generation, die unter Adenauer aufgewachsen war, ein Sieg über Prüderie und Heuchelei, durch den das, worüber nie gesprochen werden durfte, endlich zum Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung wurde. "Das Sexuelle ist politisch", lautete die Parole der Zeit.
Völlig unbemerkt von der Westgesellschaft hatte sich derzeit in der DDR eine Lockerung vollzogen, die ganz ohne das Gewerbe der Pornografie und lautes Geschrei auskam, aber selbst den – von den Nazis verschärften – Paragrafen 175 des Strafgesetzbuchs einfach beseitigte, während im Westen noch bis in die 1980er Jahre die Polizei Schwulenlisten führte. Aber das war eine andere Form von Lockerung auf einer ganz anderen Grundlage; eine, die sich natürlich daraus ergab, dass die Frauen mehrheitlich ökonomisch unabhängig geworden waren und selbst mit Kindern keine Trennung mehr fürchten mussten.
Die Änderung des westdeutschen Familienrechts 1977, eine der letzten Manifestationen der kurzen demokratischen Periode der BRD, sollte ein Schritt in diese Richtung sein. Sie führte zwar dazu, dass die Feststellung einer Schuld aus den Scheidungsverfahren gelöscht wurde, sorgte aber durch Schritte wie den Versorgungsausgleich dazu, dass eine Scheidung ein teures und bürokratisches Verfahren blieb (wenn man wissen will, wie das anders geht, betrachte man alte sowjetische Filme: das Paar ging aufs Amt und erklärte, es sei jetzt geschieden).
Hätte sich seitdem entscheidend etwas am Verhältnis zwischen Männer- und Fraueneinkommen geändert, wäre dem anders, weil sich dann die ganze Prozedur des Versorgungsausgleichs irgendwann erübrigt hätte. Aber dem ist eben nicht so in der BRD. Ganz zu schweigen davon, dass die konsequente Lohnsenkungspolitik der letzten Jahrzehnte auch dafür gesorgt hat, dass die vorhandenen gesetzlichen Unterhaltspflichten nur von den sehr Wohlhabenden erfüllt werden können und alle anderen schlicht ruinieren.
Das klingt jetzt so, als hätte das mit Sexualität nichts zu tun. Hat es aber doch. Ein kurzes Gespräch mit älteren DDR-Bürgern klärt schnell darüber auf, dass die Gesellschaft dort wesentlich freier war. Sie war es auch, weil materielle Überlegungen bei der Wahl des Partners keine Rolle spielten. In der heutigen BRD ist es unvorstellbar, dass die Chefärztin eine Ehe mit dem Maurer eingeht; bei der Entscheidung für dauerhafte Beziehungen überlagert der Klassenerhalt die persönliche Neigung. Das ist ein ganzes gigantisches Stück Freiheit, das fehlt.
Genauso, wie die Freiheit, Kinder haben zu wollen, stetig weiter beschränkt wurde. Die biologische Reproduktion ist immerhin das Armutsrisiko Nummer eins für die Altersgruppe zwischen Zwanzig und Fünfundvierzig, und dabei noch immer vor allem für die Frauen – fast die Hälfte der Alleinerziehenden ist dauerhaft arm, und obwohl diese Tatsache seit Jahrzehnten bekannt ist, ist das einzige, was dagegen "unternommen" wurde, die Aufforderung an diese Mütter, doch bitteschön "Vollzeit" zu arbeiten – ohne dass eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht (wie etwa auch alljährlich Ferienlager für die Kinder), die dabei eine permanente Überlastung verhindern könnte.
Hat das mit Sexualität zu tun? Durchaus, weil es Teil der materiellen Grundlage ist, auf der Entscheidungen auf diesem Feld getroffen werden. Und weil es Teil der Spannbreite ist, in welcher menschliche Kulturen mit Sexualität umgehen. Selbst in der europäischen Geschichte ist diese Spanne sehr weit – sie reicht von ritueller Sexualität, bei der ein heiliger Akt die Fruchtbarkeit der Äcker sichern soll (ein Brauch, der auf den britischen Inseln bis in die Neuzeit existierte) bis zur Vorstellung der Katharer, nach der die Sexualität völlig zu verwerfen sei, weil jeder neu geborene Mensch eine weitere Seele sei, die auf einer vom Teufel beherrschten Welt gefangen wäre.
Zwei Dinge sind dabei festzuhalten. Zum einen kennt jede Kultur, wirklich jede, eine Schamgrenze, selbst wenn sie aus einer um die Hüfte gewundenen Schnur besteht, und kennt Regeln, Gebote, Verbote dafür, wann und wie diese Schamgrenze überschritten würde. Wobei die absichtliche Überschreitung der Regeln immer Teil des Spiels ist. Und das zweite ist, dass es keine höher entwickelte Kultur gibt, in der die Sexualität völlig frei ist. Das hat zum Teil mit dem Problem von Besitz und Vererbung zu tun, das ziemlich schnell zum Entstehen eines Bedürfnisses nach geklärter Abstammung führt, zum anderen aber mit dem, was Freud Sublimation nannte – das Umlenken frustrierter sexueller Bedürfnisse in die Kultur. Freud, der zu Beginn seiner Arbeit das Tabu von der Sexualität nehmen wollte, wurde diesbezüglich in seinen späteren Jahren pessimistischer, weil er die Fortexistenz von Kultur für wichtiger hielt.
In der "woken" Gesellschaft wird man bereits dafür gesteinigt, wenn man äußert, dass Sexualität und Fortpflanzung etwas miteinander zu tun haben. Als wäre der ganze Reiz-Hormon-Apparat nicht der Köder, der evolutionär installiert wurde, um die Mühsal der Brutpflege sicherzustellen, großzügige Ausschüttungen des Empathie-Hormons Oxytocin mit eingeschlossen.
Auffällig an der woken Sicht auf Sexualität, die sich in den westlichen Gesellschaften durchzusetzen versucht (oder deren Durchsetzung versucht wird), ist, dass sie nicht nur die materielle Realität der Biologie abstreitet, sondern außerdem den einen Schritt rückgängig macht, den die bürgerliche Gesellschaft als Fortschritt vollbracht hat – die individuelle Liebe, also die Kombination aus Sexualität und Zuneigung, von einer gesellschaftlichen Randerscheinung zu einem tatsächlich für viele lebbaren Modell zu machen, auch wenn die Frage von Klasse und Besitz nach wie vor beträchtlich hineinpfuscht. In diesem Fall geschieht das nicht, indem der sexuelle Akt direkt untersagt wird, sondern indem er maximal verregelt wird, und gleichzeitig, indem dauerhafte Beziehungen zur Ausnahme werden.
Sich zu verlieben ist selten geworden. Tinder ist das Gegenmodell; je präziser der vorab gesetzte Filter wird, desto weniger Unbekanntes bleibt zu erkunden, desto weniger Ungewissheit, desto weniger Aufregung ... Je stärker die Vorstellungen von Sexualität zuvor von der jederzeit und überall verfügbaren Pornografie geprägt sind, desto dominanter werden Aspekte von Optik und von Leistung, und jene von Geruch, Berührung oder gar Zuneigung und Vertrauen treten in den Hintergrund.
Sexualität ist aber in komplexen Kulturen vor allem eines: der verbliebene Bereich des Spiels. So, wie die Beziehung das Umfeld sein sollte, in dem die in der, für die Gesellschaft zu spielenden Rollen auch einmal abfallen können. Wo der Starke schwach und der Schwache stark sein kann.
Kultur erlegt den Menschen Rollen auf. Die des Buchhalters oder der Erzieherin oder eben auch die eines sozialen Geschlechts, welches in unterschiedlichen Kulturen völlig anders definiert sein kann. Bei den Yoruba in Westafrika gelten beispielsweise die Frauen als aggressiv und dominant, und die Männer sind für die Harmonie in der Familie zuständig. Die woke Vorstellung, dass eine Rolle etwas völlig Beliebiges sei, geht aber an der Realität vorbei. Denn die Gesellschaft um uns herum besitzt durchaus materielle Gewalt über unsere Existenz; das reicht von den Gesetzen bis zur Sozialversicherung, und der blanke Wille des Einzelnen ändert nichts an diesen Tatsachen.
Zu der psychischen Gewalt, die die Rollenfestlegung durchaus darstellt, gibt es in den allermeisten Gesellschaften Ausgleichsmechanismen. Man denke an die römischen Saturnalien, die das rigide und oft sehr gewaltsame Verhältnis zwischen Herren und Sklaven vorübergehend umkehrten. Auch orgiastische Kulte gehören zu diesen Ausgleichsmechanismen, seien es die Bacchanalien oder die Zeremonien des Voodoo. Ein Regelsystem, das keine Auswege kennt, keine Hintertüren, kein Feld des Spiels, ist für die menschliche Psyche auf Dauer unerträglich.
Noch vor fünfzig Jahren waren in der gewöhnlichen kapitalistischen Gesellschaft des Westens mehrere Bereiche vorhanden, die psychisch stabilisierend wirkten. Tausende von Vereinen, die auch Gruppenerfahrungen ohne Konkurrenz ermöglichten, beispielsweise. Und ein Sexualleben, vor dem zwar als Schwelle die durchaus nicht einfache Aufnahme einer Beziehung stand, das aber danach noch relativ frei von Konkurrenz war und im Rahmen längerer vertrauensbildender Maßnahmen tatsächlich die Ebene des Spiels eröffnete.
Die Basis befriedigender Sexualität, das wird jeder Sexualtherapeut sagen, ist die Fähigkeit, Kontrolle aufzugeben. Die Aufgabe von Kontrolle ist nur möglich, wenn die Sexualität von der Alltagsgesellschaft durch eine Art Schleier getrennt ist; das ist die Funktion der überall gegenwärtigen Schamgrenze. Eine ins Detail verregelte Sexualität – und das ist das Ergebnis der Tendenz, eines von hundertsechsundfünfzig Geschlechtern wählen zu müssen oder schriftliche Verträge abzuschließen – ist aber das Gegenteil einer Aufgabe von Kontrolle. Im Grunde geschieht hier mit der Sexualität das Gleiche, was schon mit dem Sport geschehen ist, wo das Gruppenleben im Verein weitgehend durch die vermarktete Dienstleistungslandschaft der Fitnessstudios ersetzt wurde.
Die wirkliche Welt besteht, was die Geschlechter- wie die sexuellen Rollen angeht, aus Grauzonen. Nominal eingehaltene Rollen können sich in der Realität umkehren; in Europa gibt es ebenso dominante Frauen, wie es bei den Yoruba dominante Männer gibt (und alle denkbaren Stufen dazwischen). Die Bestrebung, das Kontinuum, das sich im Widerspruch zwischen der Rolle und der Wirklichkeit bildet, in kleine "appetitliche" Häppchen aufzuteilen, die alle mit eigenen Bezeichnungen versehen und möglichst voneinander getrennt werden, ist ein Nebenprodukt einer wissenschaftlichen Perversion.
Sie entstammt der Soziologie, aber jener Form der Soziologie, die in Wirklichkeit Marktforschung heißt. Die Gesellschaft entlang der Linien aufzuteilen, wie sich Menschen subjektiv sehen, ist ein Produkt der Werbewirtschaft, die möglichst genau wissen will, wie sie wem was verkaufen kann. Weil es ums Verkaufen geht, ist exakt der Bereich von dieser subjektiven Definition ausgenommen, bei dem es um den realen materiellen Akt geht, auf den diese Technik abzielt. Transfinanziell ist niemand. Aber ansonsten – je genauer die Zielgruppen benannt werden, desto zielgenauer die Werbung.
Diese Aufteilung in genaue Zielgruppen ist also ein Schritt zur Kommerzialisierung, und Gleiches gilt für den technischen Apparat wie Tinder & Co., die nebenbei durch die Corona-Maßnahmen für eine ganze Generation zum Standard des Kennenlernens geworden sind. Je jünger die Teilnehmer, desto unmittelbarer ist das Ziel des Tinder-Kontakts; und wenn man sich ausmalen will, wie das ganze Drama mit Herzklopfen und feuchten Händen und Liebesbriefen und Herzschmerz untergeht, muss man sich nur vorstellen, wie die Sexualkontakte einer permanent maskentragenden Gesellschaft ablaufen, in der Flirts als sexuelle Belästigung gelten, aber die Betätigung der Geschlechtsorgane nach Tinder-Verabredung sortiert nach 156 Geschlechtern als normal.
Man konnte das schon früher erleben, dass Dogmatiker der freien Liebe mindestens ebenso verklemmt und von Regeln eingekeilt waren wie strenggläubige Katholiken. Letztere konnten wenigstens nach der Eheschließung ein Maß an Freiheit erreichen und sich dann mit kirchlichem Segen auf das Spielfeld begeben. Das Regelwerk, das die woke Generation gerade aufzustellen bestrebt ist, welches das Spiel schon aus den ersten Kontakten verbannt, droht tatsächlich, gerade das Gegenteil dessen zu erreichen, was vor fünfzig Jahren angestrebt worden war. Die Anforderungen sind jetzt schon derart anstrengend, dass eine kommerzielle Lösung sich geradezu anbietet.
Da ist es ein Glück, dass die westliche Gesellschaft in die Knie gehen wird, ehe neben das Fitnessstudio das nach 156 Geschlechtern sortierte Sex-Abo tritt und der letzte Bereich, in dem eine vorübergehende Flucht aus den gesellschaftlichen Zwängen möglich war, auch noch vollends planiert wird. Denn die Schäden, die die fortschreitende Entmenschlichung, der Verlust nicht kommerzialisierter Freiräume angerichtet hat, sind manifest und lassen sich an den Raten psychischer Erkrankungen ablesen. Der Mensch ist Individuum nur in der Gruppe, und das Geheimnis der Gruppe ist, aus Gleichwertigen, aber nicht aus Gleichen zu bestehen. Eine Scheinindividualität, die noch dazu mit einer Sortierung nach identischen Merkmalen einhergeht, ist ein sicherer Weg in die Psychose. Und was wäre die Welt ohne rote Wangen, Liebesgedichte und Schmetterlinge im Bauch?
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